Für die Beurteilung des Merkmals „Behinderung“ i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist die in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX enthaltene Legaldefinition in der im jeweiligen Streitzeitraum geltenden Fassung maßgeblich. Der Behinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 SGB IX i.d.F. bis 31.12.2017 setzt eine für das Lebensalter untypische gesundheitliche Situation voraus, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert und kausal zu einer Teilhabebeeinträchtigung führt.

Alle drei Tatbestandsmerkmale des Behinderungsbegriffes müssen vor Vollendung der in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 2 EStG geregelten Altersgrenze eingetreten sein und zusätzlich auch während des Zeitraums bestehen, für den der Kindergeldanspruch geltend gemacht wird. Eine drohende Behinderung erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG.
Liegt bei einem Kind ein Gendefekt vor, der vor Erreichen der Altersgrenze des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 2 EStG zu keiner mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauernden Funktionsstörung und/oder zu keiner darauf beruhenden Teilhabebeeinträchtigung geführt hat, scheidet ein auf die Behinderung gestützter Kindergeldanspruch aus.
Für volljährige behinderte Kinder kann ein Kindergeldanspruch auch über die Altersgrenze von 27 Jahren (jetzt 25 Jahren) hinaus bestehen, wenn die Behinderung vor Erreichen der Altersgrenze eingetreten ist. Wie der Bundesfinanzhof jetzt entschieden hat, stellt ein Gendefekt aber nur dann eine solche Behinderung dar, wenn das Kind dadurch vor Erreichen der Altersgrenze in seinen körperlichen Funktionen, geistigen Fähigkeiten oder seiner seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate vom alterstypischen Zustand abweicht und dadurch in seiner Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt ist.
In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall hatte der Vater einer im August 1968 geborenen Tochter geklagt, die an einer Muskelerkrankung in Form der Myotonen Dystrophie Curschmann Steinert leidet. Trotz erster Symptome im Alter von ca. 15 Jahren, wurde die Erkrankung zunächst nicht erkannt. Die Diagnose erfolgte erst 1998. In der Folgezeit verstärkte sich die Muskelschwäche und es wurde im Jahr 2005 zunächst ein Grad der Behinderung von 50 und im Jahr 2009 von 100 festgestellt. Die Tochter absolvierte eine Berufsausbildung und befand sich bis 2010 in einem Beschäftigungsverhältnis. Ab Oktober 2011 erhielt sie eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Der Vater beantragte 2014, ihm für seine Tochter ab Januar 2010 Kindergeld zu gewähren. Dies lehnte die Familienkasse unter Hinweis darauf ab, dass die Behinderung nicht vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei.
Das Finanzgericht Köln gab der dagegen gerichteten Klage für die Monate statt, in denen die der Tochter zur Verfügung stehenden Mittel nicht zur Deckung ihres notwendigen Lebensbedarfes ausreichten1. Dagegen hielt der Bundesfinanzhof die Revision der Familienkasse für begründet:
Da für die Tochter aufgrund einer Übergangsregelung noch nicht die ab 2000 auf das 25. Lebensjahr abgesenkte Altersgrenze gilt, setzt der Kindergeldanspruch des Vaters voraus, dass die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist. Der Behinderungsbegriff erfordert dabei eine für das Lebensalter untypische gesundheitliche Situation, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt. Nicht ausreichend ist es nach der Entscheidung des BFH dagegen, wenn vor Erreichen der Altersgrenze eine Behinderung zwar droht, aber noch nicht eingetreten ist. Der BFH hielt daher die bisherigen Feststellungen des Finanzgerichts für nicht ausreichend. Das Finanzgericht war zwar auf der Grundlage des festgestellten Grades der Behinderung für die streitigen Monate ab 2011 zu Recht vom Vorliegen einer Behinderung ausgegangen. Für die Frage, ob die Behinderung bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres –also bis August 1995- eingetreten ist, ließ das Finanzgericht aber zu Unrecht bereits den festgestellten angeborenen Gendefekt ausreichen. Dem Finanzgericht wurde daher für den zweiten Rechtsgang aufgegeben, nähere Feststellungen dazu zu treffen, ob der Gendefekt bereits vor Erreichen der Altersgrenze zu Funktions- und Teilhabebeeinträchtigungen bei der Tochter des Vaters geführt hatte.
Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 1 EStG in der im Streitzeitraum geltenden Fassung besteht für ein Kind des Anspruchsberechtigten, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Kindergeldanspruch, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Voraussetzung ist nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 2 EStG, dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist, sofern nicht aufgrund der Übergangsregelung des § 52 Abs. 40 Satz 5 EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 2007 (StÄndG 2007) vom 19.07.20062 weiterhin die bisherige Altersgrenze (Vollendung des 27. Lebensjahres) gilt.
Das Finanzgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die kindergeldrechtliche Berücksichtigung der T eine vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetretene Behinderung voraussetzt.
Die in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 2 EStG vorgesehene Altersgrenze wurde zwar erst durch das Gesetz zur Familienförderung vom 22.12.19993 ab dem Veranlagungszeitraum 2000 eingeführt und war damals auf das 27. Lebensjahr festgesetzt. Sie wurde nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs4, die an eine entsprechende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum sozialrechtlichen Kindergeld anknüpfte5 aber bereits vor der gesetzlichen Festschreibung angewandt.
Durch das StÄndG 2007 wurde die Altersgrenze auf das 25. Lebensjahr herabgesetzt. Gleichzeitig sah der Gesetzgeber aber in § 52 Abs. 40 Satz 5 EStG eine Übergangsregelung vor. Danach ist die abgesenkte Altersgrenze erstmals für Kinder anzuwenden, die im Veranlagungszeitraum 2007 wegen einer vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetretenen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten; für Kinder, die wegen einer vor dem 01.01.2007 in der Zeit ab der Vollendung des 25. Lebensjahres und vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetretenen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, ist weiter die frühere Altersgrenze anzuwenden.
Im Streitfall fällt T in den Anwendungsbereich der Übergangsregelung. Sie wurde im August 1968 geboren und vollendete ihr 25. Lebensjahr im August 1993 und ihr 27. Lebensjahr im August 1995. Es reicht daher aus, wenn ihre Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.
Weiter ist das Finanzgericht hinsichtlich der Frage, welche Anforderungen an das Vorliegen einer Behinderung zu stellen sind, zu Recht vom Behinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) ausgegangen.
Nach der Rechtsprechung des BFH ist für die Beurteilung des Merkmals „Behinderung“ i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG die in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der im Streitzeitraum geltenden Fassung enthaltene Legaldefinition maßgeblich. Danach ist ein Mensch behindert, wenn seine körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist6.
Der Behinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 SGB IX i.d.F. bis 31.12.2017 ist somit dreigliedrig7. Er besteht aus
- einer für das Lebensalter untypischen gesundheitlichen Situation,
- die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert und
- kausal zu einer Teilhabebeeinträchtigung führt.
Dabei entspricht die dauerhaft altersuntypische Gesundheitsbeeinträchtigung einem im herkömmlichen, rein medizinischen Sinn zu verstehenden Behinderungsbegriff8. Demgegenüber stellt die Teilhabebeeinträchtigung als Folge des Funktionsdefizits eine Erweiterung des herkömmlichen Behinderungsbegriffs dar9, die auch eine Einbeziehung anderer, insbesondere soziologischer und pädagogischer Beurteilungsmaßstäbe ermöglicht10. Der Behinderungsbegriff lässt sich daher nicht auf eine rein medizinische Frage reduzieren, sondern erfordert eine Differenzierung zwischen der Krankheitsbeschreibung, der Funktionsminderung und der Teilhabebeeinträchtigung11.
Die gesundheitliche Beeinträchtigung kann sich auf körperliche Funktionen, geistige Fähigkeiten oder die seelische Gesundheit beziehen.
