Kindergeld für ein in Polen lebendes Kind – und der deutsche Zweitwohnsitz des Vaters

Hat ein Elternteil seinen Haupt- und Familienwohnsitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat, aber einen weiteren Wohnsitz in Deutschland, kommt es für den deutschen Kindergeldanspruch nicht auf eine inländische Erwerbstätigkeit an.

Kindergeld für ein in Polen lebendes Kind – und der deutsche Zweitwohnsitz des Vaters

Die Koordinierungsregel des Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004 ist nur dann anwendbar und kann den Kindergeldanspruch somit nur dann ausschließen, wenn tatsächlich konkurrierende Ansprüche auf Familienleistungen in dem anderen Mitgliedstaat bestehen.

Die Frage, ob im EU-Ausland ein Anspruch auf Familienleistungen besteht, ist grundsätzlich durch ein Auskunftsersuchen beim ausländischen Träger zu klären, es sei denn, das Nichtbestehen oder Bestehen eines ausländischen Anspruchs ist zweifelsfrei und unbestritten.

Mit dieser Begründung hat der Bundesgerichtshof im hier entschiedenen Fall – wie in der Vorinstanz bereits das Finanzgericht Münster1 – einen Kindergeldanspruch nach deutschem Recht bejaht:

Der Vater erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG 2015 und § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG 2016, 2017 und 2018, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 jeweils i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG für sein in Polen lebendes minderjähriges Kind.

Der Vater hatte nach den Feststellungen des Finanzgericht in den streitgegenständlichen Monaten in Deutschland einen Wohnsitz (§ 8 AO).

Der Umstand, dass er vom Finanzamt nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wurde, steht der Annahme eines inländischen Wohnsitzes nicht entgegen. Das Finanzgericht hat zutreffend entschieden, dass die Behandlung durch das Finanzamt nach § 1 Abs. 3 EStG für die Familienkasse zwar dann bindend ist, wenn es um das Vorliegen der Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG geht, nicht aber, wenn das Finanzamt fälschlich davon ausgegangen ist, dass der Anspruchsberechtigte im Inland keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG hat2.

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Da der Vater somit im Hinblick auf seinen Wohnsitz in Deutschland die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG 2015 und § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG 2016, 2017 und 2018 erfüllt, der Anspruch also nicht auf die Nr. 2 Buchst. b der Vorschrift (i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG) gestützt wird, hat der Vater auch in den Monaten Anspruch auf Kindergeld, in denen er eine gewerbliche Tätigkeit in Deutschland nicht nachweisen konnte.

Das Kind war ein leibliches Kind des Vaters und lebte im Streitzeitraum im gemeinsamen Haushalt des Vaters und seiner Ehefrau in Polen, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG 2015 und § 63 Abs. 1 Satz 6 EStG 2016, 2017 und 2018). Der Vater war nach den Feststellungen des Finanzgerichts gemäß § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG als Berechtigter bestimmt worden.

Der Anspruch des Vaters auf Gewährung von Kindergeld ist nicht nach Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen.

Hierzu hat der Bundesfinanzhof wiederholt entschieden, dass die Koordinierungsregel des Art. 68 Abs. 2 Sätze 1 und 3 der VO Nr. 883/2004 nur dann anwendbar ist und den Kindergeldanspruch in Deutschland auch nur dann ausschließen kann, wenn tatsächlich konkurrierende Ansprüche auf Familienleistungen bestehen3. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf diese Entscheidungen verwiesen.

Die Frage, ob im EU-Ausland ein Anspruch auf Familienleistungen besteht, ist grundsätzlich durch ein Auskunftsersuchen beim ausländischen Träger zu klären4. Wenn jedoch das Nichtbestehen eines ausländischen Anspruchs (nach Prüfung durch das Finanzgericht) zweifelsfrei und unbestritten ist, kommt eine Ausnahme in Betracht.

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Im Streitfall hat nach Prüfung durch das Finanzgericht und dem übereinstimmenden Vortrag der Beteiligten zweifelsfrei weder der Vater noch die Kindsmutter einen Anspruch auf polnische Familienleistungen, sodass keine Ansprüche auf Familienleistungen in verschiedenen Mitgliedstaaten zu koordinieren sind. Art. 68 Abs. 2 Sätze 1 und 3 der VO Nr. 883/2004 sind nicht anwendbar. Der Vater ist nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG kindergeldberechtigt.

Dem Anspruch des Vaters steht nicht entgegen, dass gemäß Art. 11 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 eine Person grundsätzlich nur den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt und der Vater zumindest in den Monaten, in denen er eine Erwerbstätigkeit in Deutschland nicht nachweisen konnte, seinen Lebensmittelpunkt wohl in der Familienwohnung in Polen hatte (vgl. Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl.EU 2009 Nr. L 284, S. 1, in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung). Vielmehr zeigt schon die Existenz der Koordinierungsregelungen der Art. 67 f. der VO Nr. 883/2004, dass Ansprüche auf Familienleistungen trotz Art. 11 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 in mehreren Mitgliedstaaten bestehen können. Erst recht schließt Art. 11 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 einen Kindergeldanspruch nicht aus, wenn wie im Streitfall, von vornherein nur nach dem Recht eines Mitgliedstaats ein Kindergeldanspruch besteht.

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Bundesfinanzhof, Urteil vom 1. Juni 2022 – III R 45/20

  1. FG Münster, Urteil vom 18.06.2020 – 10 K 2158/19 Kg[]
  2. vgl. z.B. BFH, Urteile vom 08.05.2014 – III R 21/12, BFHE 246, 389, BStBl II 2015, 135, Rz 16; und vom 24.05.2012 – III R 14/10, BFHE 237, 239, BStBl II 2012, 897[]
  3. vgl. z.B. BFH, Urteile vom 31.08.2021 – III R 10/20, BFHE 273, 536, BStBl II 2022, 186; vom 18.02.2021 – III R 27/19, BFHE 272, 60, BStBl II 2022, 183, und – III R 60/19, BFH/NV 2021, 942[]
  4. BFH, Urteil vom 22.02.2018 – III R 10/17, BFHE 261, 214, BStBl II 2018, 717, Rz 25; Selder, juris PraxisReport Steuerrecht 35/2018, Anm. 2[]

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