Unterlässt es der zunächst kindergeldberechtigte Elternteil, der Familienkasse rechtzeitig mitzuteilen, dass er das Kind nicht mehr in seinem Haushalt aufgenommen hat, ist die gegen ihn gerichtete Kindergeldrückforderung nicht zwingend bereits deshalb in vollem Umfang zu erlassen, weil das Kindergeld gemäß einer notariellen Unterhaltsvereinbarung an den dann vorrangig kindergeldberechtigten Elternteil weitergeleitet worden ist, wenn dessen Anspruch möglicherweise wegen fehlender Antragstellung bereits festsetzungsverjährt ist.

Die Entscheidung über den Erlass ist eine Ermessensentscheidung der Behörde1. Dem folgt die ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu § 227 AO2. Im finanzgerichtlichen Verfahren kann die behördliche Ermessensentscheidung nach § 102 FGO nur daraufhin überprüft werden, ob die Grenzen der Ermessensausübung eingehalten worden sind3.
Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen i.S. des § 227 AO, die hier allein in Betracht kommt, ist anzunehmen, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, aber nach dem Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist oder dessen Wertungen zuwiderläuft (sog. Gesetzesüberhang, vgl. BFH, Urteile in BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz 14, und in BFHE 262, 488, BStBl II 2019, 189, Rz 13, jeweils m.w.N.).
Im vorliegenden Fall ist erstinstanzlich das Finanzgericht Düsseldorf zwar zu Recht davon ausgegangen, dass die Erlassablehnung ermessensfehlerhaft war4. Es hat jedoch zu Unrecht einen Anspruch auf Billigkeitserlass bejaht. Es bestand im Streitfall keine Ermessensreduktion auf Null dahingehend, dass nur ein vollständiger Erlass das einzig mögliche Ergebnis der Ermessensausübung sein konnte. Daher ist die Vorentscheidung insoweit aufzuheben.
Zu Recht ist das Finanzgericht davon ausgegangen, dass die Ermessensentscheidung der Familienkasse fehlerhaft ist, da die Familienkasse sich nicht mit dem Umstand auseinandergesetzt hat, dass das Kindergeld an die Kindesmutter weitergeleitet wurde.
Wegen der Befugnis und Verpflichtung des Gerichts zur Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen lassen (§ 102 Satz 1 FGO), muss die Ermessensentscheidung der Verwaltung im Bescheid begründet werden (vgl. § 121 Abs. 1 AO). Dabei müssen die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen erkennbar sein. Die für die Familienkassen geltenden Verwaltungsanweisungen sehen im Falle der Erhebung des Weiterleitungseinwandes explizit die Möglichkeit einer Billigkeitsmaßnahme vor5. Die Familienkasse hat sich indes in der Begründung der Einspruchsentscheidung hinsichtlich der Frage des Vorliegens sachlicher Billigkeitsgründe nur mit einer hier nicht gegebenen Fallkonstellation (Anrechnung von später zurückgefordertem Kindergeld auf Sozialleistungen) sowie mit der Frage auseinandergesetzt, inwieweit eine zeitliche Verzögerung der Bearbeitung bei der Familienkasse von der Familienkasse und/oder -wegen der verspäteten Mitteilung des Wegzugs- vom Vater zu vertreten ist. Hierin liegt zumindest eine Ermessensunterschreitung.
Zu Recht ist das Finanzgericht weiter davon ausgegangen, dass die Familienkasse die unterlassenen Ermessenserwägungen auch nicht wirksam im finanzgerichtlichen Verfahren nachgeholt hat.
Zwar kann die Finanzbehörde gemäß § 102 Satz 2 FGO ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes bis zum Abschluss des finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen. § 102 Satz 2 FGO gestattet es der Finanzbehörde aber nur, bereits an- oder dargestellte Ermessenserwägungen zu vertiefen, zu verbreitern oder zu verdeutlichen. Die Behörde ist dagegen nicht befugt, Ermessenserwägungen im finanzgerichtlichen Verfahren erstmals anzustellen, die Ermessensgründe auszuwechseln oder vollständig nachzuholen. Eine Heilung der behördlichen Entscheidung bei fehlerhaftem Entschließungs- oder Auswahlermessen, Über- oder Unterschreitung des Ermessens sowie bei erheblichen Mängeln in der Sachverhaltsermittlung ist im Wege einer Ergänzung nach § 102 Satz 2 FGO nicht möglich6.
