Auch wenn ein Unionsbürger seine Tätigkeit in der Prostitution willentlich aufgibt, liegt keine freiwillige Aufgabe einer Erwerbstätigkeit im Sinne von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU vor, die zu einem Fortfall des Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU und einem Leistungsausschuss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II führt. Eine Arbeit in der Prostitution ist stets unzumutbar im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB II und kann wegen dieser Unzumutbarkeit jederzeit aufgegeben werden, ohne dass es sich um eine freiwillige Aufgabe im Sinne von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU handelt.

Einer aus einem anderen EU-Mitgliedsstaat stammenden Prostituierten, die ihr Gewerbe selbst aufgegeben hat, stehen mithin die Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (ALG II) zu.
Das Erbringen sexueller Dienstleistungen kann als selbständige Tätigkeit ein EU-Aufenthaltsrecht in Deutschland vermitteln. Es berührt jedoch in besonderer Weise die Intimsphäre und damit die Menschenwürde der Prostituierten und ist grundsätzlich unzumutbar. Das Aufgeben der Prostitution stellt deshalb keine freiwillige, selbstverschuldete Beendigung der Erwerbstätigkeit im Sinne der Vorschriften zum EU-Freizügigkeitsrecht dar. Die 32jährige bulgarische Bulgarin behält aus diesem Grunde ihr Aufenthaltsrecht als ehemalige Selbständige, obwohl sie ihre Tätigkeit bewusst aufgegeben hat. Sie hat damit weiterhin Zugang zu Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Bürgerinnen und Bürger aus der Europäischen Union dürfen sich zwar zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten. Sie sind jedoch von Jobcenter-Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht nur auf diese Arbeitsuche stützt. Wer hingegen als Arbeitnehmer oder Selbständiger aufenthaltsberechtigt ist, kann aufstockend Leistungen beziehen. Das Aufenthaltsrecht besteht auch nach Beendigung der Tätigkeit fort, sofern die Arbeitslosigkeit unfreiwillig eingetreten ist bzw. die Beendigung der selbständigen Tätigkeit auf Umständen beruht, die die selbständige Person nicht maßgeblich beeinflussen kann und die es ihr unmöglich oder unzumutbar machen, die Tätigkeit fortzuführen. Vor diesem Hintergrund kommt es vor den Sozialgerichten immer wieder zum Streit zwischen Jobcentern und Personen aus der EU um Umfang und Ausgestaltung von Arbeitsverhältnissen und selbständigen Tätigkeiten und um die Umstände, die zu deren Ende geführt haben.
In dem hier vom Sozialgericht Berlin entschiedenen hatte eine 1990 geborene Bulgarin geklagt, die 2014 nach Berlin kam und hier steuerlich gemeldet auf dem Straßenstrich als selbständige Prostituierte tätig war. Im Juli 2019 gab sie die Tätigkeit auf, da sie mit ihrem zweiten Kind schwanger war und die Tätigkeit für sich als nicht mehr zumutbar empfand. Bis September 2020 bezog sie Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes vom beklagten Jobcenter Berlin-Lichtenberg. Eine Weiterbewilligung lehnte das Jobcenter mit der Begründung ab, die Bulgarin habe nur noch ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche und sei deshalb vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Es fehle insbesondere an einer unfreiwilligen Arbeitsaufgabe, da sie sich bewusst und freiwillig entschieden habe, sich beruflich neu zu orientieren.
