Die Kassenärztliche Vereinigung darf die Vergütung von Corona-Tests während einer Abrechnungsprüfung vorläufig einstellen.

Ausgangspunkt für den hier vom Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen entschiedenen Fall war das Eilverfahren eines Testzentrums, das gegenüber der KV Forderung von rd. 380.000 € geltend machte. Für Tests im Winter 2021/22 hatte das Unternehmen bereits rd. 220.000 € von der assenärztliche Vereinigung Niedersachsen (KV) erhalten. Als im Frühjahr 2022 ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren wegen Abrechnungsbetrugs eingeleitet wurde, setzte die KV die Zahlung aus und führte eine vertiefte Abrechnungsprüfung durch. Nachdem das Ermittlungsverfahren im September 2022 eingestellt wurde, verlangte das Unternehmen von der KV die Wiederaufnahme der Zahlungen bzw. Abschläge. Denn dem Unternehmen drohe die Insolvenz und dem Geschäftsführer die Obdachlosigkeit.
Die KV verwies jedoch auf die noch laufende Prüfung. Nach einem Hinweis habe es konkrete und deutliche Anhaltspunkte dafür gegeben, dass allenfalls ein geringer Teil der abgerechneten Tests tatsächlich durchgeführt worden sei. Das Unternehmen habe die Testdokumentation nicht in der vorgeschriebenen digitalen Form eingereicht. Soweit nunmehr mehrere Kisten mit Papieren eingereicht würden, seien diese ggf. nachträglich verändert worden und stimmten nicht mit der digitalen Form überein. Außerdem habe der Geschäftsführer im Rahmen der Handelsregistereintragung mehrere Vorstrafen wegen Betrugs verschwiegen.
Wie erstinstanzlich bereits das Sozialgericht Lüneburg1 hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen die Rechtsauffassung der KV bestätigt:
Im Abrechnungswesen von Leistungserbringern im Medizinsektor stelle die Abrechnung erbrachter Leistungen das Kern-Element zur Kontrolle dar und sei zu diesem Zweck streng formal geregelt; und vom Leistungserbringer einzuhalten. Ohne eine formal korrekte Abrechnung könne in Massenabrechnungsverfahren keine Leistungskontrolle stattfinden und keine Qualitätssicherung erfolgen. Dabei könne ein Verstoß des Leistungserbringers gegen die Abrechnungsbestimmungen auch den vollständigen Ausfall des Entgelts zur Folge haben.
Zum Anordnungsanspruch ist zunächst zu bestätigen, dass der Kassenärztlichen Vereinigung das Recht zur Prüfung und Aussetzung der Zahlungen auch in der Fassung der TestV vom 31.08.2022 (ab 1.09.2022) und vom 24.11.2022 (sowie für die Zeit davor) zusteht. Denn nach Absatz 5 Satz 1 des § 7a TestV idFv 31.08.2022 und 24.11.2022 bleibt die mögliche Rechtsfolge einer Aussetzung der Zahlungen für alle drei Prüfarten der Absätze 1, 1b und 2 bestehen, also auch für die andauernden Prüfungen der KV.
