Die Rückforderung von Grundsicherungsleistungen wegen sozialwidrigen Verhaltens kann gegen das Übermaßverbot verstoßen.

In dem hier vom Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen entschiedenen Fall hatte ein heute 28jähriger, ungelernter Langzeitarbeitsloser geklagt, der langjährig Grundsicherungsleitungen bezieht. Im Jahre 2012 verlor er seinen Ausbildungsplatz wegen wiederholten, unentschuldigten Fehlens am Arbeitsplatz. Zeitnah verhängte das Jobcenter wegen des Ausbildungsabbruchs eine 30%-Sanktion. Darüber hinaus verlangte es in der Folgezeit die Rückzahlung der über mehrere Jahre gewährten Grundsicherungsleistungen von rd. 51.000 €. Da er seine Hilfebedürftigkeit grob fahrlässig herbeigeführt habe, müsse er die deshalb gezahlten Leistungen wegen sozialwidrigen Verhaltens erstatten. Mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung als Elektroniker hätte er sehr gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt gehabt.
Hiergegen ging der Mann vor. Nach seiner Ansicht könne sein damaliges Verhalten nicht mehr als Ursache seiner jetzigen Hilfebedürftigkeit gewertet werden.
Anders als erstinstanzlich noch das Sozialgericht Braunschweig1 hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen die Rechtsauffassung des 28-Jährigen bestätigt: Zwar stelle der Ausbildungsabbruch ein sozialwidriges Verhalten dar, jedoch sei er nach mehr als 3 ½ Jahren nicht mehr kausal für den Leistungsbezug. Denn der weitere berufliche Werdegang nach Abbruch der ersten Berufsausbildung sei spekulativ. Bei einem unkooperativen, schwer vermittelbaren Arbeitslosen fehlten konkrete Anhaltspunkte für die Annahme, dass er mit einem regulären Berufsabschluss durchgängig gearbeitet hätte. Zudem hat das Gericht zugunsten des Grundsicherungsbeziehers einen Härtefall angenommen. Es widerspreche dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Grundsatz des Forderns und Förderns, wenn eine typische „Jugendsünde“ eines damals 20jährigen zu erheblichen Ersatzansprüchen führe, die jegliche Erwerbsperspektive zerstörten. Ausbildungsabbrüche seien bei jungen Menschen ein weit verbreitetes Phänomen, das Außenstehende als unklug, überstürzt oder irrational erkennen, während die Betroffenen diese Einsicht in aller Regel erst in späteren Lebensphasen gewinnen würden.
Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist derjenige zum Ersatz der deswegen erbrachten Geld- und Sachleistungen verpflichtet, der nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von SGB II-Leistungen an sich oder an Personen, die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat. Als Herbeiführung i.S.d. § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II gilt auch, wenn durch das sozialwidrige Verhalten die Hilfebedürftigkeit erhöht, aufrechterhalten oder nicht verringert wurde (§ 34 Abs. 1 Satz 2 SGB II).
Der Ersatzanspruch nach § 34 SGB II knüpft ausweislich der amtlichen Überschrift dieser Norm an ein sozialwidriges Verhalten des Leistungsempfängers an2. Somit ist für einen Ersatzanspruch nach § 34 SGB II erforderlich, dass der Betreffende – im Sinne eines objektiven Unwerturteils – in zu missbilligender Weise sich selbst oder seine unterhaltsberechtigten Angehörigen in die Lage gebracht hat, existenzsichernde Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen3. Nach der Rechtsprechung des BSG, der sich der erkennende Landessozialgericht anschließt, handelt es sich bei der Ersatzpflicht nach § 34 SGB II um einen engen und deliktsähnlichen Ausnahmetatbestand4.
