Kindergeld für das Kind des Ehepartners eines Grenzgängers

Kindergeld unterliegt dem Gleichbehandlungsgrundsatz. Die Zahlung von Kindergeld für das Kind des Ehepartners eines Grenzgängers, das zu diesem in keinem Abstammungsverhältnis steht, darf von einem Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht verweigert werden.

Kindergeld für das Kind des Ehepartners eines Grenzgängers

So die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in dem hier vorliegenden Fall eines Vorabentscheidungsersuchens des Obersten Schiedsgerichts der Sozialversicherung in Luxemburg (Conseil supérieur de la sécurité sociale). In dem dort anhängigen Verfahren ging es um den in Luxemburg arbeitenden FV, der mit seiner Frau GW in Frankreich wohnt. Das Paar hat zwei gemeinsame Kinder. HY, der aus einer früheren Beziehung von GW stammt, lebt bei FV und GW. Letztere hat das alleinige Sorgerecht für HY. Der Haushalt bezog aufgrund der Grenzgängereigenschaft von FV für alle drei Kinder das luxemburgische Kindergeld – bis zum Inkrafttreten des luxemburgischen Gesetzes vom 23. Juli 2016. Seit Inkrafttreten dieses Gesetzes, mit dem das Sozialgesetzbuch dahin geändert wurde, dass es die Kinder des Ehe- oder Lebenspartners vom Begriff „Familienangehöriger“ ausschloss, bezog der Haushalt kein Kindergeld mehr für HY. Mit Bescheid vom 8. November 2016 vertrat nämlich die Zukunftskasse (Luxemburg) die Ansicht, dass FV ab dem 1. August 2016 für HY keinen Anspruch mehr auf Kindergeld habe. Da dieses Kind in keinem Abstammungsverhältnis zu FV stehe, sei es kein „Familienangehöriger“, was den Anspruch auf das luxemburgische Kindergeld ausschließe.

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Damit war FV nicht einverstanden und hat den Bescheid der Zukunftskasse beim Conseil arbitral de la sécurité sociale (Schiedsgericht der Sozialversicherung, Luxemburg) angefochten, nach dessen Ansicht die luxemburgischen Familienleistungen eine soziale Vergünstigung im Sinne der Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung1 darstellen und an die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit anknüpfen, da FV ein den luxemburgischen Rechtsvorschriften unterliegender Arbeitnehmer sein müsse, um sie zu erhalten.

Gegen diese Entscheidung hat die Zukunftskasse beim Conseil supérieur de la sécurité sociale (Oberstes Schiedsgericht der Sozialversicherung, Luxemburg) Berufung eingelegt, weil sie insbesondere mit der Einstufung der Familienleistungen als soziale Vergünstigung nicht einverstanden war. Von diesem Gericht sind dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt worden, u.a. um in Erfahrung zu bringen, ob Kindergeld, das an die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit eines Grenzgängers in einem Mitgliedstaat geknüpft ist, eine soziale Vergünstigung im Sinne der Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung darstellt. Weiterhinfragt das Oberste Schiedsgericht der Sozialversicherung, ob das Unionsrecht den Bestimmungen eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach Grenzgänger ein an die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit geknüpftes Kindergeld nur für ihre eigenen Kinder und nicht für die Kinder ihres Ehepartners beziehen können, die in keinem Abstammungsverhältnis zu ihnen stehen, während der Anspruch auf diese Leistung für alle in diesem Mitgliedstaat wohnenden Kinder besteht.

In seiner Urteilsbegründung hat der Gerichtshof der Europäischen Union deutlich zum Ausdruck gebracht, dass der Begriff der sozialen Vergünstigung im Fall von Arbeitnehmern, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, alle Vergünstigungen umfasst, die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern im Allgemeinen gewährt werden, und zwar hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnorts im Inland. Dann führt er aus, dass ausweislich der ihm vorliegenden Akte das fragliche Kindergeld, das eine Vergünstigung darstellt, bei einem Grenzgänger wie FV an die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit in Luxemburg geknüpft ist. Es wurde FV ursprünglich nur gewährt, weil er ein den luxemburgischen Rechtsvorschriften unterliegender Grenzgänger war. Nach Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist daraus zu folgern, dass Kindergeld, das an die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit eines Grenzgängers in einem Mitgliedstaat geknüpft ist, eine soziale Vergünstigung darstellt.