Zum zweiten und vor allem aber ist für das Landessozialgericht die Ermessenentscheidung der KV nicht zu beanstanden. Ein Ermessensausfall oder eine Ermessensüberschreitung liegt per se nicht vor, weil die KV sich ihrer Ermessensentscheidung bewusst gewesen und die inhaltliche Ausgestaltung mit einer Sachargumentation begründet hat. Die dabei festgelegte Kürzung der Zahlungen auf Null liegt im Rahmen der rechtlich zulässigen Rechtsfolgen, weil sich im Normentext keine Begrenzung der Kürzungshöhe findet („können Auszahlungen …. ausgesetzt werden“). Vor allem aber ist die Ermessensentscheidung nicht unverhältnismäßig (kein sog. Fehlgebrauch). Ausgangspunkt der rechtlichen Beurteilung der Ermessensausübung ist das Abrechnungswesen von Leistungserbringern im Medizinsektor. Danach stellt die Abrechnung erbrachter Leistungen das Kern-Element zur Kontrolle für die Leistungsträger dar und ist zu diesem Zweck streng formal geregelt; und vom Leistungserbringer einzuhalten. Ohne eine formal korrekte Abrechnung kann eine Leistungskontrolle nicht stattfinden und eine Qualitätssicherung nicht erfolgen. Dabei kann ein Verstoß des Leistungserbringers gegen die Abrechnungsbestimmungen auch den vollständigen Ausfall des Entgelts zur Folge haben. Dies gilt insbesondere auch in Abrechnungsverfahren von Massen-Leistungen, wie sie vorliegend in Rede stehen. So ist etwa im Bereich des Abrechnungsrechts von Apotheken-Leistungen (mit mehr als 500 Mio abgerechneten Rezepten/per anno) bei Verstößen gegen Abrechnungsvorschriften eine Reduzierung des vom Leistungserbringer (Apotheker) geltend gemachten Abrechnungsbetrages auf Null recht- und verfassungsmäßig und eine Verletzung des Grundrechts des Leistungserbringers aus Art. 12 GG nicht gegeben (sog. Retaxation auf Null; siehe etwa: BSG, Urteil vom 20.04.2016 – B 3 KR 23/15 R; die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil wurde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG 1. Senat 2. Kammer vom 13.04.2016 – 1 BvR 591/16). Die für den Bereich des Apothekenrechts ergangene Neufassung des § 129 Abs. 4 Satz 2 SGB V (in Kraft seit dem 23.07.2015) zur Verhältnismäßigkeit der Retaxationen ist vorl. nicht anwendbar – auch nicht analog, weil es dort maßgeblich um Ordnungsvorschriften geht2, die vorliegend nicht in Rede stehen: die von der KV festgestellten Auffälligkeiten betreffen u.a. Emailadressen/Telefonnummern von Testprobanden oder geänderte Daten in später vorgelegten schriftlichen Unterlagen. Die Retaxation auf Null bleibt daher weiter möglich, wenn der bloße Verstoß gegen Ordnungsvorschriften überschritten wird3.
Zur Gewichtigkeit der vorliegend festgestellten Unregelmäßigkeiten (nicht bloße Ordnungsverstöße) kommt hinzu, dass aus den o.g. Gründen der zentralen Bedeutung von Abrechnungsvorschriften und deren Einhaltung eine spätere Abänderung einer einmal erfolgten Abrechnung grundsätzlich ausgeschlossen ist. Vergütungsregelungen, die für eine routinemäßige Abwicklung von zahlreichen Behandlungs- oder Leistungsfällen vorgesehen sind, sind streng nach ihrem Wortlaut und den dazu vereinbarten Anwendungsregelungen auszulegen4. Es würde zu einer erheblichen und mit den Erfordernissen einer Massenverwaltung nicht zu vereinbarenden Erschwerung des Abrechnungsverfahrens führen, wenn trotz des eindeutigen Wortlauts der maßgeblichen Regelungen eine nachträgliche Heilung des Verstoßes nach bereits erfolgter Abrechnung möglich wäre5.
