Ein Kind unter 25 Jahren, das wegen einer Erkrankung keine Berufsausbildung beginnen kann, ist nur dann als ausbildungsplatzsuchendes Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG zu berücksichtigen, wenn das Ende der Erkrankung absehbar ist. Ist dieses nicht absehbar, reicht der Wille des Kindes, sich nach dem Ende der Erkrankung um einen Ausbildungsplatz zu bemühen, nicht aus. In solchen Fällen ist zu prüfen, ob eine Berücksichtigung als behindertes Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG möglich ist.

Kindergeld wird nach § 62 Abs. 1 Satz 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG für ein Kind gewährt, das das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat und das eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann.
Kinder, die einen Ausbildungsplatz suchen, sollen mit denen, die bereits einen Ausbildungsplatz gefunden haben, gleichgestellt werden. Dies setzt voraus, dass der Beginn der Ausbildung nicht an anderen Umständen als dem Mangel eines Ausbildungsplatzes scheitert1. Dabei ist zwar grundsätzlich jeder Ausbildungswunsch des Kindes zu berücksichtigen; seine Verwirklichung darf jedoch nicht an den persönlichen Verhältnissen des Kindes scheitern2. Das Kind muss die Ausbildungsstelle im Falle des Erfolgs seiner Bemühungen antreten können3.
In der Person des Kindes liegende Gründe, welche der Aufnahme einer Berufsausbildung entgegenstehen, liegen z.B. vor, wenn ein Kind nicht die Voraussetzungen für den angestrebten Studiengang erfüllt4 oder wenn ausländerrechtliche Gründe einer Berufsausbildung entgegenstehen5. Ein Kind ist auch dann nicht zu berücksichtigen, wenn es eine Ausbildung wegen Übergewichts nicht antreten könnte6. Für den Bezug von Kindergeld ist es ausnahmsweise unschädlich, wenn das Kind wegen der Schutzfristen nach dem Mutterschutzgesetz (MuSchG) an der Aufnahme einer Berufsausbildung gehindert ist7.
Fälle, in denen ein Kind aus Gesundheitsgründen dauerhaft gehindert ist, eine Berufsausbildung oder Erwerbstätigkeit aufzunehmen und deshalb unterhaltsberechtigt ist, werden durch § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG gesetzlich typisiert. Hiernach ist ein Kind zu berücksichtigen, das wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, sofern die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist. Der Begriff der Behinderung orientiert sich an § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch -SGB IX-8. Nach der derzeitigen Definition des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX i.d.F. des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung (Bundesteilhabegesetz) vom 23.12.20169 sind Menschen behindert, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Nach der vorherigen Definition des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist ein Mensch behindert, wenn seine körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach beiden Fassungen ist somit Voraussetzung für die Annahme einer Behinderung, dass eine Beeinträchtigung mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert. Ist das Ende einer der in § 2 Abs. 1 SGB IX aufgezählten Beeinträchtigungen, die ein Kind daran hindert, sich um eine Berufsausbildung zu bemühen, nicht absehbar, so sind in der Regel die Voraussetzungen einer Behinderung in zeitlicher Hinsicht erfüllt.
Entgegen der Rechtsauffassung des Finanzgerichts Düsseldorf10 reicht in Fällen, in denen ein Kind aus Krankheitsgründen gehindert ist, einen Ausbildungsplatz zu suchen oder in denen derartige Bemühungen angesichts der Erkrankung sinnlos wären, die allgemeine Ausbildungswilligkeit, die auf eine in der Zukunft zu beginnende Berufsausbildung gerichtet ist, nicht aus. Vielmehr muss das Ende der Erkrankung absehbar sein. Dementsprechend hat der Bundesfinanzhof in der Entscheidung zur Unterbrechung der Ausbildungsplatzsuche im Urteil in BFHE 242, 118, BStBl II 2014, 834 auf die regelmäßig auf 14 Wochen beschränkten Fristen nach dem MuSchG hingewiesen; die Frage, ab welcher Zeitdauer die Erkrankung eines Kindes dessen Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG ausschließt, hat er offengelassen.
Im hier entschiedenen Streitfall war die Aufnahme einer künftigen Berufsausbildung innerhalb des Streitzeitraums nicht absehbar. Noch im September 2017 erklärte der behandelnde Arzt, dass das Ende der Erkrankung nicht absehbar sei. In gleichem Sinne hatte sich die Klägerin im Juli 2017 gegenüber der Familienkasse geäußert. Die zur Vorlage bei einem Arbeitgeber ausgestellte ärztliche Bescheinigung vom 29.06.2017, in der Arbeitsunfähigkeit in der Zeit vom 14.09.2016 bis voraussichtlich 16.07.2017 angegeben ist, trifft keine Aussage dazu, wann es dem Sohn in gesundheitlicher Hinsicht möglich sein werde, eine Ausbildung zu beginnen. Eine Berücksichtigung des Sohnes nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG scheidet damit aus. Ob eine Berücksichtigung auch daran scheitert, dass -wie die Familienkasse meint- die auf dem Vordruck abgegebene Erklärung vom 12.09.2017 des Sohnes über seine Absicht, sich unmittelbar nach dem Ende der Erkrankung um eine Berufsausbildung bemühen zu wollen, nicht auf den Streitzeitraum zurückwirkt, kann daher offenbleiben11.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 18. Februar 2021 – III R 35/19
- BFH, Urteile vom 07.04.2011 – III R 24/08, BFHE 233, 44, BStBl II 2012, 210, sowie vom 13.06.2013 – III R 58/12, BFHE 242, 118, BStBl II 2014, 834[↩]
- BFH, Urteil vom 15.07.2003 – VIII R 71/99, BFH/NV 2004, 473[↩]
- BFH, Urteil vom 15.07.2003 – VIII R 79/99, BFHE 203, 94, BStBl II 2003, 843; BFH, Urteile vom 27.09.2012 – III R 70/11, BFHE 239, 116, BStBl II 2013, 544, sowie vom 18.01.2018 – III R 16/17, BFHE 260, 481, BStBl II 2018, 402[↩]
- BFH, Urteil in BFH/NV 2004, 473[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 233, 44, BStBl II 2012, 210[↩]
- BFH, Beschluss vom 08.11.1999 – VI B 322/98, BFH/NV 2000, 432[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 242, 118, BStBl II 2014, 834[↩]
- BFH, Urteil vom 19.01.2017 – III R 44/14, BFH/NV 2017, 735, m.w.N.[↩]
- BGBl I 2016, 3234[↩]
- FG Düsseldorf, Urteil vom 26.04.2019 – 7 K 1093/18 Kg[↩]
- vgl. A 17.2 Abs. 1 Satz 4 der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem EStG Stand 2020 vom 27.08.2020, BStBl I 2020, 703[↩]