Der Straßenwärter als Ersthelfer – und die posttraumatischen Belastungsstörung

Für die Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) eines mehrfach als Ersthelfer tätig gewordenen Straßenwärters als Wie-Berufskrankheit fehlt es nach Ansicht des Hessischen Landessozialgerichts an einem generellen Ursachenzusammenhang.

Der Straßenwärter als Ersthelfer – und die posttraumatischen Belastungsstörung

Straßenwärter sind als Ersthelfer besonderen Einwirkungen durch die Konfrontation mit traumatischen Ereignissen anderer Personen (z.B. deren tatsächlichem oder drohendem Tod oder deren ernsthafter Verletzung) in einem erheblich höheren Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt. Für die Anerkennung einer PTBS bei Straßenwärtern als Wie-Berufskrankheit durch das wiederholte Erleben traumatischer Ereignisse bei anderen Personen fehlt es jedoch an der Voraussetzung eines generellen Ursachenzusammenhangs zwischen dieser Erkrankung und den besonderen Einwirkungen. Nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand liegen keine gesicherten Erkenntnisse dafür vor, dass allein die wiederholte Erfahrung der Ersthelfer mit traumatischen Ereignissen bei anderen Personen generell geeignet ist, eine spätere PTBS zu verursachen. Nur wenn das Vollbild einer PTBS zu einem beliebigen früheren Zeitpunkt hinreichend zeitnah nachweisbar ist, ist die weitere Erfahrung traumatischer Ereignisse durch Ersthelfer generell geeignet, die vorbestehende PTBS im Sinne einer Retraumatisierung zu reaktivieren.

Berufskrankheiten sind ebenso wie Arbeitsunfälle Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung. Eine Anerkennung als Wie-Berufskrankheit kommt in Betracht, wenn eine Erkrankung – wie z.B. eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) – nicht in die Verordnung als Berufskrankheit aufgenommen ist, aber aufgrund neuer Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Aufnahme vorliegen.

Wissenschaftliche Erkenntnisse dafür, dass allein die wiederholte Erfahrung von Ersthelfern – wie z.B. Straßenwärter – mit traumatischen Ereignissen bei anderen Personen generell sei, eine posttraumatische Belastungsstörung zu verursachen, bestehen nach Ansicht des Hessischen Landessozialgerichts jedoch nicht.

Anlass für diese Entscheidung war der Fall eines 1960 geborenen Mannes aus dem Lahn-Dill-Kreis, der sein gesamtes Berufsleben als Straßenwärter arbeitete. Er hatte unter anderem Verkehrsunfälle aufzunehmen und musste am Unfallort bleiben, bis Notarzt, Feuerwehr und Kriminalpolizei ihre Arbeit vor Ort beendet hatten. Er erlitt eine schwere psychische Erkrankung. Seit 2013 bezieht er eine Rente der gesetzlichen Rentenversicherung. Gegenüber der Unfallkasse machte er geltend, dass er mit sehr vielen Unfällen und sehr vielen verletzten Menschen und Verkehrstoten zu tun gehabt habe und hierdurch traumatisiert worden sei. Die Unfallkasse lehnte die geltend gemachte PTBS als Berufskrankheit ab. Diese Erkrankung sei nicht in der Verordnung als Berufskrankheit aufgeführt. Auch eine Wie-Berufskrankheit sei nicht anzuerkennen, da die erforderlichen medizinischen Erkenntnisse nicht vorlägen.

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Die Richter bestätigten die Auffassung der Unfallkasse: Bei Ersthelfern ist eine PTBS nicht generell auf die berufliche Belastung zurückzuführen.

Die Erkrankung des Versicherten sei weder als Berufskrankheit noch als Wie-Berufskrankheit anzuerkennen. Straßenanwärter seien zwar als Ersthelfer besonderen Einwirkungen durch die Konfrontation mit traumatischen Ereignissen – wie tatsächlichem oder drohendem Tod sowie schweren Verletzungen – anderer Personen ausgesetzt. Für die Anerkennung einer PTBS durch das wiederholte Erleben dieser traumatischen Ereignisse fehle es jedoch am generellen Ursachenzusammenhang zwischen dieser Erkrankung und den besonderen beruflichen Einwirkungen. Denn nach aktuellem wissenschaftlichem Erkenntnisstand lägen keine gesicherten Erkenntnisse dafür vor, dass allein die wiederholte Erfahrung der Ersthelfer mit traumatischen Ereignissen bei anderen Personen generell geeignet sei, eine PTBS zu verursachen.