Auf die von der Ex-Prostituierte hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Berlin das Jobcenter erurteilt, der Bulgarin und ihren beiden 2008 und 2020 geborenen Kindern für Oktober 2020 bis Mai 2022 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu gewähren:
Als EU-Bürgerin habe die Bulgarin durch ihre selbständige Tätigkeit als Prostituierte ein Aufenthaltsrecht in Deutschland erworben. Dieses habe auch nach Beendigung der Tätigkeit fortbestanden, da diese unfreiwillig erfolgt sei. Es könne objektiv keinem Menschen zugemutet werden, sich unter den Bedingungen des Berliner Straßenstrichs zu prostituieren. Doch auch generell sei die willentliche Beendigung der Prostitution keine freiwillige Aufgabe der Erwerbstätigkeit. Das Erbringen sexueller Dienstleistungen berühre die Intimsphäre und die Menschenwürde der betroffenen Person in besonderer Weise. Aus der staatlichen Schutzpflicht für die Menschenwürde folge, dass Prostitution als unzumutbar anzusehen sei und von der betroffenen Person nicht ausgeübt werden müsse, um die Hilfebedürftigkeit zu verringern. Beende ein Unionsbürger seine Tätigkeit in der Prostitution, weil er die Tätigkeit als nicht zumutbar empfindet, beruhe die Aufgabe der Tätigkeit auf der Unzumutbarkeit der Prostitution an sich und damit auf Umständen, die er nicht zu vertreten habe. Dem lasse sich nicht entgegenhalten, dass die betreffende Person die Arbeit zuvor ausgeübt habe. Eine objektiv unzumutbare Arbeit, deren Ausübung der Staat von niemandem verlangen kann, werde nicht deshalb zumutbar, weil die Person sie zeitweise ertragen hat. Wegen des fortwirkenden Aufenthaltsrechts aus ihrer ehemaligen selbständigen Tätigkeit hat die Bulgarin nicht nur ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche. Sie und ihre Kinder sind deshalb auch nicht von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ausgeschlossen.
Entgegen der Auffassung des Jobcenters sind die Ex-Prostituierte und ihre Kinder nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (vorliegend anwendbar in der Fassung vom 30.11.2019 für den Zeitraum von Oktober 2020 bis einschließlich Dezember 2020 sowie in der Fassung vom 09.12.2020 für den Zeitraum von Januar 2021 bis einschließlich Mai 2022) von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen. Danach sind insbesondere Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht haben oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen. Die Bulgarin hat jedenfalls durch ihre selbständige Tätigkeit als Prostituierten in den Jahren 2017 bis Juli 2019 ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 i.V.m Abs. 1 FreizügG/EU erlangt, das nach der Vorschrift des § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU fortdauert:
Nach § 2 Abs. 2 i.V.m Abs. 1 FreizügG/EU haben niedergelassene selbständige erwerbstätige Unionsbürger und ihre Familienangehörige das Recht auf Einreise und Aufenthalt.
Die Bulgarin ist als bulgarische Staatsangehörige eine Unionsbürgerin im Sinne von § 1 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU und damit Unionsbürgerin im Sinne von § 2 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU.
Die Bulgarin war ferner jedenfalls im Zeitraum von 2017 bis Juli 2019 als Selbständige i.S.vom § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU tätig. Eine Tätigkeit als Selbständiger ist eine wirtschaftliche Erwerbstätigkeit, die eigenverantwortlich und auf eigenes Risiko ausgeübt wird. Die Tätigkeit muss entgeltlich erbracht werden und eine Teilnahme am Wirtschaftsleben darstellen. Notwendig ist eine ernsthafte Gewinnerzielungsabsicht. Wie bei Arbeitnehmern scheiden unwesentliche bzw. vollkommen untergeordnete Erwerbstätigkeiten aus. Eine tatsächlich existenzsichernde Tätigkeit ist indes nicht erforderlich1.
Vorliegend war die Bulgarin jedenfalls im Zeitraum von Januar 2017 bis Juli 2019 eigenverantwortlich und auf eigenes Risiko als Prostituierte tätig; Anhaltpunkte für eine abhängige Beschäftigung bestehen nicht. Es handelt sich um eine entgeltliche Tätigkeit, die die Bulgarin im genannten Zeitraum mit Gewinnerzielungsabsicht ausgeübt hat. Die Bulgarin hat durch die Vorlage von Steuerbescheiden für den genannten Zeitraum belegt, dass es sich bei der Tätigkeit im genannten Zeitraum nicht um eine nur unwesentliche bzw. vollkommen untergeordnete Erwerbstätigkeit handelte. Die Bulgarin hat in den Jahren 2017 bis 2019 typischerweise mehrmals pro Woche für mehrere Stunden von nachmittags bis abends gearbeitet. Sie hat dadurch – ausweislich der von ihr eingereichten Steuerunterlagen – im Jahr 2017 zumindest durchschnittlich ca. 270 Euro pro Monat, im Jahr 2018 zumindest durchschnittlich ca. 330 Euro pro Monat und im ersten Halbjahr 2019 durchschnittlich ca. 170 Euro pro Monat erwirtschaftet. Eine Tätigkeit in diesem Umfang ist nach Auffassung des Gerichts nicht so unwesentlich oder untergeordnet, dass sie zu vernachlässigen wäre. Das Gericht geht insofern davon aus, dass die Grundsätze der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundessozialgerichts zum Vorliegen einer unwesentlichen Erwerbstätigkeit von abhängig Beschäftigten auf selbständig Tätige entsprechend angewendet werden können. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH hat das BSG eine abhängige Tätigkeit mit einer Entlohnung von monatlich 100 Euro als die Arbeitnehmereigenschaft begründend angesehen2. Das LSG Sachsen hat im Anschluss daran eine Tätigkeit von fünf Stunden im Monat mit einer Entlohnung von monatlich 100 Euro als die Arbeitnehmereigenschaft begründend angesehen3; das LSG Berlin Brandenburg hat eine Tätigkeit im Umfang von fünf Wochenstunden bei einem monatlichen Entgelt von 180 Euro ausreichen lassen4. Das Gericht sieht keinen Grund von der wiedergegebenen Rechtsprechung abzuweichen und strengere Maßstäbe für das Vorliegen einer nicht nur unwesentlichen selbständigen Tätigkeit anzuwenden.
