Die Hinweispflicht des Gerichts

Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gebietet es, die Beteiligten auf entscheidungserhebliche rechtliche Gesichtspunkte hinzuweisen, mit denen ein gewissenhafter und kundiger Verfahrensbeteiligter nicht zu rechnen brauchte1.

Die Hinweispflicht des Gerichts

Der nach dem damaligen Verlauf des fachgerichtlichen Verfahrens von den Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin durchaus nachvollziehbar als überraschend empfundene Hinweis des Bundesverfassungsgerichts kann daher auch keinen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens2 begründen. Zugleich kann das nach der mündlichen Verhandlung verkündete Urteil des Landessozialgerichts aber nicht mehr als überraschend angesehen werden.

Soweit die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall einen Verstoß des Gerichts gegen Art. 103 Abs. 1 GG darin sieht, dass das Gericht ihr keine Gelegenheit gegeben habe, zu dem Hinweis vorzutragen, ist diese Rüge hier auch im Hinblick auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde unzulässig:

Aus dem – auch in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden – subsidiären Charakter der Verfassungsbeschwerde als außerordentlicher Rechtsbehelf sowie der Kompetenzverteilung zwischen den Fachgerichten und dem Bundesverfassungsgericht folgt, dass der Beschwerdeführer über das Erfordernis einer Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinaus vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde grundsätzlich alle ihm zumutbaren, nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen muss, um den geltend gemachten Verstoß gegen Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte zu verhindern oder dessen Korrektur zu erwirken3. Die Beachtung der aus dem Grundsatz der Subsidiarität folgenden Anforderungen muss ein Beschwerdeführer, wenn sie nicht offensichtlich gewahrt sind, in seiner Verfassungsbeschwerde substantiiert darlegen4.

Dem Protokoll der mündlichen Verhandlung ässt sich jedoch entnehmen, dass das streitige Tatbestandsmerkmal erörtert wurde und dass auch der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin hierzu Ausführungen gemacht hatte. Soweit die Beschwerdeführerin auch ihren ergänzenden Vortrag nach dem Termin zur mündlichen Verhandlung berücksichtigt sehen möchte, haben die beiden in dem Termin vor dem Landessozialgericht anwesenden, rechtskundigen Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin dort keine Anträge auf Vertagung oder Schriftsatznachlass gestellt (§ 202 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 227 ZPO bzw. § 283 ZPO)5. Soweit die Beschwerdeführerin in ihrem Antrag an das Landessozialgericht auf Protokollberichtigung einen begehrten Schriftsatznachlass erwähnt habe, bezog sich dieser ausweislich des Antrags lediglich auf die nicht streitentscheidend gewordene Frage nach Entschädigungsleistungen nach der Anerkennungsrichtlinie, jedoch nicht auf die in der mündlichen Verhandlung erstmals vom Gericht aufgeworfene Frage der Freiwilligkeit der geleisteten Tätigkeiten. Der Vortrag der Beschwerdeführerin, wonach das Landessozialgericht in jedem Falle noch am Tag der mündlichen Verhandlung habe entscheiden wollen, ist bei fehlender Antragstellung auf Vertagung oder Schriftsatznachlass seitens der im Termin anwesenden rechtskundigen Prozessbevollmächtigten nicht hinreichend substantiiert, um einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu begründen. Im Hinblick auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde kommt hinzu, dass die Beschwerdeführerin in der Begründung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde auch nicht geltend gemacht hat, dass das Landessozialgericht einen auf weitere Sachverhaltsaufklärung gerichteten Antrag übergangen hätte oder dass eine solche Antragstellung offensichtlich aussichtslos gewesen wäre.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 9. Mai 2023 – 1 BvR 1/23

  1. vgl. BVerfGE 86, 133 <144 f.> 98, 218 <263> BVerfGK 9, 295 <302 f.>[]
  2. vgl. BVerfGK 7, 350 <354>[]
  3. vgl. BVerfGE 5, 9 <10> 22, 287 <290 f.> 81, 22 <27> 84, 203 <208> 95, 163 <171> stRspr[]
  4. vgl. BVerfGK 4, 102 <103 f.> BVerfGE 129, 78 <93>[]
  5. vgl. BSG, Beschluss vom 23.10.2003 – B 4 RA 37/03 B 7 ff.; BSG, Beschluss vom 08.05.2019 – B 14 AS 37/18 B 6 f.[]

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