Eine kindergeldrechtliche Berücksichtigung wegen Berufsausbildung scheidet aus, wenn Ausbildungsmaßnahmen im Rahmen des fortbestehenden Ausbildungsverhältnisses wegen einer nicht vorübergehenden Erkrankung unterbleiben. In Betracht kommt dann eine Berücksichtigung wegen Behinderung (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG). Eine Krankheit ist nicht vorübergehend, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit eine länger als sechs Monate dauernde Beeinträchtigung zu erwarten ist (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).

Eine Kindergeldgewährung wegen Berufsausbildung ist mithin trotz eines bestehenden Ausbildungsverhältnisses nicht möglich, wenn das Kind langfristig so stark erkrankt ist, dass keine Ausbildungsmaßnahmen erfolgen können.
In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Streitfall hatte ein junger Erwachsener während seiner Ausbildung einen schweren Unfall mit Schädelbasisbruch und Schädel-Hirn-Trauma erlitten und nach dem Krankenhausaufenthalt verschiedene Reha-Maßnahmen durchlaufen, von denen die letzte 17 Monate nach dem Unfall begann.
Das erstinstanzlich hiermit befasste Finanzgericht Münster1 sprach Kindergeld für die ersten acht Monate nach dem Unfall zu, weil das Ausbildungsverhältnis fortbestanden habe und der Wille, die Ausbildung baldmöglichst fortzusetzen, in mehrfacher Hinsicht belegt sei. Auf die Revision der Kindergeldkasse ist der Bundesfinanzhof dem entgegengetreten und hat die Sache zu weiterer Sachaufklärung an das Finanzgericht zurückverwiesen:
In einer Berufsausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG befindet sich ein Kind dann, wenn es sein Berufsziel noch nicht erreicht hat, sich aber ernsthaft und nachhaltig darauf vorbereitet. Eine Unterbrechung der Ausbildung, z.B. wegen einer Erkrankung, ist unschädlich, wenn diese vorübergehend ist. Wird die Erkrankung aber mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauern, kann das Kind nicht mehr wegen seiner Ausbildung berücksichtigt werden. Das Finanzgericht muss nun klären, ob die sechs Monate übersteigende Erkrankungsdauer bereits in den ersten Monaten nach dem Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartet wurde. Falls zunächst eine schnellere Genesung als möglich erschien, könnte der Kindergeldanspruch, so der Bundesfinanzhof weiter, für diesen Zeitraum noch wegen des fortbestehenden Ausbildungsverhältnisses begründet sein. Für die Monate, in denen eine Berücksichtigung wegen Ausbildung aufgrund des dann mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarteten und eingetretenen langwierigen Heilungsprozesses nicht in Betracht kommt, ist zu prüfen, ob das Kind behinderungsbedingt außerstande war, sich selbst zu unterhalten und deshalb nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen ist.
Nach § 62 Abs. 1 Satz 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG wird Kindergeld für ein Kind gewährt, welches das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat, wenn es für einen Beruf ausgebildet wird (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG) oder wegen einer vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetretenen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG).
Das Finanzgericht hat zu Unrecht angenommen, dass der Sohn im Streitzeitraum i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG für einen Beruf ausgebildet wurde.
In Berufsausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG befindet sich, wer sein Berufsziel noch nicht erreicht hat, sich aber ernsthaft und nachhaltig darauf vorbereitet. Dieser Vorbereitung dienen alle Maßnahmen, bei denen Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen erworben werden, die als Grundlagen für die Ausübung des angestrebten Berufs geeignet sind2.
Dabei werden Ausbildungsmaßnahmen zwar einerseits durch eine Einschreibung an einer Schule oder Hochschule oder einen Ausbildungsvertrag mit einem Ausbildungsbetrieb indiziert. Andererseits genügt aber das formale Bestehen eines Ausbildungsverhältnisses nicht, wenn es an ernsthaften und nachhaltigen Ausbildungsmaßnahmen fehlt3. Soweit Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Kind seinem gewählten Ausbildungsgang nicht ernsthaft und hinreichend nachgeht, befindet es sich nicht in Berufsausbildung4.
Das Finanzgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass eine Ausnahme von diesem Grundsatz für den Fall zugelassen wurde, dass die Ausbildung infolge einer Erkrankung oder wegen der Schutzfristen vor und nach der Entbindung unterbrochen wird5. Gleiches hat der Bundesfinanzhof für den Fall angenommen, dass das Kind während eines Ausbildungsverhältnisses in Untersuchungshaft genommen oder wegen eines laufenden Strafverfahrens im Ausland mit einem Ausreiseverbot belegt wird6. Vorausgesetzt wurde insoweit jedoch, dass das Kind einen Ausbildungsplatz hat und ausbildungswillig ist7.
Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt, da der Ausbildungsvertrag fortbestand und der Sohn weiterhin ausbildungswillig war.
Die Unterbrechung der Ausbildungsmaßnahmen im Rahmen des fortbestehenden Ausbildungsverhältnisses steht der Berücksichtigung aber -wie auch die weitere Berücksichtigung eines ausbildungswilligen, sich aber vorübergehend nicht um einen Ausbildungsplatz bemühenden Kindes nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG8- nur dann nicht entgegen, wenn die Erkrankung vorübergehend ist. Eine krankheitsbedingte Unterbrechung der Ausbildung ist insoweit nicht anders zu behandeln als eine krankheitsbedingte Unterbrechung der Suche nach einem Ausbildungsplatz; dies hatte der Bundesfinanzhof für mutterschutzbedingte Unterbrechungen der Ausbildung oder der Ausbildungsplatzsuche bereits früher entschieden9.
