Ein infolge fehlender passiver Prozessführungsbefugnis gegen die falsche Beklagte ergangenes Urteil des Finanzgerichts beinhaltet einen im Revisionsverfahren von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangel und ist deshalb ohne Sachprüfung aufzuheben.

Die Revision ist aus verfahrensrechtlichen Gründen begründet, soweit die Mutter die Aufhebung der Vorentscheidung beantragt. Das Urteil des Finanzgericht ist mit § 63 FGO unvereinbar, weil die Familienkasse NRW Nord nicht passiv prozessführungsbefugt ist. Dieser Verfahrensmangel führt zur Aufhebung des Urteils.
Die Prozessführungsbefugnis der beklagten Behörde ist eine Sachurteilsvoraussetzung des finanzgerichtlichen Verfahrens, deren fehlerhafte Beurteilung durch das Finanzgericht einen Verfahrensmangel darstellt. Das Vorliegen der Sachurteilsvoraussetzungen hat der Bundesfinanzhof (BFH) als Revisionsgericht in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen1.
§ 63 FGO bestimmt, welche Behörde als Beklagte (§ 57 Nr. 2 FGO) am finanzgerichtlichen Verfahren zu beteiligen ist. Nach § 63 Abs. 1 FGO ist die Klage grundsätzlich gegen die Behörde zu richten, die den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen (§ 63 Abs. 1 Nr. 1 FGO) oder die den beantragten Verwaltungsakt oder die andere Leistung unterlassen oder abgelehnt hat (§ 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO). Die Bezugnahme auf den „ursprünglichen“ Verwaltungsakt in § 63 Abs. 1 FGO bedeutet, dass nur die Ausgangsbehörde und nicht die Rechtsmittelbehörde beteiligt sein soll2. Ausnahmen von diesem Grundsatz sieht das Gesetz für die Fälle vor, dass vor dem Ergehen der Einspruchsentscheidung eine andere Behörde örtlich zuständig geworden ist (§ 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO) oder dass auf Grund einer gesetzlichen Berechtigung statt der zuständigen Behörde eine andere Behörde die Ausgangsentscheidung getroffen hat (§ 63 Abs. 3 FGO).
Nach diesen Maßstäben ist die richtige Beklagte im Streitfall gemäß § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO allein die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse, da sie den ursprünglichen (Teil-)Ablehnungsbescheid vom 26.09.2017 erlassen hat und die Voraussetzungen des § 63 Abs. 2 und 3 FGO nicht vorliegen3. Die Familienkasse NRW Nord, die als Rechtsmittelbehörde die Einspruchsentscheidung vom 11.04.2019 erlassen hat, ist unter den Umständen des Streitfalls gemäß § 63 FGO trotz ihrer sachlichen Zuständigkeit nicht passiv prozessführungsbefugt.
Entgegen der Ansicht des Finanzgericht ist insbesondere § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO nicht entsprechend anzuwenden4. Der Streitfall unterscheidet sich von der in den Bundesfinanzhof, Beschlüssen vom 28.01.2002 und vom 27.08.20075 beschriebenen Fallkonstellation insofern, als vorliegend nicht eine örtliche Unzuständigkeit, sondern eine von Beginn an fehlende sachliche Zuständigkeit der Ausgangsbehörde gegeben war. Die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse war weder die ursprünglich zuständige Behörde noch trat eine Veränderung der örtlichen Zuständigkeit ein.
Die Klage war auch nicht deshalb gegen die Familienkasse NRW Nord zu richten, weil die von ihr erlassene Einspruchsentscheidung zu einer Heilung des Zuständigkeitsmangels geführt hat. Denn eine solche Heilung ist nicht erfolgt6.
Das Finanzgericht, das von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist, durfte gegen die als Beklagte angesehene Familienkasse NRW Nord nicht zur Sache entscheiden. Sein Urteil enthält insofern einen Verfahrensmangel und ist ohne Sachprüfung aufzuheben (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).
Im zweiten Rechtsgang wird das Finanzgericht zu berücksichtigen haben (§ 126 Abs. 5 FGO), dass die Familienkasse NRW Nord nicht passiv prozessführungsbefugt ist. Hiervon ausgehend weist der Bundesfinanzhof darauf hin, dass er mittlerweile in mehreren vergleichbaren Fällen bestätigt hat, dass gegen die Familienkasse NRW Nord als Rechtsmittelbehörde erhobene Klagen bei rechtsschutzgewährender Auslegung als gegen die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse gerichtet verstanden und auf diese Weise als zulässig angesehen werden können7. Nach dieser Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs sind Entscheidungen der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse über Anträge auf Billigkeitsmaßnahmen wegen deren fehlender sachlicher Zuständigkeit rechtswidrig; durch die ebenfalls rechtswidrige Einspruchsentscheidung der sachlich zuständigen Familienkasse NRW Nord kann keine Heilung eintreten. Nach Aufhebung des Bescheides vom 26.09.2017 und der Einspruchsentscheidung vom 11.04.2019 wird die Familienkasse NRW Nord deshalb noch einmal, und zwar erstmals durch einen Ausgangsbescheid, über den Erlassantrag der Mutter vom 29.03.2016 zu entscheiden haben.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 17. August 2023 – III R 11/22
- vgl. BFH, Urteile vom 03.04.2008 – IV R 54/04, BFHE 220, 495, BStBl II 2008, 742, unter II. 1.a; vom 02.12.2015 – I R 3/15, BFH/NV 2016, 939, Rz 9; und vom 13.12.2022 – VIII R 33/20, BFHE 278, 422, BStBl II 2023, 663, Rz 15[↩]
- vgl. z.B. BFH, Urteile vom 25.02.2021 – III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 14; vom 19.01.2023 – III R 2/22, BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, Rz 11; und vom 16.02.2023 – III R 4/22, BFH/NV 2023, 838, Rz 10[↩]
- vgl. dazu ausführlich die BFH, Urteile vom 25.02.2021 – III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 14 ff.; vom 19.01.2023 – III R 2/22, BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, Rz 11 ff.; und vom 16.02.2023 – III R 4/22, BFH/NV 2023, 838, Rz 10 ff.[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 25.02.2021 – III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 17; vom 19.01.2023 – III R 2/22, BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, Rz 12; und vom 16.02.2023 – III R 4/22, BFH/NV 2023, 838, Rz 11[↩]
- BFH, Beschlüsse vom 28.01.2002 – VII B 83/01, BFH/NV 2002, 934, unter II. 1.a; und vom 27.08.2007 – IV B 98/06, BFH/NV 2007, 2322, unter 2.[↩]
- vgl. die BFH, Urteile vom 19.01.2023 – III R 2/22, BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, Rz 17 ff.; und vom 16.02.2023 – III R 4/22, BFH/NV 2023, 838, Rz 16 ff.[↩]
- vgl. z.B. die BFH, Urteile vom 25.02.2021 – III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 11 ff.; vom 19.01.2023 – III R 2/22, BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, Rz 9 ff.; und vom 16.02.2023 – III R 4/22, BFH/NV 2023, 838, Rz 8 ff.[↩]
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