Kindergeld während eines Praxisjahres?

Ob eine innerhalb eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses ausgeübte Tätigkeit als Berufsausbildung anzusehen ist, hängt davon ab, ob die Erlangung beruflicher Qualifikationen oder die Erbringung von Arbeitsleistungen im Vordergrund steht1

Kindergeld während eines Praxisjahres?

Sofern bei der Prüfung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG eine einheitliche, aus mehreren Ausbildungsabschnitten bestehende Erstausbildung mit daneben ausgeübter Erwerbstätigkeit von einer berufsbegleitend durchgeführten Weiterbildung (Zweitausbildung) abgegrenzt werden muss, ist anhand einer Gesamtbetrachtung der Verhältnisse zu entscheiden, ob die nach Erlangung des (ersten) Abschlusses aufgenommene Berufstätigkeit die Hauptsache und die weitere Ausbildungsmaßnahme eine auf Weiterbildung und/oder Aufstieg in dem bereits aufgenommenen Berufszweig gerichtete Nebensache darstellt. Dabei ist u.a. die zeitliche Verteilung von Arbeitstätigkeiten und Ausbildungsmaßnahmen in den Blick zu nehmen und zu prüfen, ob die Beschäftigung nach ihrem äußeren Erscheinungsbild „neben der Ausbildung“ durchgeführt wird2. Insoweit ist die Abgrenzung von Hauptsache und Nebensache auf den jeweiligen Ausbildungsabschnitt bezogen und nicht abschnittsübergreifend vorzunehmen.

In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall war strittig, ob ein Kindergeldanspruch für ein volljähriges Kind besteht, welches nach dem Abschluss einer Lehre und vor der Aufnahme in eine Fachschule im Rahmen eines Praxisjahres in verschiedenen Betrieben tätig war. Der Sohn hatte die Schule im Juni 2015 mit dem Abitur beendet und im Juli 2017 eine Berufsausbildung zum Landwirt abgeschlossen. Als Berufsziel strebte er den Abschluss eines staatlich geprüften Agrarbetriebswirts an. Hierzu hatte er sich im Juni 2017 bei dem Berufskolleg der Landwirtschaftskammer A im Bildungsgang Fachschule für Agrarwirtschaft – Fachrichtung Landwirtschaft (Fachschule) angemeldet. Zur Abschlussprüfung der Fachschule wird nur zugelassen, wer nach der Ausbildung ein Praxisjahr nachweisen kann. Die Trägerin der Fachschule empfiehlt, das Praxisjahr vor dem Beginn der Fachschulausbildung zu absolvieren. Im März 2018 erhielt der Sohn unter Vorbehalt die Zulassung zum Besuch der Fachschule im Schuljahr 2018/2019, weil er die geforderte Berufspraxis noch nicht (vollständig) nachgewiesen hatte. Die Trägerin der Fachschule bescheinigte ihm im August 2018, dass der Besuch der Schule ein einjähriges Praxisjahr voraussetze. Der Sohn war von August bis Dezember 2017 (Streitzeitraum) in zwei verschiedenen Betrieben tätig. Danach war er von April bis Juli 2018 auf einer Farm im Ausland tätig.

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Die Familienkasse lehnte einen Antrag der Mutter auf Festsetzung von Kindergeld ab August 2017 ab. Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Auf die hiergegen gerichtete Klage der Mutter verpflichtete das Finanzgericht Münster die Familienkasse unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides , zugunsten der Mutter für den Sohn Kindergeld für August bis Dezember 2017 festzusetzen3. Auf die Revision der Familienkasse hob der Bundesfinanzhof das finanzgerichtliche Urteil auf und verwies den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück an das Finanzgericht Münster:

Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) wird für ein Kind, welches das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat, Kindergeld u.a. dann gewährt, wenn es für einen Beruf ausgebildet wird (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist unter Berufsausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG die Ausbildung zu einem künftigen Beruf zu verstehen4.

In Berufsausbildung i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG befindet sich, wer sein Berufsziel noch nicht erreicht hat, sich aber ernsthaft und nachhaltig darauf vorbereitet. Der Vorbereitung auf ein Berufsziel dienen alle Maßnahmen, bei denen es sich um den Erwerb von Kenntnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen handelt, die als Grundlagen für die Ausübung des angestrebten Berufs geeignet sind, und zwar unabhängig davon, ob die Ausbildungsmaßnahmen in einer Ausbildungsordnung oder Studienordnung vorgeschrieben sind5.