Nach § 9 Abs. 2 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die – wie vorliegend – nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach Abs. 1 Satz 2 erfüllt sind (sog. Öffnungsklausel für Wie-Berufskrankheiten). Die Voraussetzungen für eine Bezeichnung sind nach Abs. 1 Satz 2 erfüllt, wenn bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt sind, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft eine Krankheit hervorrufen.

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Mit der Regelung des § 9 Abs. 2 SGB VII soll nicht in der Art einer „Generalklausel“ erreicht werden, dass jede Krankheit, deren ursächlicher Zusammenhang mit der Berufstätigkeit im Einzelfall nachgewiesen oder wahrscheinlich ist, wie eine Berufskrankheit zu entschädigen ist. Vielmehr erfordert die Feststellung einer Wie-Berufskrankheit nach dem Wortlaut der Vorschrift neben der Kausalität im konkreten Einzelfall auch das Vorliegen derselben materiellen Voraussetzungen, die der Verordnungsgeber für die Aufnahme einer Erkrankung in die Liste zu beachten hat, damit die Feststellung eines generellen Ursachenzusammenhangs1. Denn mit der Regelung des § 9 Abs. 2 SGB VII sollen Krankheiten zur Entschädigung gelangen, die nur deshalb nicht in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen wurden, weil die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung bestimmter Personengruppen durch ihre Arbeit bei der letzten Fassung der Anlage 1 zur BKV noch nicht vorhanden waren oder trotz Nachprüfung noch nicht ausreichten2. Das Erfordernis eines generellen Ursachenzusammenhangs für die Anerkennung einer Wie-Berufskrankheit bzw. das Vorliegen wissenschaftlich gesicherter Kausalbeziehungen ist im Übrigen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden3.

Die Feststellung einer Wie-Berufskrankheit ist somit von dem Vorliegen folgender Voraussetzungen abhängig4:

  1. Es muss eine bestimmte Personengruppe bei ihrer Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt sein.
  2. Diese besonderen Einwirkungen müssen nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft generell geeignet sein, Krankheiten solcher Art hervorzurufen.
  3. Diese medizinischen Erkenntnisse müssen bei der letzten Ergänzung der Anlage 1 zur BKV noch nicht in ausreichendem Maße vorgelegen haben oder ungeprüft geblieben sein.
  4. Der ursächliche Zusammenhang der Krankheit mit der gefährdenden Arbeit muss im konkreten Fall hinreichend wahrscheinlich sein.
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Der Straßenwärter war auf Grund seiner versicherten Tätigkeit als Straßenwärter bzw. Streckenwart bei der Autobahnmeisterei A-Stadt und seiner Zugehörigkeit zur Berufsgruppe der Ersthelfer besonderen Einwirkungen durch die Konfrontation mit traumatischen Ereignissen anderer Personen (z. B. deren tatsächlichem oder drohendem Tod oder deren ernsthafter Verletzung) in einem erheblich höheren Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt. Für diese Feststellung stützt sich das Landessozialgericht auf die überzeugenden und schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. H., wonach die wiederholte Konfrontation mit traumatischen Ereignissen anderer Personen zum typischen Berufsbild von Ersthelfern gehört. Diese seelischen Einwirkungen sind auch besondere Einwirkungen im Sinne des § 9 Abs.1 Satz 2 SGB VII. Denn als Einwirkung kommt jedes auf den Menschen einwirkende Geschehen in Betracht5. Ob der Straßenwärter tatsächlich wie von ihm geltend gemacht an einer PTBS durch die Summe der über Jahre erlebten traumatischen Ereignisse bei anderen Personen leidet, ist nicht zu erörtern; die Unfallkasse hat in dem angefochtenen Bescheid jedenfalls das Vorliegen einer solchen (kumulativen) PTBS ohne weitere Begründung festgestellt. Für die Anerkennung einer PTBS als Wie-Berufskrankheit fehlt es aber an der Voraussetzung eines generellen Ursachenzusammenhangs zwischen dieser Erkrankung und der besonderen Einwirkung.