Es ist nicht zu beanstanden, dass das Jobcenter entsprechend dem Grundlagenbescheid vom 27.05.2013 den vorzeitigen Ausbildungsabbruch als sozialwidriges Verhaltens i.S.d. § 34 SGB II wertet. Schließlich war mit diesem bestandskräftig gewordenen Bescheid festgestellt worden, dass das Verhalten des Grundsicherungsbeziehers, welches im Frühjahr 2012 zur fristlosen Kündigung seines Ausbildungsverhältnisses geführt hatte, als sozialwidrig i.S.d. § 34 SGB II anzusehen ist5. Im Rahmen der rechtlichen Überprüfung der anknüpfend an einen solchen Grundlagenbescheid ergehenden Folgebescheide (hier: Bescheide über die Feststellung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen vom 26.04.2016, 1.06.2017, 16.05.2018, 20.08.2018, 18.12.2018 und 28.11.2019) ist der bestandskräftige Grundlagenbescheid nicht mehr materiellrechtlich zu überprüfen; vielmehr ist er inhaltlich bindend6.
Das SG hat sich bei seiner materiellrechtlichen Prüfung somit zutreffend darauf beschränkt, die vom Antrag nach § 44 SGB X erfassten Bescheide nur darauf zu überprüfen, ob die nach § 34 SGB II erforderliche Kausalität zwischen dem konkret geltend gemachten Erstattungsanspruch und dem sozialwidrigen Verhalten vorlag, sowie darauf, ob die Ersatzansprüche zutreffend beziffert wurden. Da bei sozialwidrigem Verhalten i.S.d. § 34 SGB II nur die deswegen erbrachten Geld- oder Sachleistungen zu erstatten sind, muss zwischen dem sozialwidrigen Verhalten und dem eingetretenen Erfolg (Erhalt von SGB II-Leistungen) ein Kausalzusammenhang bestehen7. Maßstab hierfür ist die sozialrechtliche Theorie der wesentlichen Bedingung8.
Entgegen der Auffassung des SG und wohl auch des Jobcenters ist es nicht erst mit der mehr als sieben Jahre nach dem Ausbildungsabbruch erfolgten Aufnahme der befristeten Beschäftigung bei der Stadt H. (Beschäftigungsbeginn: 1.10.2019) zu einer Zäsur im Kausalverlauf gekommen. Vielmehr beruhte auch bereits der vorliegend streitbefangene SGB II-Leistungsbezug nicht mehr auf dem ca. 3,5 bis 7,5 Jahre vorher erfolgten Ausbildungsabbruch.
Der zum 16.03.2012 erfolgte Ausbildungsabbruch war zwar ursächlich im Sinne der sozialrechtlichen Theorie der wesentlichen Bedingung für den Wegfall des Anspruchs auf Ausbildungsvergütung für die restliche Zeit des Ausbildungsverhältnisses, also für die ca. 12,5 Monate vom 17.03.2012 bis (voraussichtlich) Ende März 2013. Dieser Zeitraum ist vorliegend jedoch überhaupt nicht streitbefangen, sondern ein mehr als 3,5 bis 7,5 Jahre späterer Zeitraum. Der Wegfall des Anspruchs auf Ausbildungsvergütung für die Zeit nach dem regulären Ausbildungsende im März 2013 beruhte nicht auf dem Ausbildungsabbruch, sondern auf der zeitlichen Begrenzung des Ausbildungsverhältnisses. Der Grundsicherungsbezieher hätte auch bei Fortführung bzw. Beendigung der Berufsausbildung im streitbefangenen Zeitraum (Dezember 2015 bis September 2019) keinen Anspruch mehr auf Ausbildungsvergütung gehabt. Eine Kausalität zwischen Ausbildungsabbruch und dem im vorliegenden Verfahren streitbefangenen SGB II-Leistungsbezug (Dezember 2015 bis September 2019) käme somit allenfalls dann in Betracht, wenn der im März 2012 erfolgte Ausbildungsabbruch auch nach Ablauf von weiteren 3,5 bis 7,5 Jahren noch weiterhin als rechtlich wesentliche Ursache für die Arbeitslosigkeit des Grundsicherungsbeziehers (und den sich daraus ergebenden Bezug von SGB II-Leistungen) anzusehen wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Annahme, dass