Die Kosten einer wegen Verstoßes gegen das Gebot zügiger Krisenbewältigung rechtswidrig gewordenen Inobhutnahme sind vom zuständigen Jugendhilfeträger zu erstatten, wenn stattdessen Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 34 SGB VIII hätte gewährt werden müssen und die Kosten im Rahmen dieser Hilfe ebenfalls angefallen wären.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch ist § 89 b Abs. 1 SGB VIII. Danach sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen der Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen gem. § 42 SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach § 86 SGB VIII begründet wird.
Nach § 89 f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind die aufgewendeten Kosten nur zu erstatten, soweit die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften des SGB VIII entspricht. Das danach geltende Gebot der Gesetzeskonformität der aufgewendeten Kosten verlangt allerdings bereits nach seinem Wortlaut nicht, dass die Leistungsgewährung in jeder Hinsicht objektiv rechtmäßig gewesen ist, und ist beschränkt auf die Vorschriften des 8. Buches Sozialgesetzbuch. Gesetzeskonformität im Sinne dieser Vorschrift und objektive Rechtmäßigkeit sind nicht durchweg identisch, auch wenn sich die Anwendungsergebnisse im Wesentlichen überschneiden werden. Nach seinem Sinn und Zweck formt das Gebot der Gesetzeskonformität das allgemeine, aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Gebot der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung für das Erstattungsrechtsverhältnis zwischen Jugendhilfeträgern aus. Es soll sicherstellen, dass der erstattungsberechtigte Jugendhilfeträger nicht in Erwartung einer Erstattungsleistung bei der Leistungsgewährung die durch das Gesetz gezogenen Grenzen überschreitet, und – dem korrespondierend – den erstattungspflichtigen Jugendhilfeträger davor bewahren, die Aufwendungen für solche Leistungen zu erstatten, die bei ordnungsgemäßer Leistungsgewährung nach Art oder Umfang so nicht hätten erbracht werden müssen. Insoweit ist die Regelung zugleich Ausdruck des kostenerstattungsrechtlichen Interessenwahrungsgrundsatzes. Der Kostenerstattung begehrende Träger hat bei der Leistungsgewährung die rechtlich gebotene Sorgfalt anzuwenden, zu deren Einhaltung er in eigenen Angelegenheiten gehalten ist; der auf Erstattung in Anspruch genommene Jugendhilfeträger kann eine darüber hinausgehende Prüfung der Leistungsvoraussetzungen nicht verlangen und daher eine Erstattung nicht verweigern, wenn auch er selbst die angefallenen Kosten nicht hätte vermeiden können, weil er nach dem im Zeitpunkt der Entscheidung über die Hilfegewährung gegebenen Erkenntnisstand nicht anders gehandelt hätte [1].
Im hier entschiedenen Fall lagen die Voraussetzungen für die Inobhutnahme der C. und deren Tochter nach § 42 SGB VIII zu Beginn im September 2007 unzweifelhaft vor. Die Aufrechterhaltung der Inobhutnahme über einen Zeitraum von ca. 1 ¾ Jahren war aber rechtswidrig. Die Inobhutnahme ist – wie sich aus der Überschrift des ersten Abschnitts des dritten Kapitels des SGB VIII („vorläufige Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen“) sowie aus § 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII („.… vorläufig unterzubringen .…“) ergibt – eine vorläufige Schutzmaßnahme im Sinne einer Krisenintervention, die darauf gerichtet ist, die Krisensituation zu beseitigen bzw. ihr mit geeigneten Hilfeangeboten zu begegnen. Sie ist aber nicht bereits selbst die vom Gesetz intendierte dauerhafte Lösung erzieherischer Probleme [2]. Widersprechen die Personensorgeberechtigten der Inobhutnahme nicht, so ist unverzüglich ein Hilfeplanverfahren mit dem Ziel der Gewährung einer Anschlusshilfe einzuleiten (§ 42 Abs. 3 Satz 5 SGB VIII). Stellen die Sorgeberechtigten im Rahmen des Hilfeplanverfahrens keinen Antrag auf die sich als notwendig erweisende Anschlusshilfe – etwa von Hilfe zur Erziehung – muss zur Klärung der Situation und zur Beendigung der Inobhutnahme in gleicher Weise vom Jugendamt eine Entscheidung des Gerichts zur Legitimierung des Sorgerechtseingriffs herbeigeführt werden. Die Rechtmäßigkeit der fortdauernden Inobhutnahme hängt davon ab, dass das Jugendamt unverzüglich dafür Sorge trägt, dass das Familiengericht das fehlende Einverständnis der Sorgeberechtigten mit den für erforderlich anzusehenden Anschlussmaßnahmen ersetzt [3]. Das Jugendamt ist verpflichtet, im Zusammenwirken mit dem Personensorgeberechtigten die Art des jugendhilferechtlichen Bedarfs zu klären und eine Entscheidung über die gebotene Hilfe herbeizuführen. Es hat dafür Sorge zu tragen, dass das Verfahren in der gebotenen zügigen Weise mit dem Ziel einer Krisenklärung (entweder – bei andauerndem erzieherischen Bedarf – Überleitung der Inobhutnahme in eine Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 30, 34 SGB VIII oder – bei Wegfall eines jugendhilferechtlichen Bedarfs – Beendigung der Inobhutnahme) „abgewickelt“ wird [4].