Das Erfordernis einer nur vorübergehenden Krankheit ergibt sich aus der Notwendigkeit, die von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG erfassten Fälle von den unter § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG fallenden Fällen abzugrenzen. Letztere Bestimmung erfordert zum einen eine körperliche, geistige oder seelische Behinderung, die nach der maßgeblichen Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX eine mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate dauernde Beeinträchtigung voraussetzt10. Zweck dieses Kriteriums ist es, vorübergehende Gesundheitsstörungen aus dem Behinderungsbegriff auszuschließen und damit nur Beeinträchtigungen eines bestimmten Schweregrades zu erfassen11.
Zum anderen werden behinderte Kinder nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG nur dann berücksichtigt, wenn sie behinderungsbedingt außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, was eine Prüfung des Bedarfs des Kindes und der diesem zur Verfügung stehenden Mittel erfordert. Bei nicht nur vorübergehenden Erkrankungen des Kindes darf eine typische Unterhaltssituation, die zu seiner steuerlichen Berücksichtigung führt, nicht allein aufgrund der Erkrankung angenommen werden, sondern erfordert darüber hinaus die Feststellung eines konkreten Unterhaltsbedarfs. Diese Wertung des Gesetzgebers würde umgangen, wenn längerfristig erkrankte Kinder nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a oder c EStG ohne eine Bedarfsprüfung berücksichtigt würden. Gerade bei längerfristig erkrankten Kindern ist es nicht ausgeschlossen, dass Sozialleistungen in Anspruch genommen werden, die einen Unterhaltsbedarf entfallen lassen.
Unterbleiben Ausbildungsmaßnahmen wegen einer Erkrankung, so darf die gesundheitliche Beeinträchtigung daher -ebenso wie bei einer krankheitsbedingten Unterbrechung der Bemühungen um einen Ausbildungsplatz12- regelmäßig nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauern, wenn das Kind weiter wegen seiner Ausbildung gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG berücksichtigt werden soll. Dabei ist -um den Gleichlauf mit der Feststellung einer Behinderung zu gewährleisten- nicht die (rückblickend) seit Beginn der Erkrankung oder die seit ihrer erstmaligen ärztlichen Diagnose tatsächlich verstrichene Zeit, sondern die ihrer Art nach zu erwartende Dauer der von ihr ausgehenden Funktionsbeeinträchtigung maßgebend13. Zur Beurteilung dieser Frage ist ggf. eine Prognose zur weiteren Entwicklung der Funktionsbeeinträchtigung zu stellen14.
Der Rechtsstreit ist nicht entscheidungsreif und geht an das Finanzgericht zurück.
Das Finanzgericht hat nicht festgestellt, ob eine sechs Monate übersteigende Erkrankungsdauer bereits in den ersten Monaten des Streitzeitraums -vor der chefärztlichen Bescheinigung des nicht absehbaren Heilungstermins am …01.2019- mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartet wurde. Falls zunächst eine schnellere Genesung als möglich erschien, könnte der Sohn angesichts des fortbestehenden Ausbildungsverhältnisses bis dahin weiter nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG berücksichtigt werden.
Für den Zeitraum, in dem eine Berücksichtigung wegen Ausbildung aufgrund des dann (mit hoher Wahrscheinlichkeit) erwarteten -und eingetretenen- langwierigen Heilungsprozesses nicht in Betracht kommt, ist im zweiten Rechtsgang zu prüfen, in welchen Monaten der Sohn behinderungsbedingt außerstande war, sich selbst zu unterhalten und deshalb nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen ist.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 15. Dezember 2021 – III R 43/20
- FG Münster, Urteil vom 01.07.2020 – 11 K 1832/19 Kg[↩]
- z.B. BFH, Urteil vom 27.11.2019 – III R 65/18, BFH/NV 2020, 765, Rz 9[↩]
- z.B. BFH, Urteile in BFH/NV 2020, 765, Rz 10; und vom 18.01.2018 – III R 16/17, BFHE 260, 481, BStBl II 2018, 402, Rz 11[↩]
- BFH, Urteile vom 03.07.2014 – III R 52/13, BFHE 246, 427, BStBl II 2015, 152, Rz 32; und vom 08.09.2016 – III R 27/15, BFHE 255, 202, BStBl II 2017, 278, Rz 22[↩]
- BFH, Urteil vom 15.07.2003 – VIII R 47/02, BFHE 203, 106, BStBl II 2003, 848, unter II. 1.c; BFH, Urteil vom 13.06.2013 – III R 58/12, BFHE 242, 118, BStBl II 2014, 834[↩]
- BFH, Urteil vom 20.07.2006 – III R 69/04, BFH/NV 2006, 2067, unter II. 1.c[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 203, 106, BStBl II 2003, 848, unter II. 1.c; BFH, Urteil in BFH/NV 2006, 2067, unter II. 1.c[↩]
- BFH, Urteil vom 31.08.2021 – III R 41/19, NJW 2022, 718[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 242, 118, BStBl II 2014, 834, Rz 13[↩]
- BFH, Urteil vom 12.11.2020 – III R 49/18, BFHE 271, 229, Rz 14[↩]
- BFH, Urteil vom 27.11.2019 – III R 44/17, BFHE 267, 337, BStBl II 2020, 558, Rz 26[↩]
- BFH, Urteil in NJW 2022, 718[↩]
- BFH, Urteil vom 18.06.2015 – VI R 31/14, BFHE 251, 147, BStBl II 2016, 40, Rz 22; BFH, Urteil in BFHE 267, 337, BStBl II 2020, 558, Rz 26[↩]
- BFH, Urteil vom 19.01.2017 – III R 44/14, BFH/NV 2017, 735, Rz 18[↩]