die Beschäftigungslosigkeit des Grundsicherungsbeziehers in der Zeit von Dezember 2015 bis September 2019 (mit daraus resultierender Hilfebedürftigkeit i.S.d. SGB II) rechtlich wesentlich auf dem ca. 3,5 bis 7,5 Jahre zuvor erfolgten Ausbildungsabbruch beruhte, setzt eine Prognose der Erwerbsbiographie des zum Zeitpunkt des Ausbildungsabbruchs erst 20jährigen Grundsicherungsbeziehers voraus. Der erkennende Landessozialgericht hält jedoch jegliche Einschätzung des weiteren beruflichen Werdegangs des Grundsicherungsbeziehers, der im Heranwachsendenalter (also vor Vollendung des 21. Lebensjahres, vgl. § 1 Jugendgerichtsgesetz – JGG) seine erste Berufsausbildung abgebrochen hat, für rein spekulativ. Schließlich ergeben sich aus den dem Landessozialgericht vorliegenden Verwaltungsvorgängen erhebliche gesundheitliche Einschränkungen des Grundsicherungsbeziehers (u.a. im psychischen Bereich), die sich negativ auf die Erwerbs- und Vermittlungsfähigkeit des Grundsicherungsbeziehers ausgewirkt haben. Angesichts der Vielzahl der gegenüber dem Grundsicherungsbezieher festgestellten Sanktionen nach §§ 31 ff. SGB II (in den bis zum 31.12.2022 geltenden Fassungen) drängt sich zudem auf, dass es sich beim Grundsicherungsbezieher schon allein wegen seines Verhaltens bzw. seiner offensichtlich fehlenden Kooperationsbereitschaft um keinen leicht, sondern um einen schwer vermittelbaren jungen Arbeitslosen handelt. Hierfür spricht auch, dass es dem Jobcenter in all den Jahren des SGB II-Leistungsbezug (soweit ersichtlich praktisch durchgängig seit März 2013 bis laufend) kein einziges Mal gelungen ist, den Grundsicherungsbezieher in Ausbildung oder in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Vielmehr war der Grundsicherungsbezieher trotz des dem Jobcenter obliegenden Vermittlungsauftrags bislang nur in einer Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung (Februar 2017 bis Februar 2019) sowie in einem mit öffentlichen Mitteln geförderten Arbeitsverhältnis9 beschäftigt, ansonsten beschäftigungslos10.
Auch wenn – worauf das Jobcenter zutreffend hingewiesen hat – eine Vermittlung des Grundsicherungsbeziehers wegen des fehlenden Berufsabschlusses erschwert gewesen sein dürfte, ist dieser Aspekt im weiteren Zeitablauf immer mehr in den Hintergrund getreten. Die vom Jobcenter durchzuführenden Vermittlungsbemühungen hatten sich nach dem Ausbildungsabbruch entweder auf den ungelernten Bereich oder aber auf eine zweite Berufsausbildung des Grundsicherungsbeziehers zu richten. Gerade angesichts seines Lebensalters (zu Beginn des SGB II-Leistungsbezugs: 21 Jahre; zuvor hatte der der Grundsicherungsbezieher für ca. ein Jahr Arbeitslosengeld I bezogen) war es geboten, dem Grundsicherungsbezieher den Arbeitsmarkt durch Fördermaßnahmen zu erschließen (Grundsatz des Förderns und Forderns gemäß vgl. §§ 2, 14 SGB II; vgl. nochmals zu den besonderen Fördermaßnahmen für schwer zu erreichende junge Menschen: § 16h SGB II). Entgegen der Auffassung des Jobcenters fehlen im vorliegenden Fall hinreichend konkrete Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Grundsicherungsbezieher bei regulärem Abschluss seiner Berufsausbildung im vorliegend streitbefangenen Zeitraum (Dezember 2015 bis September 2019 – also ca. 3,5 bis ca. 7,5 Jahre später) durchgängig beschäftigt gewesen wäre und entsprechendes Erwerbseinkommen erzielt hätte. Schließlich hatte der Grundsicherungsbezieher