Körperliche Funktionen sind nicht nur organisch und orthopädisch, sondern in umfassendem Sinn zu verstehen; sie schließen Störungen der Sinne (z.B. Sehvermögen, Hörvermögen, Geruchs, Geschmacks- und Tastsinn) und Empfindungen (z.B. Temperaturempfinden, Empfindlichkeit gegenüber anderen Reizen, Schmerz) ein, nicht jedoch Beeinträchtigungen in der Körperstruktur, die sich auf Körperfunktionen nicht auswirken12. Geistige Fähigkeiten sind in erster Linie intellektuelle und kognitive, wie Wahrnehmung, Erkennen, Denken, Vorstellen, Erinnern und Urteilen, aber z.B. auch Bewusstsein sowie die mentale Funktion, Bewegungshandlungen durchzuführen12. Der Begriff „seelische Gesundheit“ bezieht sich nicht nur auf Krankheiten, sondern auch auf psychisch-funktionale Fähigkeiten wie Persönlichkeit (Selbstsicherheit und ‑vertrauen), psychische Energie, Antrieb, Psychomotorik, Belastbarkeit und Emotionen13.
Die für das Vorliegen einer Behinderung erforderliche Funktionsstörung muss von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen. Unter dem für das jeweilige Lebensalter untypischen Zustand versteht der Gesetzgeber den Verlust oder die Beeinträchtigung von normalerweise vorhandenen körperlichen Funktionen, geistigen Fähigkeiten oder seelischer Gesundheit14. Leistungseinschränkungen, die für das jeweilige Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind, stellen danach keine Behinderung dar15. Gerade bei Kindern ist zur Feststellung einer Behinderung die Abgrenzung altersadäquater Gesundheitszustände notwendig. Erforderlich ist insoweit ein Vergleich der körperlichen, geistigen und seelischen Fähigkeiten mit denen eines altersentsprechenden nicht behinderten Kindes16.
Zur Feststellung einer Behinderung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG i.V.m. § 2 Abs. 1 SGB IX kann das Gesundheitsproblem grundsätzlich auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten im Rahmen der ICD-10 beschrieben werden17.
Mit dem Erfordernis, dass der altersuntypische Gesundheitszustand mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauern muss, bezweckt der Gesetzgeber, vorübergehende Gesundheitsstörungen aus dem Behinderungsbegriff auszuschließen und damit nur Beeinträchtigungen eines bestimmten Schweregrades zu erfassen18. Entscheidend ist insoweit nicht die seit Beginn der Erkrankung oder gar seit ihrer erstmaligen ärztlichen Feststellung abgelaufene Zeit, sondern die ihrer Art nach zu erwartende Dauer der von ihr ausgehenden Funktionsbeeinträchtigung19. Zur Beurteilung dieser Frage ist (ggf.) eine Prognose zur (weiteren) Entwicklung der Funktionsbeeinträchtigung zu stellen20.
Für die Frage, ob in Folge des altersuntypischen gesundheitlichen Zustands die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist, kommt es auf das Ausmaß und den Grad der körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsbeeinträchtigung an. Entscheidend ist, ob die Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheit nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt. Relevante Teilhabebereiche ergeben sich aus der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Danach werden die Bereiche Lernen und Wissensanwendung, allgemeine Aufgaben und Anforderungen, Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, häusliches Leben, interpersonelle Interaktionen und Beziehungen, bedeutende Lebensbereiche (wozu insbesondere Erziehung und Bildung, Arbeit und Beschäftigung zu zählen sind) sowie gemeinschafts, sozial- und staatsbürgerliches Leben unterschieden21. Die Prüfung einer Teilhabebeeinträchtigung hat aufgrund einer umfassenden Kenntnis des sozialen Umfelds des betroffenen Kindes zu erfolgen, wobei ggf. neben medizinischem Sachverstand auch der anderer Wissensgebiete (insbesondere sozialpädagogischer und psychologischer Art) heranzuziehen ist22. Danach darf eine Teilhabehinderung bei Vorliegen einer Schädigung oder Funktionsbeeinträchtigung nicht einfach im Rahmen einer letztlich abstrakten Betrachtungsweise in nahezu selbstverständlicher Weise unterstellt werden23, sondern bedarf einer auf entsprechende tatsächliche Feststellungen gestützten Begründung.