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Ob es sich bei einer Tätigkeit als Volontär, als Trainee oder als bezahlter Praktikant um eine Berufsausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG oder um ein Arbeitsverhältnis handelt, hängt nicht von der Bezeichnung der Maßnahme ab6. Entscheidend ist vielmehr, ob die Erlangung beruflicher Qualifikationen oder die Erbringung von Arbeitsleistungen im Vordergrund steht7. Gleiches gilt für eine innerhalb eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses stattfindende Ausbildung. Dabei ist das Arbeits- oder Dienstverhältnis trotz des Monatsprinzips des § 66 Abs. 2 EStG als Einheit zu betrachten und daraufhin zu untersuchen, ob „insgesamt“ der Ausbildungscharakter oder der Erwerbscharakter überwiegt8. Kriterien, die im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Umstände für einen im Vordergrund stehenden Ausbildungscharakter sprechen können, sind etwa das Vorhandensein eines Ausbildungsplans, die Unterweisung in Tätigkeiten, welche qualifizierte Kenntnisse und/oder Fertigkeiten erfordern, die Erlangung eines die angestrebte Berufstätigkeit ermöglichenden Abschlusses und ein gegenüber einem normalen Arbeitsverhältnis geringeres Entgelt9.

Der Ausbildungscharakter steht auch stets dann im Vordergrund, wenn die Voraussetzungen eines Ausbildungsdienstverhältnisses vorliegen10. Ein Ausbildungsdienstverhältnis setzt nicht nur ein Dienstverhältnis besonderer Art voraus, das durch den Ausbildungszweck geprägt ist. Hinzukommen muss, dass die Ausbildungsmaßnahme selbst Gegenstand und Ziel des Dienstverhältnisses ist. Die vom Dienstverpflichteten geschuldete Leistung, für die der Dienstherr bezahlt, muss in der Teilnahme an der Berufsausbildungsmaßnahme bestehen11.

Nach Maßgabe der vorgenannten Grundsätze kann der Bundesfinanzhof auf der Grundlage der vom Finanzgericht bisher getroffenen Feststellungen nicht entscheiden, ob die ganz oder teilweise im Streitzeitraum liegenden Beschäftigungsverhältnisse des Sohnes bei den beiden Betrieben jeweils Berufsausbildungsmaßnahmen darstellen, weil die Erlangung beruflicher Qualifikationen im Vordergrund stand. Das Finanzgericht hat für die Gesamtwürdigung dieser Beschäftigungsverhältnisse wesentliche Umstände nicht festgestellt bzw. unberücksichtigt gelassen, sodass es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die Einordnung als Berufsausbildung fehlt.

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Das Finanzgericht Münster ist zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Berufsausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG vorliege, weil der Sohn zur Erlangung seines Berufsziels (staatlich geprüfter Agrarbetriebswirt) in verschiedenen Betrieben eingesetzt worden sei und dort ausweislich der jeweiligen Praktikumsbescheinigungen dafür notwendige Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen erworben habe. Es handele sich auch nicht um eine schädliche Erwerbstätigkeit nach Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG, denn es lägen mehrere Ausbildungsabschnitte vor. Die Praktikantentätigkeit sei insbesondere angesichts des Zeitpunkts ihrer Ableistung, ihrer zeitlichen Befristung sowie ihres zeitlichen Umfangs von insgesamt einem Jahr im Verhältnis zu den Ausbildungsmaßnahmen des nächsten Ausbildungsabschnitts (zwei Jahre Fachschule) als untergeordnete Tätigkeit anzusehen. Zudem sei die geforderte Berufspraxis als vorgeschriebenes Praktikum i.S. von Kapitel A 15.8 Abs. 2 Satz 1 DA-KG anzusehen.