keine unbefristete Beschäftigung aufgegeben, sondern „nur“ seine ohnehin befristete Berufsausbildung ca. ein Jahr vorher abgebrochen. Ebenso wenig kann die nahtlose Übernahme eines Auszubildenden in ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis als Normalfall oder Automatismus angesehen werden. Es ist für den Landessozialgericht nicht erkennbar, worauf das Jobcenter seine Einschätzung stützt, dass der schwer vermittelbare Grundsicherungsbezieher bei Ausbildungsabschluss entweder nahtlos von seinem Ausbildungsbetrieb unbefristet übernommen worden wäre oder sofort bei einem anderen Arbeitgeber eine unbefristete Beschäftigung im Ausbildungsberuf gefunden hätte. Rein vorsorglich weist der Landessozialgericht darauf hin, dass selbst bei Unterstellung sowohl eines erfolgreichen Abschlusses der Berufsausbildung als auch eines unmittelbar darauf folgenden frühen Berufseinstiegs gravierende Zweifel daran bestehen, dass ein etwaiges erstes Beschäftigungsverhältnis (oder aber auch ein Folgebeschäftigungsverhältnis) auch noch im streitbefangenen Zeitraum (also ca. 2,5 bis 6,5 Jahre nach regulärem Ausbildungsende) weiterhin bestanden hätte. Dies beruht einerseits auf den aus der Verwaltungsakte ersichtlichen gesundheitlichen Einschränkungen des Grundsicherungsbeziehers, vor allem aber auf den durch die vielfältigen Sanktionen dokumentierten Kooperationsdefiziten des Grundsicherungsbeziehers, die ein langjähriges, durchgängiges Beschäftigungsverhältnis als eher unwahrscheinlich erscheinen lassen. Dies belegt auch die weitere Erwerbsbiographie des Grundsicherungsbeziehers: Zwar absolvierte er von 2017 bis 2019 eine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung in einem Museum, beendete dann aber die ca. ein halbes Jahr dort aufgenommene und erneut mit Mitteln des Bundes geförderte abhängige Beschäftigung vorzeitig, nämlich auf der Grundlage eines mit seiner Arbeitgeberin geschlossenen Aufhebungsvertrags.
Unabhängig von der fehlenden Kausalität des im März 2012 erfolgten Ausbildungsabbruchs für die ca. 3,5 bis 7,5 Jahre später bestehende Hilfebedürftigkeit erweisen sich die im vorliegenden Verfahren streitbefangenen Bescheide nach § 34 SGB II auch aus Härtefallgesichtspunkten als rechtswidrig i.S.d. § 44 SGB X. Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 6 SGB II ist von der Geltendmachung eines Ersatzanspruchs nach § 34 SGB II abzusehen, soweit sie eine Härte bedeuten würden. Für das Vorliegen einer Härte i.S.d. § 34 Abs. 1 Satz 6 SGB II sind besondere Umstände erforderlich, die die Ersatzpflicht abweichend von der Regel als atypisch erscheinen lassen. Dies setzt voraus, dass im Einzelfall Umstände vorliegen, die die Geltendmachung der Ersatzpflicht auch mit Rücksicht auf den Gesetzeszweck, den Nachrang der Leistungen nach dem SGB II wiederherzustellen, als unzumutbar und unbillig erscheinen lassen11. Auch bei der Auslegung der Härtefallvorschrift in § 34 Abs. 1 Satz 6 SGB II gilt nach Überzeugung des erkennenden Landessozialgerichts, dass es sich bei § 34 SGB II um einen engen und deliktsähnlichen Ausnahmetatbestand handelt und nicht jedes vorwerfbare Verhalten, das eine Hilfebedürftigkeit oder Leistungserbringung nach dem SGB II verursacht, zur Ersatzpflicht führt. Erfasst wird vielmehr nur ein Verhalten mit spezifischem Bezug, also einem „innerem Zusammenhang“ zur Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit bzw. Leistungserbringung12.