Entgegen der Auffassung des Vaters erfüllt eine drohende Behinderung nicht die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Norm. Dieser fordert in Halbsatz 1 eine „Behinderung“ und setzt zudem voraus, dass die Behinderung ursächlich für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt ist. Weiter erfordert Halbsatz 2, dass die Behinderung vor Vollendung der Altersgrenze „eingetreten ist“ und nicht, dass sie zu diesem Zeitpunkt nur droht. Diese Auslegung entspricht auch dem Sinn und Zweck der Regelung. Denn § 32 EStG sieht nach seinem Absatz 3 vor, dass Kinder regelmäßig nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres im Familienleistungsausgleich berücksichtigt werden. Bei Kindern, die das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, geht der Gesetzgeber typisierend davon aus, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des steuerpflichtigen Elternteils nur noch unter besonderen Umständen gemindert ist24. Diese besonderen Voraussetzungen orientieren sich typisierend an bestimmten typischen Unterhaltssituationen. Solche können aber nur bei einer durch eine eingetretene Behinderung ausgelösten Unfähigkeit zum Selbstunterhalt angenommen werden. Eine drohende Behinderung und eine daraus resultierende drohende Unfähigkeit zum Selbstunterhalt begründet indessen noch keine typische Unterhaltssituation für den betreffenden Elternteil. Dagegen orientieren sich sozialrechtliche Vorschriften, die wie § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX und § 53 Abs. 2 Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) von Behinderung bedrohte Menschen in den Kreis der Leistungsberechtigten einbeziehen, daran, dass mit den betreffenden Gesetzen insbesondere auch Präventionszwecke verfolgt werden (s. § 3 SGB IX, § 14 Abs. 1 SGB XII)25. Im Übrigen weist das BMF zu Recht darauf hin, dass die Einführung der Altersgrenze nach der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Familienförderung26 bezweckt habe, die kindergeldrechtliche Berücksichtigung von Spätbehinderungen zu verhindern. Insbesondere sollte danach ausgeschlossen werden, dass z.B. eine 80-jährige Mutter für ihren Sohn, der im Alter von 60 Jahren einen Schlaganfall erleidet und pflegebedürftig wird, Kindergeld erhalten kann. Nichts anderes kann nach Überzeugung des Bundesfinanzhofs gelten, wenn sich der Schlaganfall auf genbedingt erhöhte Risikofaktoren zurückführen lässt.
Unter Zugrundelegung dieser Rechtsgrundsätze ist das Finanzgericht auf der Basis seiner bisherigen Feststellungen zu Unrecht davon ausgegangen, dass bei T vor Vollendung des 27. Lebensjahres eine Behinderung eingetreten ist.
Das Finanzgericht hat sich zunächst mit dem Vorliegen einer Behinderung im Streitzeitraum und damit in einem Zeitraum nach Vollendung des 27. Lebensjahres auseinandergesetzt. Insoweit hat es im Wesentlichen auf den seit 14.06.2005 gültigen Schwerbehindertenausweis und den seit 18.03.2009 auf 100 erhöhten GdB abgestellt. Für die Frage, ob die Behinderung vor dem im August 1995 vollendeten 27. Lebensjahr eingetreten ist, lässt sich aus diesen Feststellungen nichts ableiten.
Zur Frage, ob die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist, ging das Finanzgericht zu Unrecht davon aus, dass bereits der angeborene Gendefekt als solcher die Behinderung darstellt.
Insoweit wäre vielmehr zunächst die medizinische Feststellung erforderlich gewesen, dass der Gendefekt vor Erreichen der Altersgrenze zu einer körperlichen, geistigen oder seelischen Funktionsstörung geführt hat. Weist eine genetisch bedingte Erkrankung Verlaufsformen auf, bei denen der Beginn der Erkrankung nicht nur im Kindes- oder jungen Erwachsenenalter, sondern auch im späteren Erwachsenenalter eintreten kann, bedarf es einer eingehenden Prüfung, ob bei dem betreffenden Kind eine Verlaufsform vorliegt, die bereits vor Erreichen der Altersgrenze des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu einer Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheit geführt hat.