Ferner unterliegt es – spätestens nach der Legalisierung der Prostitution durch das Gesetz zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (Prostituiertenschutzgesetz – ProstSchutzG)5 – keinem Zweifel, dass auch die selbständige Tätigkeit als Prostituierte dem Grunde nach eine selbständige Tätigkeit im Sinne § 2 Abs. 2 FreizügG/EU sein kann, die ein Aufenthaltsrecht vermittelt6. Der Annahme einer niedergelassenen selbständigen Tätigkeit im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 SGB II steht nicht entgegen, dass die Bulgarin die selbständige Tätigkeit nicht durchgehend in einer festen Betriebsstätte ausgeübt hat, sondern in den Jahren 2017 und 2019 überwiegend auf dem Straßenstrich tätig war. Das Erfordernis einer festen Einrichtung im Aufnahmestaat dient in erster Linie der Abgrenzung der Niederlassungs- von der Dienstleistungsfreiheit und ist deshalb von untergeordneter Bedeutung, wenn die Tätigkeit ihrer Art nach nicht in einer festen Betriebsstätte ausgeübt wird, wie das bei der Straßenprostitution der Fall ist. Es ist insofern hinreichend, wenn die Tätigkeit über Jahre ausschließlich im Inland ausgeübt wird und sich die Betroffene im Inland angesiedelt hat7.
Die Bulgarin hat somit durch ihre selbständige Tätigkeit als Prostituierte in den Jahren 2017 bis Juli 2017 ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 i.V.m Abs. 1 FreizügG/EU erworben.
Das Aufenthaltsrecht der Bulgarin aufgrund ihrer selbständigen Tätigkeit bestand im streitgegenständlichen Zeitraum von Oktober 2020 bis einschließlich Mai 2022 nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU fort. Danach bleibt das Freizügigkeitsrecht für selbständig Erwerbstätige bei Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einen Jahr Tätigkeit unberührt.
Das Gericht ist zunächst davon überzeugt, dass die Bulgarin ihre selbständige Tätigkeit als Prostituierte jedenfalls in den Jahren von 2017 bis Juli 2019 ohne wesentliche Unterbrechungen und damit mehr als ein Jahr lang ausgeübt hat. Dies schließt das Gericht aus den Steuerbescheiden der Bulgarin für die Jahren 2017 bis 2019 sowie der detaillierten und glaubhaften Erklärung der Bulgarin in der mündlichen Verhandlung. Das Gericht geht insofern davon aus, dass die Bulgarin in den Jahren 2017 und 2018 jeweils nur vorübergehend besuchsweise in Bulgarien war, um sich von ihrer Tätigkeit als Prostituierten zu erholen. Trotz der urlaubsähnlichen Unterbrechungen ist von einer durchgehenden selbständigen Tätigkeit als Prostituierte auszugehen.
Das Gericht geht – anders als das Jobcenter – ferner davon aus, dass die Bulgarin die mehr als einjährige Tätigkeit als Prostituierte im Sinne von § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU infolge von Umständen aufgegeben hat, auf die sie als Selbständige keinen Einfluss hatte.