Zu Unrecht ist das Finanzgericht dagegen von einer Ermessensreduzierung auf Null ausgegangen.
Stellt das Gericht einen Ermessensfehler fest, ist es grundsätzlich auf die Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung beschränkt. Nur in den Fällen der sog. Ermessensreduzierung auf Null ist es befugt, seine Entscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde zu setzen7.
Im Streitfall hat das Finanzgericht eine Gesamtwürdigung der Umstände vorgenommen und die Ermessensreduzierung auf Null auf eigene Ermessenserwägungen8 sowie auf eine sich aus – V 36 DA-KG ergebende Selbstbindung der Verwaltung gestützt.
Insoweit trägt das in die Gesamtwürdigung eingestellte Argument der Selbstbindung der Verwaltung die Annahme der Ermessensreduzierung auf Null nicht.
Die Steuergerichte, die nach Art.20 Abs. 3 des Grundgesetzes nur an Gesetz und Recht gebunden sind, können die Finanzbehörden nicht zwingen, Vereinfachungsregelungen, die durch allgemeine Verwaltungsanweisungen angeordnet werden, auch auf einen Fall anzuwenden, der nach Auffassung der Verwaltung nicht von der Verwaltungsanweisung gedeckt ist. Vielmehr sind solche im Gesetz nicht selbst angeordneten Vereinfachungsregeln -wie das sog. Weiterleitungsverfahren- so auszulegen, wie sie die Verwaltung verstanden wissen will9.
Es ist zu berücksichtigen, dass die Verwaltungsanweisungen die Anerkennung des Weiterleitungseinwandes u.a. davon abhängig machen, dass dem nunmehr Berechtigten (im Streitfall der Kindesmutter) ein Kindergeldanspruch zusteht10, sofern nicht die Anwendung des § 66 Abs. 3 EStG im Raum steht11. Im Streitfall kommt jedoch in Betracht, dass der Kindergeldanspruch der Kindesmutter bereits durch unterbliebene oder verspätete Antragstellung verjährt und damit erloschen ist (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 47 AO). Dabei wäre auch zu beachten, dass für die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung beim Vater wegen § 169 Abs. 2 Satz 2 AO die verlängerte Verjährungsfrist gilt, während für die Kindergeldfestsetzung bei der Kindesmutter die normale vierjährige Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO eingreift. Entsprechend kann es aus diesem Grund an der vom Finanzgericht angenommenen Deckungsgleichheit des Nachforderungsanspruchs der Kindesmutter mit dem Rückforderungsanspruch gegenüber dem Vater fehlen.
Die Annahme des Finanzgericht, dass die Familienkasse durch eine Erstattung an den Vater wirtschaftlich nicht belastet sei, trifft zwar mit Blick auf den materiellen Kindergeldanspruch zu. Aufgrund der verfahrensrechtlichen Regelungen kommt jedoch in Betracht, dass die Familienkasse weder dem Vater (mangels Haushaltsaufnahme der Kinder) noch der Kindesmutter (mangels rechtzeitiger Antragstellung) Kindergeld zu zahlen hat. Das Argument der fehlenden wirtschaftlichen Belastung verliert dadurch an Gewicht.
Nicht gefolgt werden kann auch den weiteren Überlegungen des Finanzgericht, wonach die DA-KG hinsichtlich der von der Familienkasse zu treffenden Billigkeitsentscheidung nicht auf die Differenzierung zwischen der normalen und der verlängerten Verjährungsfrist, die Verletzung der Mitwirkungspflicht und das strafrechtlich vorwerfbare Verhalten abstelle. – V 36 DA-KG 2018 behandelt nur den Weiterleitungseinwand und damit einen speziellen Fall der Billigkeitsentscheidung, mit dem zur Verwaltungsvereinfachung eine Rückforderung vom bisherigen Berechtigten und eine Auszahlung an den nunmehr Berechtigten vermieden werden sollen. Die Verjährungsregelungen kommen insoweit bereits im Vorfeld hinsichtlich der Frage zur Anwendung, inwieweit ein Rückforderungsanspruch gegen den bisher Berechtigten und ein Nachforderungsanspruch des nunmehr Berechtigten besteht.