Das Finanzgericht führt insofern zwar zu Recht aus, dass es nicht darauf ankomme, ob die Krankheit ‑wie im Fall der T- erstmals nach Vollendung des 27. Lebensjahres diagnostiziert wird. Dies befreit das Finanzgericht hingegen nicht davon, anhand der vorhandenen vor und nach Vollendung des 27. Lebensjahres erhobenen Befunde und ggf. weiterer zu erhebender Beweise zu überprüfen, ob die erforderlichen dauerhaften und gravierenden Funktionsbeeinträchtigungen schon vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sind. Soweit das Finanzgericht bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetretene leichtere Symptome einer Erkrankung festgestellt hat, wären jedenfalls diese im Hinblick auf das Vorliegen einer für das Lebensalter untypischen gesundheitlichen Situation, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauern wird, zu würdigen gewesen.
Nichts anderes ergibt sich aus dem BFH-Urteil in BFHE 251, 14727. Danach setzt eine Behinderung nach § 2 Abs. 1 SGB IX eine sich auf mehr als sechs Monate erstreckende Gesundheitsstörung voraus, wobei insoweit nicht die seit Beginn der Erkrankung oder gar die seit ihrer erstmaligen ärztlichen Feststellung abgelaufene Zeit entscheidend ist, sondern die ihrer Art nach zu erwartende Dauer der von ihr ausgehenden Funktionsbeeinträchtigung. Denn soweit der Vater hierauf bezogen ausführt, es sei unstreitig, dass sich die Gesundheitsstörung bei T auf mehr als sechs Monate erstrecke, übersieht er, dass im Streitfall eine doppelte Prüfung des Vorliegens einer Behinderung erforderlich ist. Zum einen erfordert § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 1 EStG die Prüfung, dass im Streitzeitraum, also in den Monaten Juni bis Dezember 2011, Juni bis August 2012 sowie Januar 2013 bis März 2015 eine Behinderung vorlag. Zum anderen verlangt § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 2 EStG, dass bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres eine Behinderung eingetreten ist, was wiederum voraussetzt, dass bereits in diesem Zeitraum eine sich auf mehr als sechs Monate erstreckende Gesundheitsstörung vorgelegen haben muss.
Soweit der Vater ausführt, dass es nicht zu seinen Lasten gehen könne, dass der Gendefekt erst 1998 diagnostiziert und der Schwerbehindertenausweis erst 2005 ausgestellt worden sei, ist darauf hinzuweisen, dass der Vater die Feststellungslast für die tatsächlichen Voraussetzungen des von ihm geltend gemachten Kindergeldanspruchs trägt. Dabei schließt die nach Erreichen der Altersgrenze erfolgte Diagnose jedoch nicht aus, dass aufgrund der vorhandenen Befunde und ggf. weiterer Gutachten auch für die Zeit vor Vollendung des 27. Lebensjahres der Eintritt der Behinderungsvoraussetzungen festgestellt wird. Ggf. kommt nach § 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX auch eine auf einen vor dem Zeitpunkt der Beantragung des Behindertenausweises festgelegte Feststellung des GdB in Betracht.
Überdies hat das Finanzgericht auch keine tragfähigen Feststellungen zu einer durch die Funktionsstörung verursachten Teilhabebeeinträchtigung getroffen. Mangels konkreter Feststellung von nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigungen konnte sich das Finanzgericht noch nicht näher mit der Frage auseinandersetzen, ob diese die für die Annahme einer Behinderung erforderlichen Teilhabebeeinträchtigungen bedingten. Vielmehr führt es nur pauschal aus, dass T aufgrund der leichteren Symptome noch nicht wesentlich in ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt gewesen sei.