Ob eine Krankheit innerhalb einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftritt als bei der übrigen Bevölkerung, erfordert in der Regel den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige zeitliche Überwachung der Krankheitsbilder. Mit wissenschaftlichen Methoden und Überlegungen muss zu begründen sein, dass bestimmte Einwirkungen die generelle Eignung besitzen, eine bestimmte Krankheit zu verursachen. Erst dann lässt sich anhand von gesicherten „Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft“ im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII nachvollziehen, dass die Ursache für die Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt. Solche Erkenntnisse setzen regelmäßig voraus, dass die Mehrheit der medizinischen Sachverständigen, die auf dem jeweils in Betracht kommenden Fachgebiet über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, zu derselben wissenschaftlich fundierten Meinung gelangt ist. Es ist nicht erforderlich, dass diese Erkenntnisse die einhellige Meinung aller Mediziner widerspiegeln. Andererseits reichen vereinzelte Meinungen einiger Sachverständiger grundsätzlich nicht aus6.

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Vorliegend liegen keine gesicherten Erkenntnisse dafür vor, dass (allein) die wiederholte Konfrontation der Ersthelfer mit traumatischen Ereignissen bei anderen Personen generell geeignet ist, eine PTBS zu verursachen.

Der ärztliche Sachverständigenbeirat „Berufskrankheiten“ beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales, dessen Aufgabe die Sichtung und Bewertung des wissenschaftlichen Erkenntnisstands im Hinblick auf die Aktualisierung bestehender oder die Aufnahme neuer Berufskrankheiten in die BKV ist, hat sich mit der Frage einer PTBS als Berufskrankheit durch das Erleben einer Vielzahl traumatischer Ereignisse, die andere Personen betreffen, bisher nicht befasst. Ein derartiges Thema gehört nicht zu den Themen, die aktuell vom Sachverständigenbeirat geprüft werden.

Seit der letzten Ergänzung der Anlage 1 zur BKV liegen in der Literatur auch keine „neuen“ wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesem Thema vor. Das Landessozialgericht stützt sich für diese Feststellung auf das von ihm eingeholte Gutachten von Prof. Dr. Dr. H. Der Sachverständige hat (auftragsgemäß) nach sorgfältiger Literaturrecherche und Analyse überzeugend dargelegt, dass sich eine hinreichende Evidenz in der vorhandenen wissenschaftlichen Literatur bislang nicht dafür ergibt, dass allein die wiederholte Erfahrung traumatischer Ereignisse bei Ersthelfern im Sinne der Kumulation geeignet ist, eine spätere PTBS zu verursachen. Hierzu bedarf es nach den Ausführungen des Sachverständigen geeigneter prospektiver Studien anhand strukturierter psychopathologischer Untersuchungen, die aber fehlten. Die vorhandenen Studien sind nach Prof. Dr. Dr. H. hingegen äußerst heterogen, es bestehe keine Einigkeit über die Bedeutung kumulativer potenziell traumatisierender Ereignisse (PTE). Außerdem würden sich die vorliegenden Arbeiten so gut wie ausschließlich lediglich auf Fragebogenaktionen zum Vorhandensein von Symptomen einer PTBS beziehen, ohne jedoch durch eine konkrete Untersuchung festzustellen, ob einer derartige Störung auch entsprechend der hierzu vorliegenden Kriterien nach den psychiatrischen Klassifikationssystemen (ICD-10, DSM-5) zu diagnostizieren sei. Insbesondere zeige sich auch anhand der Literatur, dass eine derartige Symptombelastung, sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch bei Ersthelfern, nicht traumaspezifisch sei, sondern auch nach alltäglichen Lebensereignissen wie Unzufriedenheit oder Mobbing am Arbeitsplatz sowie sozialen Stressfaktoren auftrete. Nicht zuletzt fänden sich vergleichbare Symptomhäufigkeiten auch bei medizinischem Personal, das keine spezifischen traumatisierenden Situationen gemäß den ICD-10- und DSM-5-Definitionen erlebe. Zwar werde in der Literatur auch von der Möglichkeit einer PTBS mit verzögertem Beginn gesprochen, wenn das Vollbild erst nach Ablauf von sechs Monaten eintrete. Die Studienlage dazu sei jedoch uneinheitlich. In der Einzelanalyse zeige sich, dass derartig verzögerte Symptome nur nach schweren, lang andauernden traumatischen Erlebnissen (z.B. Kriegserlebnissen, Konzentrationslager, Missbrauchserlebnissen in der Kindheit) auftreten würden. Ansonsten entwickelten sich selbst nach Flutkatastrophen, Terrorattacken oder Flugzeugkatastrophen die posttraumatischen Symptome stets zeitnah.