Gemessen hieran hat der Kläger gegen das Gebot zügiger Krisenklärung verstoßen. Denn die vorliegenden Unterlagen lassen nicht erkennen, dass in hinreichendem Maße auf eine Entscheidung über die Anschlusshilfe hingewirkt wurde, obwohl der gesamte, die Anschlusshilfe steuernde und sie präjudizierende Hilfeplansprozess in die Zuständigkeit des für die Inobhutnahme zuständigen Jugendamts fällt [5]. Einzuräumen ist zwar, dass der Kläger die Beklagte – erstmals mit Schreiben vom 29.11.2007 – zur Anerkennung der Zuständigkeit und zur Übernahme des Hilfefalles aufgefordert hat. Spätestens, nachdem die Beklagte (mit Schreiben v. 14.12.2007) ihre Zuständigkeit verneint und die Übernahme des Hilfefalles abgelehnt hatte, hätte der Kläger aber im Rahmen des Hilfeplanverfahrens auf eine Beendigung der Inobhutnahme hinwirken und – soweit erforderlich – gem. § 86 d SGB VIII wegen Nichttätigwerdens des zuständigen örtlichen Trägers vorläufig über die Anschlusshilfe entscheiden müssen. Dies hat er jedoch nicht getan, sondern die Inobhutnahme weiterlaufen lassen. So heißt es etwa in den Hilfeplänen vom 22.04.2008 und 19.08.2008, die Hilfe werde seit 13.09.2007 gewährt und weiterhin im Rahmen des § 42 SGB VIII bis zum Zeitpunkt der Klärung der Zuständigkeiten gewährt. In den nachfolgenden Hilfeplänen heißt es in der Rubrik „zeitlicher Rahmen“ lediglich, dass die Hilfe weiter erforderlich sei. Der Umstand, dass die Beklagte (zu Unrecht) die Übernahme des Hilfefalles abgelehnt hat, rechtfertigt nicht die Weiterführung der Inobhutnahme [6].
Die Inobhutnahme war mithin zwar ca. ab Ende 2007/Anfang 2008 rechtswidrig. Der Kläger kann die Gesetzeskonformität der Leistungsgewährung aber im Anschluss an das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.06.2006 [7] daraus herleiten, dass er als der Kostenerstattung begehrende Jugendhilfeträger vernünftigerweise nicht anders als tatsächlich geschehen handeln konnte und dies auch für den auf Erstattung in Anspruch genommenen Jugendhilfeträger, also die Beklagte gilt.
Nicht zweifelhaft ist, dass auch ab Anfang 2008 ein jugendhilferechtlicher Bedarf bestanden hat, dem mit einer Anschlusshilfe zu begegnen war. Auch ist anzunehmen, dass Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 34 SGB VIII in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) im SPZ, für die die Beklagte – wie schon ausgeführt – nach § 86 Abs. 2 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 SGB VIII örtlich zuständig war, hätte gewährt werden müssen und nicht eine Hilfe nach § 19 SGB VIII. Nach dieser Vorschrift sollen Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter 6 Jahren zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen. Leistungsberechtigt ist ein Elternteil, wenn ihm die tatsächliche Personensorge rechtlich zusteht; dies ist gem. § 1673 Abs. 2 Satz 1 BGB der Fall bei einer minderjährigen unverheirateten Mutter [8]. Diese Voraussetzungen lagen bei der am 12.11.1991 geborenen C. und ihrer am 05.01.2007 geborenen Tochter vor. Auch spricht viel dafür, dass C. gerade im Hinblick auf ihr Alter – zum Zeitpunkt des Beginns der Leistung war sie noch nicht einmal 16 Jahre alt – der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung ihres Kindes durch Betreuung in einer geeigneten Wohnform bedurfte. Liegt aber neben dem Entwicklungsdefizit der Mutter, welches Voraussetzung für die Gewährung einer Leistung nach § 19 SGB VIII ist, außerdem bei ihr ein (passives) Erziehungsdefizit i.S. von § 27 SGB VIII vor [9], so ist nur Hilfe zur Erziehung zu gewähren. Die Gewährung einer Hilfe nach § 19 SGB VIII ist dann ausgeschlossen [10]. Dies folgt insbesondere aus § 27 Abs. 4 SGB VIII. Danach umfasst die Hilfe zur Erziehung, wenn ein Kind oder eine Jugendliche während