Im vorliegenden Fall fehlt es an einem solchen spezifischen Bezug bzw. inneren Zusammenhang zwischen dem Fehlverhalten (Ausbildungsabbruch im März 2012) und der im vorliegenden Verfahren streitbefangenen Beschäftigungslosigkeit in der Zeit von Dezember 2015 bis September 2019. Schul- und Ausbildungsabbrüche sind unter Jugendlichen, Heranwachsenden (18 bis unter 21 Jahre, vgl. § 1 JGG) und sog. jungen Menschen (unter 25 Jahre – U25, vgl. zum Begriff des „jungen Menschen“ etwa: § 16h Abs. 1 SGB II) ein weit verbreitetes Phänomen. Diese Abbrüche sind oftmals nur vor dem Hintergrund des Entwicklungsstandes des jeweiligen Jugendlichen, Heranwachsenden oder jungen Menschen erklärbar oder nachvollziehbar. Während außenstehende Dritte derartige Schul- und Ausbildungsabbrüche bereits in der aktuellen Situation als unklug, überstürzt, verfrüht und/oder irrational erkennen, gewinnen die betroffenen Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Menschen diese Einsicht in aller Regel erst in späteren Lebensphasen, also retrospektiv. Für den Landessozialgericht sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die dem Grundsicherungsbezieher vorgeworfene „Jugendsünde“ (Ausbildungsabbruch des damals 20jährigen Grundsicherungsbezieher in einer von ihm selbst als psychisch belastend empfundenen Ausbildungssituation) aus seiner damaligen subjektiven Sicht in irgendeinem inneren Zusammenhang mit einer etwaigen Hilfebedürftigkeit in weiter Zukunft (nämlich ca. 3,5 bis 7,5 Jahre später) gestanden haben könnte. Vielmehr dürfte dem Grundsicherungsbezieher damals – entsprechend seinem Alter und seiner Lebenssituation – die Einsichtsfähigkeit zur Einschätzung etwaiger Spätfolgen seines Tuns oder Unterlassens gefehlt haben. Damit fehlt es an dem erforderlichen „inneren Zusammenhang“ zwischen dem Ausbildungsabbruch und dem im vorliegenden Verfahren streitbefangenen deutlich später erfolgten Leistungsbezug.
Zusätzlich ergibt sich eine Härte i.S.d. § 34 SGB II aus der Unverhältnismäßigkeit der Höhe der vom Jobcenter geltend gemachten Ersatzansprüche zu Art und Schwere des dem Grundsicherungsbezieher vorgeworfenen Fehlverhaltens. Dem Grundsicherungsbezieher ist letztlich lediglich eine typische „Jugendsünde“ vorzuwerfen. Derartige Jugendsünden sind gerade nicht lebenslang prägend für die Erwerbsbiographie, sondern verlieren im Laufe der weiteren Persönlichkeitsentwicklung sowie des Erwachsenwerdens nach und nach ihre Bedeutung. Neben z.B. der Pädagogik, dem Jugendstrafrecht und dem Jugendhilferecht trägt auch das Grundsicherungsrecht den Besonderheiten des Erwachsenwerdens vielfältig Rechnung (vgl. etwa: U25-Regelungen in §§ 7 Abs. 3 Nr. 4, 22 Abs. 5, 16h und 31a Abs. 2 SGB II – letztere in der bis 31.12.2022 geltenden Fassung; §§ 16k Abs. 2, 31a Abs. 6 SGB II in der seit 1.01.2023 geltenden Fassung). Diesen Sonderregelungen für Heranwachsende und sog. junge Menschen liegt der Leitgedanke zugrunde, dass etwaige für diese Lebensphase typische Jugendsünden die Lebens- und/oder Ausbildungschancen nicht nachhaltig verbauen oder zerstören sollen. Somit widerspricht es sowohl dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Übermaßverbot), den programmatischen Zielen des SGB II (Grundsatz des Forderns und Förderns, vgl. hierzu erneut: §§ 2, 14 SGB II), dem Grundsatz nach § 1 Abs. 2 Satz 4 Nr. 6 SGB