Kindergeld – und die Opferrente des behinderten volljährigen Kindes

Eine Grundrente nach § 1 Abs. 1 OEG i.V.m. § 31 BVG ist nicht als Bezug eines behinderten volljährigen Kindes zu berücksichtigen.

Kindergeld – und die Opferrente des behinderten volljährigen Kindes

Eine Grundrente, die ein volljähriges behindertes Kind, das dieses als Opfer einer Gewalttat bezieht, steht daher der Gewährung von Kindergeld nicht entgegen.

In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall hat der Vater einer volljährigen Tochter geklagt, bei der eine Behinderung vorliegt. Die Tochter wurde Opfer einer Gewalttat und erhielt deshalb eine Beschädigtengrundrente nach dem Opferentschädigungsgesetz. Der Vater bezog für die Tochter wegen der vorliegenden Behinderung auch nach deren Volljährigkeit Kindergeld. Da die Tochter verheiratet ist, berücksichtigte die Familienkasse bei der Berechnung der der Tochter zur Verfügung stehenden Einkünfte und Bezüge auch den der Tochter gegen ihren Ehemann zustehenden Unterhaltsanspruch. Unter Hinzurechnung der Beschädigtengrundrente und weiterer Sozialleistungen kam die Familienkasse zu dem Ergebnis, dass sich die Tochter ab Oktober 2019 selbst unterhalten könne. Die Kindergeldfestsetzung zugunsten des Vater hob sie deshalb auf.

Das Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern gab der dagegen gerichteten Klage statt1. Die hiergegen gerichtete Revision der Familienkasse hat der Bundesfinanzhof als unbegründet zurückgewiesen:

Volljährige Kinder, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, werden kindergeldrechtlich u.a. dann berücksichtigt, wenn sie wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, und die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG). Ob das Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, bestimmt sich anhand eines Vergleichs zwischen dem Grundbedarf und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf auf der einen Seite und den Einkünften und Bezügen des Kindes auf der anderen Seite. Das Opferentschädigungsgesetz sieht für die Opfer von Gewalttaten verschiedene Versorgungsleistungen vor, die es dem Bundesversorgungsgesetz entnimmt. Danach kommen insbesondere Heilbehandlungen der Schädigung, einkommensunabhängige Rentenleistungen aufgrund der bleibenden Schädigungsfolgen sowie einkommensabhängige Leistungen mit Lohnersatzfunktion in Betracht. Im Streitfall erhielt das Kind eine Beschädigtengrundrente. Eine solche Grundrente dient in erster Linie dazu, den immateriellen Schaden abzudecken, den das Opfer durch die Gewalttat erlitten hat. Insoweit dient sie nicht dazu, den Lebensunterhalt des Opfers und seiner Familie sicherzustellen. Selbst wenn die Beschädigtengrundrente daneben auch materielle Schäden des Opfers abdecken sollte, wären die verschiedenen Leistungskomponenten zum einen nicht trennbar. Zum anderen dürften dann nicht nur entsprechende Rentenbezüge angesetzt werden, sondern die Familienkasse hätte berücksichtigen müssen, dass das Kind auch einen entsprechend höheren behinderungsbedingten Mehrbedarf hat, der die Rente wieder ausgleicht.

Weiterlesen:
Kindergeld während des Studiums

Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, und die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist, sofern nicht aufgrund der Übergangsregelung des § 52 Abs. 40 Satz 5 EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 2007 vom 19.07.20062, inzwischen § 52 Abs. 32 Satz 1 EStG, weiterhin die vorher geltende Altersgrenze (Vollendung des 27. Lebensjahres) maßgeblich ist.

Das Tatbestandsmerkmal „außerstande […], sich selbst zu unterhalten“ wird im Gesetz nicht näher umschrieben. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann3. Die Fähigkeit zum Selbstunterhalt ist dabei anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des aus dem Grundbedarf und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf bestehenden gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits4. Diese Prüfung hat für jeden Monat gesondert zu erfolgen5.

Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst Aufwendungen, die gesunde Kinder nicht haben. Dazu gehören alle mit einer Behinderung zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen, insbesondere solche für Hilfen bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens6. Diese können einzeln nachgewiesen oder mit dem maßgeblichen Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) angesetzt werden.

Weiterlesen:
Private Krankenversicherung und Hartz IV

Das Finanzgericht hat zu Recht entschieden, dass die von A bezogene Rente nach § 1 Abs. 1 OEG im Hinblick auf die behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt nicht zu den Einkünften und Bezügen gehört.

Eine Schmerzensgeldrente ist bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines behinderten Kindes nicht zu berücksichtigen, weil dies der Sonderfunktion des Schmerzensgeldes widersprechen würde, immaterielle Schäden abzumildern; Schmerzensgeld hat nicht die Funktion, zur materiellen Existenzsicherung beizutragen7.

Dies trifft auch bei der Rente nach § 1 Abs. 1 OEG zu.

Das OEG regelt die Versorgungsleistungen nicht im Einzelnen, sondern verweist in § 1 Abs. 1 OEG auf den Leistungskatalog des BVG. Danach kommen insbesondere Heilbehandlungen der Schädigung, einkommensunabhängige Rentenleistungen aufgrund der bleibenden Schädigungsfolgen sowie einkommensabhängige Leistungen mit Lohnersatzfunktion in Betracht.

Das Finanzgericht hat nicht ausdrücklich festgestellt, dass es sich bei der von A bezogenen Rente um eine sog. Grundrente nach § 31 BVG handelt. Dies ergibt sich aber aus dem übereinstimmenden Vortrag der Beteiligten und ist zudem offensichtlich, da die monatlich gezahlten 151 € im Streitzeitraum dem bei einem Grad der Schädigungsfolgen von 30 zu beanspruchenden Betrag entsprechen (§ 31 Abs. 1 Satz 1 BVG).