ihres Aufenthaltes in einer Einrichtung oder in einer Pflegefamilie selbst Mutter eines Kindes wird, auch die Unterstützung bei der Pflege und Erziehung dieses Kindes. Diese Vorschrift wurde durch das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz [11] eingefügt. In der Begründung zum Gesetzentwurf (BT.Drs. 15/5616, S. 25 f.) heißt es, in der Praxis ergäben sich Zuordnungsprobleme, wenn ein junges Mädchen, das Hilfe zur Erziehung erhält, selbst Mutter eines Kindes wird. Diese Situation sei bislang nicht ausreichend im Gesetz berücksichtigt. Die von der Rechtsprechung als speziell erachtete Anwendung des § 19 SGB VIII berücksichtige nicht den nunmehr sogar verstärkt bestehenden Bedarf nach Hilfe zur Erziehung. Dies habe gravierende Auswirkungen auf die einzelnen Leistungen, auf die die junge Mutter einen Anspruch habe. So könnten im Rahmen von Hilfe zur Erziehung auch pädagogische und therapeutische Leistungen erbracht werden. Dies sei in § 19 SGB VIII nicht vorgesehen. Gleichzeitig werde ein Mädchen/eine junge Frau benachteiligt, indem es/sie nur noch Unterstützung für seine/ihre Rolle als Mutter erhalte und seine/ihre individuelle Entwicklung nicht ausreichend gefördert werde. Die Neuregelung in Abs. 4 beseitige diese Ungleichbehandlung und stelle klar, dass in diesen Fällen Hilfe zur Erziehung auch die Unterstützung der Mutter als Leistungsempfängerin bei der Pflege und Erziehung des Kindes umfasse. Damit sei gewährleistet, dass sie die ihrem Bedarf entsprechende Hilfe erhalte und das neugeborene Kind in die Leistung einbezogen werde.
Daraus folgt, dass der zur früheren Gesetzeslage vertretenen Auffassung, wonach § 19 SGB VIII gegenüber §§ 27, 34 SGB VIII die speziellere Rechtsgrundlage darstelle [12], nicht (mehr) gefolgt werden kann. Nach dem Wortlaut des § 27 Abs. 4 SGB VIII kommt Hilfe zur Erziehung zwar nur in Betracht, wenn das Kind während der Heimerziehung der Mutter geboren wird. Nach dem – in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gekommenen – Sinn und Zweck der Vorschrift muss § 27 SGB VIII aber auch Anwendung finden, wenn das Kind bereits vor Beginn der Leistung geboren worden ist und ein über den nach § 19 SGB VIII hinausgehender (Erziehungs-)Hilfebedarf für die (junge) Mutter erst nach der Geburt ihres Kindes festgestellt wird [13]. Es ist kein Grund dafür erkennbar, in solchen Fällen den weitergehenden Erziehungsbedarf auszuklammern und ausschließlich Hilfe nach § 19 SGB VIII zu gewähren.
Verwaltungsgericht Freiburg, Urteil vom 24. April 2012 – 3 K 2715/10
- vgl. BVerwG, Urteil vom 29.06.2006 – 5 C 24.05, BVerwGE 126, 201[↩]
- vgl. BVerwG, Urteil vom 08.07.2004 – 5 C 63.03, FEVS 57, 1; Beschluss vom 29.11.2006 – 5 B 107.06; Beschluss vom 08.02.2007 – 5 B 100.06; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19.08.2003 – 9 S 2398/02, NDV-RD 2004, 68[↩]
- vgl. OVG NRW, Beschluss vom 24.05.2011 – 12 A 2844/10[↩]
- vgl. BVerwG, Urteil vom 08.07.2004, a.a.O.[↩]
- vgl. Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 3. Aufl. 2006, § 42, Rn. 42[↩]
- vgl. BayVGH, Beschluss vom 27.05.2011 – 12 CE 11.893, BayVBl 2012, 182[↩]
- BVerwG, Urteil vom 29.06.2006, a.a.O.[↩]
- vgl. OVG NRW, Urteil vom 26.04.2004 – 12 A 2434/02; Kunkel in LPK-SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 19, Rn. 1[↩]
- vgl. zu diesen Begriffen Jans/Happe/Sauerbier, Kinder- und Jugendhilferecht, Band 1, § 19, Rn. 16[↩]
- vgl. LPK-SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 27, Rn. 41[↩]
- Gesetz vom 08.09.2005, BGBl. I, S. 2729 – KICK -[↩]
- vgl. OVG NRW, Urteil vom 26.04.2004, a.a.O., offen gelassen durch BVerwG, Beschluss vom 22.06.2005 – 5 B 69.04, FEVS 57, 490[↩]
- vgl. Wiesner, SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 19, Rn. 16[↩]