Wie sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt, liegt eine unfreiwillige Aufgabe der selbständigen Tätigkeit in diesem Sinne vor, wenn die Selbständigkeit aufgrund von Umständen aufgegeben wird, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte. Entgegen der Auffassung des Jobcenters kommt es insofern nicht darauf an, ob die Beendigung der Tätigkeit auf einer bewussten und willentlichen Entscheidung beruht; dies wird bei der Beendigung einer selbständigen Tätigkeit in aller Regel der Fall sein. Maßgeblich ist vielmehr, ob die selbständig tätige Person die Beendigung der selbständigen Tätigkeit zu vertreten hat oder ob die Beendigung auf Umständen beruht, die die Person nicht maßgeblich beeinflussen kann und die es für den Selbständigen unmöglich oder unzumutbar machen, seine Tätigkeit fortzuführen8.
Vorliegend ist das Gericht überzeugt, dass die Bulgarin die Gründe für die Beendigung ihrer selbständigen Tätigkeit als Prostituierte nicht zu vertreten hat. Die Beendigung ihrer Tätigkeit beruhte vielmehr auf den objektiv unzumutbaren Umständen der prekären Armutsprostitution, die die Bulgarin in den Jahren 2017 bis Juni 2019 ausgeübt hat. Das Gericht hält es für nicht weniger als offensichtlich, dass es objektiv keinem Menschen zugemutet werden kann, sich unter den Bedingungen des Berliner Straßenstrichs zu prostituieren.
Aber auch unabhängig von den konkreten Umständen der Ausübung der Prostitution im vorliegenden Einzelfall ist das Gericht der Auffassung, dass die willentliche Beendigung der Prostitution generell keine freiwillige Aufgabe der Erwerbstätigkeit im Sinne von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU ist, die einen Fortfall des Aufenthaltsrechts und damit der Sozialleistungsberechtigung nach sich zieht:
Eine Tätigkeit in der Prostitution ist nicht mit einer gewöhnlichen Erwerbstätigkeit vergleichbar. Das Erbringen sexueller Dienstleistungen berührt die Intimsphäre und damit die Menschenwürde der betroffenen Personen in besonders starker Weise. Gemäß Art. 1 Abs. 1 GG ist die Würde des Menschen unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Die Garantie der Menschenwürde legt gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG der gesamten „staatliche Gewalt“ Schutzpflichten auf, also neben der Gesetzgebung, auch der Rechtsprechung und der vollziehenden Gewalt. Auch das Jobcenter ist somit zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet.
Aus der Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde folgt zunächst, dass der Staat keine Arbeitsvermittlung in die Prostitution vornehmen darf. Eine Arbeitsvermittlung in die Prostitution, die mit der entgeltlichen Vornahme sexueller Handlungen oder anderer Dienstleistungen mit eindeutig sexuellem Bezug verbunden ist, beraubt den Anbietenden, auch wenn er nicht zur Leistung verpflichtet ist, seiner Subjektqualität und der Freiheit in seiner Intimsphäre und ist deshalb mit dem Schutz aus Art. 1 Abs. 1 GG und auch Art. 2 Abs. 1 GG unvereinbar9.
Aus der staatlichen Schutzpflicht für die Menschenwürde folgt zudem, dass eine Arbeit in der Prostitution im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB II als unzumutbar anzusehen ist und von der betreffenden Person nicht ausgeübt werden muss, um ihre Hilfebedürftigkeit zu verringern. Es würde gegen die Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde verstoßen, wenn der Staat Hilfebedürftige dazu zwingt, sexuelle Dienstleistungen erbringen zu müssen, um Einkommen zur Verringerung oder Beendigung ihrer Hilfebedürftigkeit zu erzielen10. Eine im Sinne von § 10 Abs. 1 SGB II unzumutbare Tätigkeit darf die betreffende Person aber wegen der Unzumutbarkeit jederzeit aufgeben, ohne dass dies eine freiwillige Arbeitsaufgabe im Sinne von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU darstellen würde. Beendet ein Unionsbürger seine Tätigkeit in der Prostitution, weil er oder sie die Tätigkeit als nicht mehr zumutbar empfindet, beruht die Aufgabe der Tätigkeit vielmehr auf der Unzumutbarkeit der Prostitution an sich und damit auf Umständen, die die Person nicht zu vertreten hat.
Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass die betreffende Person die Arbeit zuvor ausgeübt hat. Eine objektiv unzumutbare Arbeit, deren Ausübung der Staat von niemandem verlangen kann, wird nicht deshalb zumutbar, weil die Person die Arbeit zeitweise ertragen hat. Die Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde gilt objektiv und ist unabhängig von einem etwaigen Verzicht einzelner Arbeitssuchender auf die entsprechende Schutzwirkung11.
Im Ergebnis folgt daher aus der Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde, dass der Staat die weitere Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger nicht daran knüpfen darf, dass eine Tätigkeit in der Prostitution weiterhin ausgeübt werden muss. Anderenfalls würden Menschen wegen entfallender Sozialleistungen mittelbar gezwungen, weiterhin gegen ihren Willen in der Prostitution arbeiten zu müssen, statt sich aus diesem Gewerbe lösen zu können.
Entgegen der Auffassung des Jobcenters ist eine Bescheinigung der Unfreiwilligkeit der Arbeitsaufgabe durch die Bundesagentur für Arbeit bei einem Selbständigen generell nicht erforderlich. Insofern ergibt sich schon aus dem Wortlaut von § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU, dass eine solche Bescheinigung nur bei der Arbeitslosigkeit eines Arbeitnehmers, nicht aber bei der Arbeitsaufgabe durch einen Selbständigen erforderlich ist12.
Eine zeitliche Befristung des fortwirkenden Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU sieht das Gesetz nicht vor; eine solche Befristung ergibt sich auch aus anderen Erwägungen nicht13.
Insgesamt ist daher für den streitgegenständlichen Zeitraum von einem fortwirkenden Aufenthaltsrecht der Bulgarin gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU auszugehen. Die beiden in den Jahre 2008 und 2020 geborenen Söhne der Bulgarin sind als Familienangehörige nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 c)) FreizügG/EU (Verwandte in gerader absteigender Linie unter 21 Jahre) ebenfalls nach § 3 Abs. 1 FreizügG/EU aufenthaltsberechtigt, da sie zusammen mit ihrer Mutter, der Bulgarin, leben und insofern ein Aufenthaltsrecht von der Bulgarin ableiten können.
Die Voraussetzungen der Anspruchsgrundlage der §§ 7 Abs. 1 und Abs. 2, 8 ff., 19 ff. SGB II sind im Übrigen erfüllt:
Die Bulgarin hat einen Anspruch als erwerbsfähige Leistungsberechtigte nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Sie ist im Jahr 1990 geboren und gehört daher zum Kreis der Berechtigten im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II. Sie hatte im streitgegenständlichen Zeitraum ferner gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB II ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und war erwerbsfähig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II in Verbindung mit § 8 SGB II. Anderweitige bindende Feststellungen liegen für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht vor.
Die beiden Kinder. haben einen Anspruch auf Leistungen nach § 7 Abs. 2 S. 1 SGB II, § 19 Abs. 1 S. 2 SGB II, da sie mit der Bulgarin in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II gehören zur Bedarfsgemeinschaft auch die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder eines erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, wenn das Kind das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit es die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen kann. Die beiden Kinder sind die Kinder der Bulgarin, unter 25. Jahre alt, nicht verheiratet und leben im Haushalt ihrer Mutter.
Die waren ferner während des gesamten streitgegenständlichen Zeitraums von Oktober 2020 bis einschließlich Main 2022 hilfebedürftig im Sinne von § 9 Abs. 1 SGB II, da sie ihren Lebensunterhalt nicht durch zu berücksichtigendes Einkommen oder Vermögen sichern konnten:
Für die Bulgarin war durchgehend der Regelbedarf für Alleinstehende gem. § 20 Abs. 2 S. 1 SGB II, für die beiden Kinder waren die Regelbedarfe gem. § 23 Nr. 1 SGB II zu berücksichtigen, ferner für die Bulgarin ein Mehrbedarf wegen Alleinerziehung nach § 21 Abs. 3 Nr. 2 SGB II. Für die waren ferner laufende Bedarfe für Kosten der Unterkunft und Heizung gem. § 22 Abs. 1 SGB II zu berücksichtigen, die nach dem Kopfteilsprinzip zu gleichen Teilen auf die aufzuteilen waren. Es sind keine Gründe vorgetragen oder ersichtlich, aus denen das Jobcenter nicht verpflichtet war, die laufenden Kosten der Unterkunft und Heizung für die Wohnung der in tatsächlicher Höhe zu übernehmen, die sich im Zeitraum von Oktober 2020 bis einschließlich November 2021 auf insgesamt 653,86 Euro und im Zeitraum von Dezember 2021 bis einschließlich Mai 2022 auf insgesamt 836,90 Euro pro Monat beliefen. Zusätzlich fielen im Monat Dezember 2021 weitere Kosten der Unterkunft und Heizung aufgrund der Nebenkostennachforderung des Vermieters in Höhe von 1.642,20 Euro an. Eine Nebenkostennachforderung stellt einen zusätzlichen Bedarf gem. § 22 Abs. 1 SGB II dar, der im Monat der Fälligkeit zu dem regulären, monatlichen Unterkunfts- und Heizkostenbedarf hinzutritt14.