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem die Verwertung einer angesparten Beschädigtengrundrente zur Deckung eines sozialhilferechtlichen Bedarfs betreffenden Urteil vom 27.05.20108 ausgeführt, bei der Rente nach § 1 Abs. 1 OEG handele es sich um eine Sozialleistung, die zwar einerseits typisierend und pauschalierend einen besonderen schädigungs- oder behinderungsbedingten Mehraufwand abdecken solle, andererseits aber maßgeblich dadurch geprägt sei, dass sie als Entschädigung für die Beeinträchtigung der körperlichen Integrität immateriellen (ideellen) Zwecken wie der Genugtuung für erlittenes Unrecht diene. Letzteres gelte besonders für die nach dem OEG berechtigten Opfer von Straftaten, die gerade auch deshalb entschädigt würden, weil sie einen erheblichen Schaden an immateriellen Rechtsgütern erlitten hätten. Dass die Beschädigtengrundrente überwiegend immaterielle Zwecke verfolge, ergebe sich aus ihrer gesetzlichen Ausgestaltung und ihrem systematischen Verhältnis zu anderen Leistungen des BVG. Die Grundrente diene nach der gesetzlichen Konzeption ungeachtet ihrer wirtschaftlichen Bedeutung nicht der Linderung konkreter Not; sie setze keine Bedürftigkeit voraus und solle nicht den Lebensunterhalt des Beschädigten und seiner Familie sicherstellen.

Weiterlesen:
Kindergeldrückforderung - und der Billigkeitserlass

Der Bundesfinanzhof schließt sich der Auslegung an, dass die Grundrente maßgeblich auch immaterielle Schäden ausgleichen soll und ihre immaterielle und ihre materielle Komponente nicht voneinander getrennt werden können9. Dies dürfte auch der Grund dafür sein, dass die Grundrente gemäß § 25d Abs. 1 Satz 2 BVG in der im Streitzeitraum geltenden Fassung nicht als Einkommen galt und nach § 82 Abs. 1 Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch in der im Streitzeitraum geltenden Fassung im Hinblick auf die Sozialhilfe ausdrücklich nicht zum Einkommen gehörte. Des Weiteren ist auch durch ihre Ansparung gebildetes Vermögen binnen eines Jahres nicht für die Sozialhilfe einzusetzen10. Eine angesparte Rente nach dem OEG muss vom Mündel auch nicht für die Vergütung des Vormundes eingesetzt werden11.

Selbst wenn der Bundesfinanzhof der Familienkasse darin folgen würde, dass die Grundrente nach § 1 Abs. 1 OEG i.V.m. § 31 BVG -im Streitfall- als Sozialleistung typisierend und pauschalierend einen besonderen schädigungs- oder behinderungsbedingten Mehrbedarf abdecken würde, wäre sie zwar als Bezug zu berücksichtigen. Dies verhülfe der Revision aber nicht zum Erfolg. Denn -anders als in der von der Familienkasse angestellten Berechnung- wäre im Streitfall dann auch als behinderungsbedingter Mehrbedarf ein Betrag in Höhe der Rente anzusetzen, wie dies z.B. auch bei der Eingliederungshilfe12 oder dem Pflegegeld13 geschieht. Selbst wenn man deshalb im Streitfall den anteiligen Behindertenpauschbetrag nicht (zusätzlich) auf der Bedarfsseite ansetzen würde, bestünde hier weiterhin eine Unterdeckung.

Weiterlesen:
Kindergeld während Mutterschutzfrist und Elternzeit

Bundesfinanzhof, Urteil vom 20. April 2023 – III R 7/21

  1. FG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 28.01.2021 – 3 K 126/20[]
  2. BGBl I 2006, 1652[]
  3. z.B. BFH, Urteil vom 15.10.1999 – VI R 183/97, BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, unter 1.b; BFH, Urteile vom 05.02.2015 – III R 31/13, BFHE 249, 144, BStBl II 2015, 1017, Rz 13, und in BFHE 253, 249, BStBl II 2016, 648, Rz 10, m.w.N.[]
  4. z.B. BFH, Urteile in BFHE 253, 249, BStBl II 2016, 648, Rz 10; vom 19.01.2017 – III R 44/14, BFH/NV 2017, 735, Rz 29; und vom 27.11.2019 – III R 28/17, BFHE 268, 13, BStBl II 2021, 807, Rz 16[]
  5. ständige Rechtsprechung, z.B. BFH, Urteil vom 11.04.2013 – III R 35/11, BFHE 241, 499, BStBl II 2013, 1037[]
  6. BFH, Urteil in BFHE 268, 13, BStBl II 2021, 807, Rz 19[]
  7. BFH, Urteil in BFHE 253, 249, BStBl II 2016, 648[]
  8. BVerwG, Urteil vom 27.05.2010 – 5 C 7/09, BVerwGE 137, 85[]
  9. vgl. BSG, Urteil vom 30.04.2020 – B 8 SO 12/18 R, SozR 4-3500 § 90 Nr. 10, SozR 4-3100 § 25f Nr. 1, Rz 18[]
  10. BSG, Urteil in SozR 4-3500 § 90 Nr. 10, SozR 4-3100 § 25f Nr. 1[]
  11. OLG Hamm, Beschluss vom 13.11.2015 – II-6 WF 272/14[]
  12. BFH, Urteil vom 09.02.2012 – III R 53/10, BFHE 236, 417, BStBl II 2014, 391[]
  13. BFH, Urteil vom 20.10.2022 – III R 13/21, NJW 2023, 941[]
Weiterlesen:
Jugendhilferechtlicher Kostenbeitrag und das Geschwisterkindergeld