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Darüber hinaus erklärt der Gerichtshof der Europäischen Union zu dem Verhältnis zwischen dem Grenzgänger und einem bei ihm lebenden Kind, dass die betreffende Leistung für alle in Luxemburg wohnenden Kinder sowie für alle Kinder von gebietsfremden Arbeitnehmern, die ein Abstammungsverhältnis zu Letzteren aufweisen, ausgezahlt wird. Diese Leistung wird folglich aufgrund eines gesetzlich definierten Tatbestands unabhängig von einer im Ermessen liegenden individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit gewährt. Zudem stellt die fragliche Leistung einen staatlichen Beitrag zum Familienbudget dar, der dazu dienen soll, die Kosten für den Unterhalt von Kindern zu verringern. Nach Meinung des Gerichtshofs der Europäischen Union stellt dieses Kindergeld eine Leistung der sozialen Sicherheit dar, was die Anwendbarkeit der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit2 zur Folge hat. Außerdem kommt diese Verordnung im Falle eines Grenzgängers wie FV zur Anwendung, da sie für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen gilt.

Weiterhin weist der Gerichtshof der Europäischen Union darauf hin, dass die Familienangehörigen eines Wanderarbeitnehmers mittelbare Nutznießer der diesem Arbeitnehmer durch die Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung zuerkannten Gleichbehandlung in Bezug auf die sozialen Vergünstigungen sind. Ferner ist nach Ansicht des Gerichtshofs unter dem Kind eines Grenzgängers, dem diese sozialen Vergünstigungen mittelbar zugutekommen können, nicht nur ein Kind zu verstehen, das zu diesem Erwerbstätigen in einem Abstammungsverhältnis steht, sondern auch das Kind des Ehegatten oder eingetragenen Lebenspartners des Erwerbstätigen, wenn letzterer zum Unterhalt des Kindes beiträgt.

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So verbietet der Grundsatz der Gleichbehandlung nicht nur unmittelbare Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle mittelbaren Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen. Daher ist im Hinblick auf die spezifischen Umstände des Falles von FV zu prüfen, ob eine Diskriminierung vorliegt. Nach den geltenden luxemburgischen Rechtsvorschriften haben alle in Luxemburg wohnenden Kinder unabhängig von ihrem Status innerhalb des Haushalts des Arbeitnehmers Anspruch auf dieses Kindergeld. Gebietsfremde Arbeitnehmer können es hingegen nur für ihre eigenen Kinder in Anspruch nehmen und nicht für die Kinder ihres Ehepartners, die zu ihnen in keinem Abstammungsverhältnis stehen. Eine solche auf dem Wohnsitz beruhende Unterscheidung, die sich stärker zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirken kann, da Gebietsfremde meist Ausländer sind, stellt eine mittelbare Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar, die nur dann zulässig wäre, wenn sie objektiv gerechtfertigt wäre, was in der fraglichen Rechtssache nicht der Fall ist.

Zwar bestimmt sich nach Meinung des Gerichtshofs der Europäischen Union nach dem nationalen Recht, welche Personen Anspruch auf Familienleistungen haben, dass aber gleichwohl die Mitgliedstaaten das Unionsrecht, im vorliegenden Fall die Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, beachten müssen. Daher steht der Gleichbehandlungsgrundsatz speziell auf dem Gebiet der Gewährung sozialer Vergünstigungen Vorschriften eines Mitgliedstaats entgegen, wonach gebietsfremde Arbeitnehmer eine Leistung wie das von FV beantragte Kindergeld nur für ihre eigenen Kinder beziehen können und nicht für die Kinder ihres Ehepartners, die in keinem Abstammungsverhältnis zu ihnen stehen, aber für deren Unterhalt sie aufkommen, während alle in diesem Mitgliedstaat wohnenden Kinder Anspruch auf dieses Kindergeld haben.

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Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 2. April 2020 – Rechtssache C-802/18, Caisse pour l’avenir des enfants (Zukunftskasse) / FV und GW

  1. Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1).[]
  2. Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L166, S.1und Berichtigung ABl. 2004, L 200, S. 1).[]

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