Kindergeld – bei fiktiv unbeschränkter Einkommensteuerpflicht eines Elternteils

Wird ein Elternteil vom Finanzamt nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt, so kann ein nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG begründeter Kindergeldanspruch über die gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 anzuwendende Familienbetrachtung auch dann dem im anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zusammen mit dem Kind wohnenden Elternteil zustehen, wenn dieser selbst im Inland keine Einkünfte erzielt hat.

Kindergeld – bei fiktiv unbeschränkter Einkommensteuerpflicht eines Elternteils

In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Streitfall wohnt die Mutter von zwei Kindern in Polen.  Im Veranlagungszeitraum 2015 wurde sie zusammen mit dem Kindsvater nach § 1 Abs. 3 EStG zur Einkommensteuer veranlagt. Am 19.10.2015 stellte die Mutter für ihre zwei Kinder einen Kindergeldantrag, auf dem der Kindsvater nicht unterschrieben hatte. Der Kindsvater ließ im Mai 2016 mitteilen, dass er erst ab Antragseingang mit einer Kindergeldgewährung zugunsten der Mutter einverstanden sei und für die Zeit davor selbst das Kindergeld begehre. Die Familienkasse lehnte den Kindergeldantrag ab, da die Mutter keine Angaben dazu gemacht habe, wann der Kindsvater den gemeinsamen Haushalt verlassen habe. 

Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage wies das Sächsische Finanzgericht hinsichtlich des Zeitraums Oktober 2015 bis September 2017 als unbegründet ab, da die Mutter in diesem Zeitraum nicht tatsächlich im Inland steuerpflichtig gewesen sei. Eine tatsächliche Besteuerung der Mutter könne auch nicht aufgrund einer zu ihren Gunsten eingreifenden Wohnsitzfiktion angenommen werden. Diese begründe kein Recht der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland), etwaiges Einkommen der Mutter in Polen tatsächlich einer Besteuerung zu unterziehen. Auf die vom Finanzgericht zugelassene Revision gab nun der Bundesfinanzhof der Mutter Recht, hob das Urteil des Sächsischen Finanzgerichts auf und verwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung zurück an das Finanzgericht; das Finanzgericht sei insoweit zu Unrecht davon ausgegangen, dass ein Kindergeldanspruch der Mutter jedenfalls deshalb ausgeschlossen sei, weil die Mutter im fraglichen Zeitraum im Inland selbst nicht einkommensteuerpflichtig war.

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Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 EStG setzt der Anspruch auf Kindergeld u.a. voraus, dass der Anspruchsteller im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird. Nach den Feststelllungen des Finanzgericht wurde die Mutter im Veranlagungszeitraum 2015 zusammen mit dem Kindsvater nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt. Im Übrigen lagen die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Satz 1 EStG nach den Feststellungen des Finanzgericht bei der in Polen wohnhaften Mutter nicht vor.

Aufgrund der Anwendung europäischen Rechts könnte im Streitfall jedoch zu fingieren sein, dass die Mutter einen Wohnsitz (§ 8 AO) oder gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) im Inland hatte oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wurde.

Nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit1 in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit2 in der für den Streitzeitraum geltenden Fassung ist bei der Anwendung von Art. 67 und Art. 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere, was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen.

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Nach dem Urteil „Trapkowski “ des Gerichtshofs der Europäischen Union3 ergibt sich aus der in diesen beiden Bestimmungen enthaltenen Fiktion, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen auch für Familienangehörige erheben kann, die in einem anderen als dem für ihre Gewährung zuständigen Mitgliedstaat wohnen. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann daher dazu führen, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind.

Die Fiktionswirkung kommt somit nicht ausschließlich in Bezug auf den im Inland lebenden Elternteil zum Tragen, sondern gilt vielmehr grundsätzlich für sämtliche „beteiligte Personen“ i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009. Zu den „beteiligten Personen“ i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gehören die „Familienangehörigen“ i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004. Da das Kindergeldrecht nach dem EStG den Begriff des Familienangehörigen weder verwendet noch definiert, sind hierunter neben den Elternteilen und dem Kind alle Personen zu verstehen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben. Daher wird hiervon nach § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG auch der andere Elternteil erfasst, wobei unerheblich ist, ob die Elternteile miteinander verheiratet oder -wie möglicherweise im Streitfall- voneinander getrennt oder geschieden sind4.

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Wie der Bundesfinanzhof bereits entschieden hat, findet die Familienbetrachtung -entgegen der Auffassung der Familienkasse- auch in dem Fall Anwendung, dass ein Elternteil im Inland zwar keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatte, aber nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wurde5.