Im Übrigen fiel bei der stichprobenartigen Prüfung der von der Coronatestzentrumsbetreiberin auf Anforderung des Senats eingereichten schriftlichen Abrechnungsunterlagen durch den Senat auf, dass in einer erheblichen Anzahl von Einverständniserklärungen die Ausweisnummer und damit autorisierte Identifikation der getesteten Personen fehlte, vereinzelt die Eintragung zweier Ausweisnummern bei der identischen Person erfolgte, sowie ebenso vereinzelt das Fehlen des sogenannten Patientenaufklebers, das Fehlen des Datums des absolvierten Tests sowie die Unterschrift der getesteten Person. Neben alledem ist der von der Coronatestzentrumsbetreiberin gerügte zeitliche Verzug des Prüfverfahrens der KV für den Senat nicht feststellbar. Es handelt sich um ein Massen-Abrechnungsverfahren, das im Fall der Coronatestzentrumsbetreiberin aufgrund aufgetretener Unregelmäßigkeiten zur Prüfung veranlasst hat, die zeitabschnittsweise durchgeführt wird und in ihrem Verlauf voranschreitet, was bereits aufgrund der zwischenzeitlich ergangenen Bescheide und Stellungnahmen der KV deutlich wird. Bei alledem lässt der erkennende Senat zu Gunsten der Coronatestzentrumsbetreiberin dahinstehen, ob es sich bei dem Vortrag, die elektronische Datenübermittlung sei wegen unzureichender Aufnahmekapazität des Portals der KV technisch nicht möglich gewesen, um eine Schutzbehauptung handelt. Denn jedenfalls ergibt eine Recherche des Senats in einschlägigen juristischen Datenbanken, dass eine entsprechende Streitigkeit bislang für keines der vielen tausend Test-Zentren in Deutschland bekannt geworden ist. Zusammenfassend ist deshalb ein Anordnungsanspruch der KV nicht gegeben, auch nicht auf anteilige Zahlung abgerechneter Beträge.
Zum Anordnungsgrund ist die allein rechtserhebliche drohende Insolvenz der Coronatestzentrumsbetreiberin (nicht: von deren Geschäftsführer) nach wie vor nicht glaubhaft gemacht, da die von der Antragstellerin im SG- sowie im Beschwerdeverfahren eingereichten Unterlagen hierfür nicht ausreichend sind. Insbesondere ist weder eine aktuelle betriebswirtschaftliche Auswertung oder ein aktueller Jahresabschluss vorgelegt worden. In Verfahren des Einstweiligen Rechtsschutzes muss die drohende Insolvenz für das Gericht ohne weiteres nachvollziehbar belegt werden6.
Landessozialgericht Niedersachsen -Bremen, Beschluss vom 20. Januar 2023 – L 4 KR 549/22 B ER
- SG Lüneburg, Beschluss vom 06.12.2022 – S 16 KR 26/22 ER[↩]
- Gesetzentwurf des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes vom 25.02.2015, BT-Drs. 18/4095, S. 117, 118; siehe: LSG NRW, Urteil vom 22.10.2020 – L 16 KR 458/18[↩]
- zuletzt wieder: BSG, Beschluss vom 05.08.2021 – B 3 KR 12/21 B, im Anschluss an LSG. Urteil vom 17.02.2021, L 4 KR 158/16; für den Fall eines Verstoßes gegen eine bloße Ordnungsvorschrift: LSG Hamburg, Urteil vom 17.02.2022 – L 1 KR 145/19[↩]
- zum Krankenhausrecht, ca.20 Mio Abrechnungsfälle per anno, vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 03. August 2006 – B 3 KR 7/05 R, Rn.20m.w.N.[↩]
- vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20.03.2013 – L 4 KR 77/12, Rn. 35; zuletzt wieder LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 17.02.2021, L 4 KR 158/16 mit Hinweis auf Urteil vom 28. November 2017, L 4 KR 104/15[↩]
- siehe zu B ER-Verfahren bei drohender Insolvenz etwa: LSG Hessen, Beschluss vom 04.07.2022 – L 8 KR 125/22 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 18.07.2019 – L 4 KR 255/19 B ER mit Hinweis auf LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 06.03.2007 – L 28 B 290/07 AS ER; und vom 02.05.2007 – L 28 B 517/07 AS ER; Kummer, SGb 2001, 705, 714 m.w.N.; Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2005, Rdnr.197 ff; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, § 86b Rdnr. 12b, 27a, b[↩]