Der Streit um die Anfechtung eines (privaten) Pflegeversicherungsvertrages – und der Rechtsweg zu den Sozialgerichten

Nach § 51 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Satz 1 SGG entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit auch über privatrechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der privaten Pflegeversicherung nach dem Sozialgesetzbuch – Elftes Buch (SGB XI). Dazu zählen die Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Versicherungsnehmer und dem Versicherer über privatrechtliche Pflegeversicherungsverhältnisse1.

Der Streit um die Anfechtung eines (privaten) Pflegeversicherungsvertrages – und der Rechtsweg zu den Sozialgerichten

Nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kommt es für die Rechtswegzuweisung entscheidend darauf an, ob die Vorschriften, die zur Klärung der streitigen Rechtsfragen heranzuziehen und auszulegen sind, zumindest im Grundsatz im SGB XI geregelt sind2.

Danach hat das Oberlandesgericht Dresden3 zu Recht den Rechtsweg zu den Sozialgerichten als eröffnet angesehen. Die ordentlichen Gerichte sind auch nicht deshalb zuständig, weil eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung im Streit steht.

Die private Pflegeversicherung ist wie die soziale Pflegeversicherung im SGB XI durch öffentlichrechtliche Vorschriften des Sozialrechts geregelt. Zwischen beiden Zweigen besteht ein enger Zusammenhang (vgl. § 23 Abs. 1 SGB XI). Der Inhalt der mit privaten Versicherern abzuschließenden, unter Kontrahierungszwang stehenden Pflegeversicherungsverträge ist im SGB XI im Wesentlichen zwingend gesetzlich vorgeschrieben und damit der autonomen Gestaltung der Vertragsparteien entzogen4. Rücktritts- und Kündigungsrechte des Versicherers sind nach § 110 Abs. 4 SGB XI ausgeschlossen, solange der Kontrahierungszwang besteht.

Bei der Entscheidung eines Rechtsstreits zwischen dem Versicherungsnehmer und dem Versicherer über ein privates Pflegeversicherungsverhältnis sind stets die den Versicherungsvertrag beherrschenden Vorschriften des SGB XI heranzuziehen und auszulegen. Das gilt auch dann, wenn unmittelbar Allgemeine Versicherungsbedingungen oder Vorschriften des Zivilrechts (etwa des Bürgerlichen Gesetzbuches oder des Versicherungsvertragsgesetzes) im Streit stehen. Die einheitliche Zuweisung aller Streitigkeiten nach dem SGB XI an die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit kann dazu führen, dass diese in Angelegenheiten der privaten Pflegeversicherung auch über die richtige Anwendung privatrechtlicher Vorschriften zu entscheiden haben5.

Weiterlesen:
Anfechtung eines Aufhebungsvertrags - und der Wegfall der Geschäftsgrundlage

So liegt es hier. Ob eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung wirksam war, richtet sich zwar zunächst nach zivilrechtlichen Vorschriften (u.a. § 22 VVG, §§ 123 f. BGB). Wenn es um einen Pflegeversicherungsvertrag geht, sind aber stets auch die öffentlichrechtlichen Vorschriften des SGB XI zu prüfen, insbesondere der Kontrahierungszwang nach § 23 Abs. 1 SGB XI und die Beschränkungen des Kündigungs- und Rücktrittsrechts nach § 110 Abs. 4 SGB XI, die zu einer abweichenden rechtlichen Beurteilung führen können. Rechtsstreitigkeiten zwischen den Vertragsparteien eines privaten Pflegeversicherungsvertrages über den Fortbestand des Vertrages sind deshalb gemäß § 51 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Satz 1 SGG einheitlich den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesen, unabhängig davon, ob im Einzelfall eine Kündigung, ein Rücktritt oder eine Anfechtung in Rede steht und in welchem Stufenverhältnis gegebenenfalls mehrere dieser Gestaltungsrechte ausgeübt wurden6.

Soweit der Bundesgerichtshof bereits zum Ausschluss der Kündigung einer Pflegeversicherung nach § 110 SGB XI Stellung genommen hat7, beruhte dies auf § 17a Abs. 5 GVG und lässt keine abweichende Auffassung zur Rechtswegzuweisung erkennen.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12. September 2018 – IV ZB 1/18

  1. vgl. BT-Drs. 14/5943, Sautter/Wolff, SGG § 51 Rn. 433 (Stand: November 2017); Koch in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht § 110 SGB XI Rn. 27 (Stand: Mai 2018); Philipp in LPK-SGB XI, 4. Aufl. Verfahren und Rechtsschutz: SGB XI und SGB XII Rn. 72; HK-VVG/Rogler, 3. Aufl. § 192 Rn. 43; Langheid/Rixecker/Muschner, VVG 5. Aufl. § 192 Rn. 42a; MünchKomm-VVG/Boetius, 2. Aufl. Vorbemerkung zu §§ 192 bis 208 Rn. 491; Reinhard in Looschelders/Pohlmann, VVG 3. Aufl. § 192 Rn. 54; Weber in Bach/Moser, Private Krankenversicherung, 5. Aufl. Teil H Rn. 58; Voit in Prölss/Martin, VVG 30. Aufl. § 192 Rn. 219; Stormberg in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch 3. Aufl. § 44 Rn. 239a; Felsch, r+s 2017, 602 (Anm. zu LG Köln r+s 2017, 601) []
  2. BSG NZS 2007, 34 Rn. 4[]
  3. OLG Dresden, Beschluss vom 06.12.2017 – 4 W 1038/17, NJW-RR 2018, 221[]
  4. BSGE 79, 80 = VersR 1998, 486 11 ff.][]
  5. BSGE 79, 80 = VersR 1998, 486 25]; vgl. auch BSG VersR 2007, 1074 Rn. 9 f.; OLG Stuttgart r+s 2017, 111 Rn. 15; KG VersR 2016, 138 f. 4]; OLG Celle, Beschluss vom 03.07.2018 8 W 24/18 6[]
  6. Koch in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht § 110 SGB XI Rn. 27 [Stand: Mai 2018]; Vieweg in Udsching/Schütze, SGB XI 5. Aufl. § 110 Rn. 26; jurisPK-SGG/Flint, § 51 Rn. 157, 157.1 [Stand: 17.08.2018]; Hommel in Peters/Sautter/Wolff, SGG § 51 Rn. 433 [Stand: November 2017][]
  7. BGH, Urteil vom 07.12 2011 – IV ZR 105/11, BGHZ 192, 67 Rn. 28 ff.[]
Weiterlesen:
Lungenkrebs als Berufskrankheit - nicht für Raucher