Die sich daraus ergebenden monatlichen Bedarfe (in der Größenordnung von insgesamt 1.799,38 € im Monat Oktober 2020 bis zu 2.043,54 € im Monat Mai 2022) konnten die in keinem Monat auch nur annähernd durch das von ihnen erzielte Einkommen decken, so dass die in jedem Monat des streitgegenständlichen Zeitraums hilfebedürftig waren. Die Bulgarin bezog nach der Geburt des dritten Kindes für den Zeitraum vom September 2020 bis Juni 2021 Elterngeld in Höhe von 300 Euro pro Monat. Ferner erhielt die Bulgarin im streitgegenständlichen Zeitraum für die beiden Kinder Kindergeld in gesetzlicher Höhe (von zusammen 408 € im Monat Oktober 2022 bis zusammen 438 € im Monat Mai 2022). Über weiteres anrechenbares Einkommen oder Vermögen verfügten die im streitgegenständlichen Zeitraum nach Überzeugung des Gerichts nicht, wie sich insbesondere aus den von der Bulgarin eingereichten Kontoauszügen und ihren Erläuterungen im Klageverfahren und in der mündlichen Verhandlung ergibt. Daraus folgt mit der für den Erlass eines Grundurteils hinreichenden Sicherheit für jeden Monat des streitgegenständlichen Zeitraums die Hilfebedürftigkeit der Familie.
Sozialgericht Berlin, Urteil vom 15. Juni 2022 – S 134 AS 8396/20
- so zutreffend Leopold in: Schlegel/Voelzke,PK-SGB II, 5. Aufl., Stand: 29.11.2021, § 7 Rn. 103 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung[↩]
- BSG vom19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R, Rn. 3 und 18[↩]
- LSG Sachsen vom 31.01.2013 – L 7 AS 964/12 B ER, Rn. 30[↩]
- LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.02.2017 – L 18 AS 2884/16, Rn. 18[↩]
- vom 21.10.2016, BGBl. I S. 2372[↩]
- so zutreffend Hess. LAG vom 21.08.2020 – L 6 AS 383/20 B ER, Rn. 28 mit weiteren Nachweisen[↩]
- so zutreffend Hes. LSG, Beschluss vom 21.08.2020 – L 6 AS 383/20 B ER, Rn. 29 mit weiteren Nachweisen[↩]
- vgl. Nr. 2.3.1.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum FreizügG/EU vom 03.02.2016 sowie Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 33. Edition, Stand 01.10.2021 mit weiteren Nachweisen[↩]
- so zutreffend BSG, vom 06.05.2009 – B 11 AL 11/08 R, Rn. 23[↩]
- so zutreffend Böttiger in: Eicher, SGB II, 5. Aufl.2020, § 10 Rn. 88 und 93 mit weiteren Nachweisen[↩]
- so zutreffend BSG vom 06.05.2009 – B 11 AL 11/08 R, Rn. 25[↩]
- so auch LSG Bayern, Urteil vom 26.02.2019 – L 11 AS 899/18, Rn. 32; ebenso Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht 13. Aufl.2020, FreizügG/EU § 2[↩]
- so bereits BayLSG, Urteil vom 26.02.2019 – L 11 AS 899/18, Rn. 23 ff.[↩]
- vgl. BSG vom 22.03.2010, B 4 AS 62/09 R, Rn. 16 sowie vom 06.04.2011, B 4 AS 12/10 R, Rn. 14 ff.[↩]