II („Die Leistungen der Grundsicherung sind insbesondere darauf auszurichten, dass Anreize zur Aufnahme und Ausübung einer Erwerbstätigkeit geschaffen und aufrechterhalten werden“)) sowie § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB I ((„Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll dazu beitragen (…) gleiche Voraussetzungen für die freie Entwicklung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen zu schaffen“), wenn eine typische Jugendsünde (hier: Ausbildungsabbruch des damals 20jährigen Grundsicherungsbeziehers in einer von ihm als psychisch belastend empfundenen Ausbildungssituation) als Grundlage für eine im Grundsatz zeitlich unbeschränkte Ersatzpflicht herangezogen wird. Schließlich wird durch die im vorliegenden Verfahren streitbefangene Ersatzpflicht über mehr als 30.000,00 Euro (bzw. über mehr als 51.000,00 Euro bei Berücksichtigung auch der weiteren, im vorliegenden Verfahren jedoch nicht streitbefangenen Bescheide nach § 34 SGB II) jegliche Erwerbsperspektive des langzeitarbeitslosen, ungelernten und selbst am Ende des streitbefangenen Zeitraums erst 28jährigen Grundsicherungsbeziehers zerstört.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Erfolg des Grundsicherungsbeziehers hinsichtlich der im Tenor genannten Bescheide nach § 34 SGB II. Erfolglos geblieben ist der Grundsicherungsbezieher dagegen hinsichtlich der im Verwaltungs- sowie Klageverfahren zusätzlich zur Überprüfung nach § 44 SGB X gestellten sämtlichen Bescheide aus der Zeit vom 01.11.2019 bis zum 6.10.2020. Zu diesem weiteren Streitgegenstand hat der Grundsicherungsbezieher zu keinem Zeitpunkt des Verwaltungs, Klage- und Berufungsverfahren konkret vorgetragen. Dementsprechend sind der Wert der insoweit zusätzlich geltend gemachten SGB II-Leistungsansprüche sowie die Kostenquote nach § 193 SGG vom Landessozialgericht zu schätzen.
Landessozialgericht Niedersachsen -Bremen, Urteil vom 26. Januar 2023 – L 11 AS 346/22 –
- SG Braunschweig, Urteil vom 15.06.2022 – S 28 AS 447/21[↩]
- BSG, Urteil vom 03.09.2020 – B 14 AS 43/19 R, Rn. 10, 12[↩]
- vgl. BSG, Urteil vom 03.09.2020, a.a.O., Rn. 13[↩]
- BSG, Urteil vom 03.09.2020, a.a.O., Rn. 12 mit umfangreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung von BVerwG und BSG[↩]
- vgl. zur Zulässigkeit eines solchen isolierten Grundlagenbescheides: BSG, Urteil vom 29.08.2019 – B 14 AS 49/18 R[↩]
- vgl. etwa: BSG, Urteil vom 29.08.2019, a.a.O.[↩]
- ebenso: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 12.12.2018 – L 13 AS 137/17[↩]
- Silbermann in: Eicher/Luik, SGB II, 5. Aufl.2021, § 34 Rn. 36; Stotz in: BeckOGK [ehemals: Gagel, SGB II /SGB III], Stand 1.03.2022, § 34 SGB II Rn. 32; Merten in: BeckOK SozR, 66. Edition Stand 1.09.2022, § 34 SGB II Rn. 7; ebenso für § 34a SGB II: BSG, Urteil vom 12.05.2021 – B 4 AS 66/20 R[↩]
- ab Oktober 2019 – vorzeitiger Abbruch durch Aufhebungsvertrag bereits im April 2020[↩]
- vgl. zu den dem Jobcenter für die Förderung schwer zu erreichender junger Menschen zur Verfügung stehenden besonderen Fördermaßnahmen: § 16h SGB II[↩]
- vgl. Stotz in: BeckOGK [ehemals: Gagel, SGB II /SGB III], Stand: 1.03.2022, § 34 SGB II Rn. 59 mit zahlreichen weiteren Nachweisen[↩]
- vgl. BSG, Urteil vom 02.11.2012 – B 4 AS 39/12 R, Rn. 12, 13 und 16[↩]
Bildnachweis:
- Lohn: Peter Stanic | CC0 1.0 Universal