Jahrelang gelebte Sehstörungen ohne nachweisbaren organischen Befund rechtfertigen keine Erhöhung des Grades der Behinderung.

Die maßgebliche Versorgungsmedizin-Verordnung schreibt in ihren Versorgungsmedizinischen Grundsätzen zwingend den objektiven Nachweis eines organischen (morphologischen) Befunds für vom behinderten Menschen angegebene Sehstörungen vor, wenn damit ein Grad der Behinderung nach dem Funktionssystem des Auges begründet werden soll. Eine jahrelang gelebte Sehstörung ohne nachgewiesenen organischen Befund genügt demgegenüber nicht.
Mit dieser Begründung hat jetzt das Bundessozialgericht ein Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen1 aufgehoben und den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückverwiesen. Das Gericht muss jetzt prüfen, ob sich die Sehstörungen der Klägerin psychisch-neurologisch erklären lassen oder ob sich doch noch ein morphologischer Befund nachweisen lässt.
Die bisherigen Tatsachenfeststellungen des Landessozialgericht tragen nicht die Verurteilung der Beklagten zur Feststellung eines GdB der Klägerin von mehr als 40. Das Landessozialgericht hat die von der Versorgungsmedizin-Verordnung in ihrem Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) zwingend vorgegebene Zuordnung gesundheitlicher Einschränkungen zu den dort abschließend aufgezählten Funktionssystemen nicht hinreichend berücksichtigt. Denn es hat offengelassen, ob die Sehstörungen der Klägerin ihrer Psyche oder ihrem Sehapparat entstammen.
Soweit das Landessozialgericht trotzdem die Vorgaben für das Funktionssystem „Sehorgan“ entsprechend angewandt hat, hat es diese nicht beachtet. Anders als das Landessozialgericht angenommen hat, stellt die Formulierung der VMG, dass auf eine Erklärung der Sehstörungen durch den morphologischen Befund zu achten sei, eine zwingende Voraussetzung für eine GdB-Festsetzung dar. Das ergibt sich insbesondere auch aus der vom Senat eingeholten Auskunft des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales als dem fachlich verantwortlichen Urheber der VMG.
Der Senat ist in dieser Hinsicht auch nicht an die tatsächlichen Feststellungen des Landessozialgericht gebunden. Denn das Berufungsgericht hat sich über die unauflösbaren Widersprüche zwischen den Angaben der Klägerin und den objektiven Befunden hinweggesetzt, welche die augenärztlichen Begutachtungen ergeben haben. Damit hat das Berufungsgericht das zwingende Erfordernis eines morphologischen Korrelats für die Sehstörungen missachtet.
Das Landessozialgericht wird nach der Wiedereröffnung des Verfahrens in der Berufungsinstanz zu ermitteln haben, ob die von der Klägerin angegebenen Sehstörungen durch ein Leiden aus dem Funktionssystem „Nervensystem und Psyche“ erklärt werden können oder ob sich die Widersprüche zwischen den subjektiven Angaben und dem objektiven Befund auf andere Weise auflösen lassen. Misslingt beides, geht dies nach den allgemeinen Regeln der objektiven Beweislast zulasten der Klägerin.
Bundessozialgericht, Urteil vom 27. Oktober 2022 – B 9 SB 4/21 R
- LSG NRW, Urteil vom 07.10.2020 – L 1 SB 381/17[↩]
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