Die Erlassentscheidung nach § 227 AO erfasst darüber hinaus aber auch andere Fälle der sachlichen Unbilligkeit. Insofern ist auch die Frage der Verletzung der Mitwirkungspflicht (und ggf. auch deren strafrechtliche Relevanz) im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen12. Von diesen Fällen unterscheidet sich der Streitfall indessen dadurch, dass für das Kind an sich ein Kindergeldanspruch bestand und die Mitwirkungspflichtverletzung lediglich zur Folge hatte, dass der Wechsel der Kindergeldberechtigung vom Vater auf die Kindesmutter nicht zeitnah berücksichtigt werden konnte. Zudem könnte die Mitwirkungspflichtverletzung durch die auch die Weiterleitung des Kindergeldes betreffende notarielle Urkunde in milderem Licht erscheinen.
Da somit die Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf Null nicht vorlagen, ist das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf hinsichtlich der Erlassentscheidung nur insoweit aufrechtzuerhalten, als der Ablehnungsbescheid aufgehoben wurde. Die Sache war nicht an das Finanzgericht zurückzuverweisen. Vielmehr wird die Familienkasse erneut über den Erlassantrag des Vaters zu entscheiden haben.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 19. Mai 2022 – III R 16/20
- grundlegend: GmS-OBG, Beschluss vom 19.10.1971 – GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603[↩]
- z.B. BFH, Urteil vom 13.09.2018 – III R 19/17, BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz 13, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 16.11.2005 – X R 3/04, BFHE 211, 30, BStBl II 2006, 155; BFH, Urteile vom 13.09.2018 – III R 48/17, BFHE 262, 488, BStBl II 2019, 189, Rz 12, und in BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz 13[↩]
- FG Düsseldorf, Urteil vom 11.01.2019 – 15 K 2506/18 AO[↩]
- s. die im Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung vom 24.08.2018 geltende Regelung des – V 36 Abs. 1 Satz 5 der Dienstanweisung zum Kindergeld -DA-KG 2018- nach dem Einkommensteuergesetz vom 10.07.2018, BStBl I 2018, 822[↩]
- BFH, Urteile vom 01.07.2008 – II R 2/07, BFHE 222, 68, BStBl II 2008, 897, unter II. 2.; und vom 24.04.2014 – IV R 25/11, BFHE 245, 499, BStBl II 2014, 819, Rz 49[↩]
- BFH, Urteil vom 11.12.2013 – XI R 22/11, BFHE 244, 209, BStBl II 2014, 332, Rz 30[↩]
- Erreichung des gesetzlichen Ziels des Familienleistungsausgleichs, kein Risiko einer doppelten Inanspruchnahme der Familienkasse, fehlende wirtschaftliche Belastung der Familienkasse[↩]
- BFH, Urteil vom 22.09.2011 – III R 82/08, BFHE 235, 336, BStBl II 2012, 734, Rz 21, m.w.N.[↩]
- s. V 36 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Sätze 2 und 7 DA-KG 2018: „Zur Erfüllung des Erstattungsanspruchs durch Weiterleitung muss der Kindergeldanspruch des nunmehr Berechtigten bereits materiell geprüft worden sein und zweifelsfrei feststehen.“[↩]
- V 36 Abs. 1 Satz 4 DA-KG 2018[↩]
- s. die neuere BFH-Rechtsprechung z.B. BFH, Urteile in BFHE 262, 488, BStBl II 2019, 189, Rz 16 ff.; in BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz 21 ff.; und vom 27.05.2020 – III R 45/19, BFH/NV 2020, 1283, Rz 24 ff.[↩]
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