Voraussetzung der Wohnsitzfiktion ist nach der Rechtsprechung des EuGH, dass der Mitgliedstaat, in dem der Wohnsitz des in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Familienangehörigen fingiert wird, für die Erbringung der Familienleistungen zuständig ist. Rechtsfolge der Wohnsitzfiktion ist, dass ein Anspruch, der im für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaat begründet wurde, einer Person zustehen kann, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnt. Dabei ist Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 nach dem EuGH-Urteil „Moser“6 dahin auszulegen, dass er sowohl in dem Fall Anwendung findet, dass die Leistung gemäß den als vorrangig bestimmten Rechtsvorschriften gewährt wird, als auch in jenem Fall, dass sie nach den Rechtsvorschriften eines nachrangig zuständigen Mitgliedstaats in Form eines Unterschiedsbetrags ausbezahlt wird7. Entgegen der Auffassung der Familienkasse fände die Familienbetrachtung daher auch dann Anwendung, wenn Deutschland der nachrangig zuständige Mitgliedstaat wäre.

Übertragen auf die Verhältnisse des Streitfalls ergibt sich daraus Folgendes:

Das Finanzgericht wird zunächst im zweiten Rechtsgang zu prüfen haben, ob der Kindsvater im Streitzeitraum Januar 2016 bis September 2017 die Anspruchsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 Satz 1 EStG erfüllte. Für den Fall, dass der Kindsvater wegen einer im Inland ausgeübten gewerblichen Tätigkeit nach § 1 Abs. 3 EStG behandelt wurde, wären dabei hinsichtlich der Monatsbetrachtung die Grundsätze der BFH-Entscheidung vom 14.03.20188 zu beachten. Dies gilt auch, soweit das Finanzgericht für den Veranlagungszeitraum 2015 bereits eine Behandlung der Mutter und des Kindsvaters nach § 1 Abs. 3 EStG festgestellt hat. Dabei sind die Familienkasse und das Finanzgericht nur an die Veranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG durch das Finanzamt gebunden. Die weitere Frage, in welchen Monaten die Kindsmutter (im Zeitraum Oktober bis Dezember 2015) oder der Kindsvater (im Zeitraum Oktober 2015 bis September 2017) eine inländische Tätigkeit ausgeübt haben, welche die inländische Steuerpflicht auslöst und damit das Wahlrecht nach § 1 Abs. 3 EStG erst eröffnet, hat das Finanzgericht selbstständig zu prüfen9.

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Sofern nur der Kindsvater die Anspruchsvoraussetzungen erfüllte, wäre nach den dargestellten Grundsätzen zu fingieren, dass die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Satz 1 EStG in entsprechendem Umfang auch von der Mutter erfüllt wurden.

Ergibt sich danach, dass neben dem Kindsvater auch die Mutter Berechtigte i.S. des § 64 EStG ist, so ist nach § 64 Abs. 2 und 3 EStG zu klären, welcher Elternteil vorrangig berechtigt ist.

Schließlich wäre noch festzustellen, ob dem Kindsvater selbst oder der Mutter in Polen oder einem anderen Mitgliedstaat für dieselben Kinder und dieselben Streitzeiträume Ansprüche auf Familienleistungen zustehen. Eine eventuelle Anspruchskonkurrenz wäre nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 aufzulösen.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 2. Februar 2022 – III R 7/20

  1. ABl.EU 2004 Nr. L 166, S. 1[]
  2. ABl.EU 2009 Nr. L 284, S. 1[]
  3. EuGH, Urteil „Trapkowski“ vom 22.10.2015 – C-378/14, EU:C:2015:720, Leitsatz 1 und Rz 38 und 41[]
  4. BFH, Urteil vom 27.07.2017 – III R 17/16, BFH/NV 2018, 201, Rz 13 f., m.w.N.[]
  5. BFH, Urteile vom 01.07.2020 – III R 22/19, BFHE 269, 320, BStBl II 2022, 176, Rz 11 ff.; und vom 18.02.2021 – III R 12/19, BFH/NV 2021, 940, Rz 14[]
  6. EuGH, Urteil Moser vom 18.09.2019 – C-32/18, EU:C:2019:752, Leitsatz 1 und Rz 45 ff.[]
  7. BFH, Urteil in BFHE 269, 320, BStBl II 2022, 176, Rz 14[]
  8. BFH, Urteil vom 14.03.2018 – III R 5/17, BFHE 261, 117, BStBl II 2018, 482[]
  9. BFH, Urteil vom 25.02.2021 – III R 23/20, BFH/NV 2021, 1344, Rz 29, m.w.N.[]
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