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Nach den Ausführungen des Sachverständigen zum aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand lässt die Aufarbeitung der diesbezüglichen Literatur die weitere Aussage zu, dass die wiederholte Erfahrung traumatischer Ereignisse bei anderen Personen durch Ersthelfer (generell) geeignet ist, eine vorbestehende PTBS im Sinne einer Retraumatisierung zu reaktivieren und/oder in ihrer Ausprägung zu verstärken. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass zuvor bereits zu einem beliebigen früheren Zeitpunkt das Vollbild einer PTBS vorgelegen hat, das hinreichend zeitnah in einem Zeitraum von üblicherweise 3 – 6 Monaten nachweisbar ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt kommt hier die Anerkennung einer Wie-Berufskrankheit nicht in Betracht. Denn ein solches „Indextrauma“ ist nach Ansicht des Sachverständigen bei dem Straßenwärter nicht gesichert, da eine PTBS-Symptomatik erstmals in den Akten 2010 dokumentiert ist und nicht in zeitlichem Zusammenhang zu einem geeigneten Trauma gemäß den psychiatrischen Klassifikationssystemen steht. Der Straßenwärter selbst hat ausdrücklich ein solches einzelnes Trauma als Ursache seiner Erkrankung verneint. Er beruft sich ausdrücklich auf die Summe seiner Erfahrungen während der Berufstätigkeit. Die ihn behandelnden Ärzte haben ihre Diagnose einer PTBS ausschließlich und ausdrücklich begründet mit der Belastung des Straßenwärters durch die vielen Erlebnisse während der jahrzehntelangen Arbeit als Streckenwart und nicht mit einem initialen Trauma und anschließenden Retraumatisierungen. Auf Grund dieses Vorbringens des Straßenwärters und der Berichte seines behandelnden Arztes hat die Unfallkasse im Verwaltungsverfahren auch nicht die Anerkennung eines Arbeitsunfalls durch ein konkretes Ereignis geprüft, sondern das Vorliegen einer Berufskrankheit bzw. Wie-Berufskrankheit durch die Summe belastender Erlebnisse. Auf eine solche PTBS, allein verursacht durch wiederholte Erfahrungen, beziehen sich die Feststellungen der Unfallkasse in dem angefochtenen Bescheid.

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Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 10. Oktober 2019 – L 3 U 145/14

  1. vgl. BSG, Urteile vom 18.06.2013 – B 2 U 6/12 R –; und vom 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R[]
  2. BSG, Urteile vom 18.06.2013, a. a. O.; und vom 13.02.2013 – B 2 U 33/11 R[]
  3. BSG, Urteil vom 18.06.2013, a. a. O.[]
  4. vgl. Hess. LSG, Urteil vom 20.09.2011 – L 3 U 30/05; sowie BSG, Urteil vom 20.07.2010, a. a. O.[]
  5. BSG, Urteil vom 18.06.2013, a. a. O.; Entwicklungshelferurteile[]
  6. BSG, Urteil vom 18.06.2013, a. a. O., m. w. N. aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung[]

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