Zu Unrecht hält es das Finanzgericht in diesem Zusammenhang für unschädlich, dass eine Teilhabebeeinträchtigung erst nach Vollendung des 27. Lebensjahres eintritt. Denn die Teilhabebeeinträchtigung ist ein Merkmal des Behinderungsbegriffes und nicht der als weiteres Tatbestandsmerkmal in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG geforderten Unfähigkeit zum Selbstunterhalt. In den vom Finanzgericht insoweit zitierten BFH-Urteilen vom 09.06.2011 und vom 04.08.201128 wurde nur ausgeführt, dass die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt nach Erreichen der Altersgrenze eintreten kann. Die Behinderung und mithin auch die Teilhabebeeinträchtigung müssen nach diesen Entscheidungen dagegen bereits vor Erreichen der Altersgrenze vorgelegen haben.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 27. November 2019 – III R 44/17
- FG Köln, Urteil vom 12.01.2017 – 6 K 889/15[↩]
- BGBl I 2006, 1652[↩]
- BGBl I 1999, 2552[↩]
- BFH, Urteil vom 26.07.2001 – VI R 56/98, BFHE 196, 161, BStBl II 2001, 832[↩]
- BSG, Urteile vom 23.06.1977 – 8/12 RKg 7/77, SozR 5780, § 2 Nr. 5; und vom 14.08.1984 – 10 RKg 6/83, SozR 5870, § 2 Nr. 35[↩]
- z.B. BFH, Urteil vom 19.01.2017 – III R 44/14, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ‑HFR- 2017, 412, Rz 16; BFH, Urteile vom 23.02.2012 – V R 39/11, BFH/NV 2012, 1584, Rz 22; vom 28.05.2013 – XI R 44/11, BFH/NV 2013, 1409, Rz 14, m.w.N.; und vom 21.10.2015 – XI R 17/14, BFH/NV 2016, 190, Rz 27, m.w.N.[↩]
- Schaumberg/Seidel, SGb 2017, 572, 574[↩]
- BSG, Urteile vom 22.04.2015 – B 3 KR 3/14 R, SozR 4–2500, § 33 Nr. 45, Rz 21; und vom 30.09.2015 – B 3 KR 14/14 R, SozR 4–2500, § 33 Nr. ?48, Rz 19; Schaumberg/Seidel, SGb 2017, 572, 573; Avvento, HFR 2017, 412[↩]
- BSG, Urteil in SozR 4–2500, § 33 Nr. 45, Rz 21[↩]
- BSG, Urteil in SozR 4–2500, § ?33 Nr. ?48, Rz 21; Schaumberg/Seidel, SGb 2017, 572, 574; Avvento, HFR 2017, 412; Welti in Handkommentar zum Sozialgesetzbuch IX ‑HK-SGB IX‑, 3. Aufl., § 2 Rz 33, der etwa auch auf arbeits- und pflegewissenschaftliche Expertise verweist[↩]
- Welti in HK-SGB IX, § 2 Rz 22[↩]
- Schaumberg/Seidel, SGb 2017, 618, 620, m.w.N.[↩][↩]
- Schaumberg/Seidel, SGb 2017, 618, 620 f., m.w.N.[↩]
- BT-Drs. 14/5074, S. 98[↩]
- BT-Drs. 10/3138, S. 16 zu § 2a des Schwerbehindertengesetzes[↩]
- BFH, Urteil vom 18.06.2015 – VI R 31/14, BFHE 251, 147, BStBl II 2016, 40, Rz 23, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFHE 251, 147, BStBl II 2016, 40, Rz 19; Welti in HK-SGB IX, § 2 Rz 20; so explizit auch § 35a Abs. 1a Satz 2 des Achten Buches Sozialgesetzbuch[↩]
- Welti in HK-SGB IX, § 2 Rz 27; s.a. Wurm in Jahn/Schell, § 2 SGB IX Rz 5, wonach eine Behinderung vor allem durch eine dauerhafte und gravierende Beeinträchtigung gekennzeichnet wird[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 251, 147, BStBl II 2016, 40, Rz 22[↩]
- BFH, Urteil in HFR 2017, 412, Rz 18, m.w.N.[↩]
- Wurm in Jahn/Schell, § 2 SGB IX Rz 8d, jeweils mit weiteren Anwendungsbeispielen[↩]
- BFH, Urteil in HFR 2017, 412, Rz 20, m.w.N.[↩]
- Luthe in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, § 2 SGB IX Rz 90[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 11.10.1984 – VI R 69/83, BFHE 142, 140, BStBl II 1985, 91[↩]
- Welti in HK-SGB IX, § 2 Rz 20; Luthe in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, § 2 SGB IX Rz 102[↩]
- BT-Drs. 14/1513, S. 14[↩]
- BFH-Urteil in BFHE 251, 147, BStBl II 2016, 40, Rz 22.[↩]
- BFH, Urteile vom 09.06.2011 – III R 61/08, BFHE 234, 143, BStBl II 2012, 141, Rz 17 ff.; und vom 04.08.2011 – III R 24/09, BFH/NV 2012, 199, Rz 17[↩]
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