Damit hat das Finanzgericht zwar festgestellt, dass der Sohn im Streitzeitraum im Hinblick auf die für den Berufsabschluss „staatlich geprüfter Agrarbetriebswirt“ nötige praktische Tätigkeit in einem Agrar- und einem Forstbetrieb beschäftigt war und dabei Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen gewonnen hat. Aber zu den außerdem maßgeblichen und in die Gesamtwürdigung einzustellenden Tatsachen, ob der Sohn jeweils in Tätigkeiten unterwiesen wurde, die qualifizierte Kenntnisse und/oder Fertigkeiten erfordern, ob jeweils ein Ausbildungsplan vorhanden war und in welcher Höhe der Sohn ein Entgelt erhielt, verhalten sich die Entscheidungsgründe -auch unter Berücksichtigung der darin in Bezug genommenen Bescheinigungen- nicht.

Dem Zeugnis des ersten Betriebes  ist der Zeitraum zu entnehmen, in dem der Sohn in dem Betrieb gearbeitet hat. Außerdem wird die Art der Tätigkeit beschrieben und ausgeführt, welchen Nutzen die vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten des Sohnes für den Betrieb hatten. Hinweise auf Ausbildungselemente finden sich nicht. Auch das Arbeitszeugnis des zweiten Betriebes gibt Auskunft über den Tätigkeitszeitraum und die Arbeitsschwerpunkte. Dem Sohn wird darin u.a. eine hohe Lern- und Arbeitsbereitschaft bescheinigt. Konkrete Ausbildungsmaßnahmen werden jedoch nicht angesprochen. Vielmehr wird ausgeführt, dass sich der Sohn selbstständig in die ihm übertragenen Arbeitsbereiche und Themenstellungen der Forstwirtschaft eingearbeitet habe.

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Das Finanzgericht hat die notwendige Gesamtwürdigung des Beschäftigungsverhältnisses des Sohnes mit dem zweiten Betrieb nicht im Rahmen der Prüfung einer schädlichen Erwerbstätigkeit i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG vorgenommen.

Soweit das Finanzgericht dabei auf die praktische Tätigkeit abgestellt hat, hat es die Befristung, den Zeitpunkt und den zeitlichen Aufwand in den Blick genommen und diese Umstände in Beziehung zur Ausbildung an der Fachschule gesetzt. Es hat damit aber keine Ausbildungselemente bezeichnet oder gewichtet. Soweit das Finanzgericht den Praktikantenvertrag herangezogen hat, fehlen Feststellungen dazu, wie z.B. die in § 2 Abs. 1 des Praktikantenvertrages geregelte Pflicht des Betriebs umgesetzt wurde, den Sohn im Betrieb so einzusetzen, dass der Erwerb von Erfahrungen und Kenntnissen i.S. der Ausbildungsordnung ermöglicht wird. So ist insbesondere offen geblieben, ob fachkundige Mitarbeiter des Betriebs dem Sohn das entsprechende Wissen aufgrund eines Ausbildungsplans vermittelt haben oder ob der Sohn vielmehr seine Erfahrungen bei der täglichen Arbeit ohne eine solche Anleitung gesammelt hat.

Sofern bei der Prüfung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG eine einheitliche, aus mehreren Ausbildungsabschnitten bestehende Erstausbildung mit daneben ausgeübter Erwerbstätigkeit von einer berufsbegleitend durchgeführten Weiterbildung (Zweitausbildung) abgegrenzt werden muss, ist anhand einer Gesamtbetrachtung der Verhältnisse zu entscheiden, ob die nach Erlangung des (ersten) Abschlusses aufgenommene Berufstätigkeit die Hauptsache und die weitere Ausbildungsmaßnahme eine auf Weiterbildung und/oder Aufstieg in dem bereits aufgenommenen Berufszweig gerichtete Nebensache darstellt. In diese Gesamtbetrachtung ist u.a. die zeitliche Verteilung von Arbeitstätigkeit und Ausbildungsmaßnahmen einzubeziehen, mithin zu prüfen, ob die Beschäftigung nach ihrem äußeren Erscheinungsbild „neben der Ausbildung“ durchgeführt wird12. Insoweit ist die Abgrenzung von Hauptsache und Nebensache auf den jeweiligen Ausbildungsabschnitt bezogen und nicht abschnittsübergreifend vorzunehmen.

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Im Streitfall sind daher die jeweils auf die Arbeitstätigkeit und auf die Ausbildungsmaßnahmen entfallenden Zeitanteile der Beschäftigungsverhältnisse gegenüberzustellen. Entgegen der vom Finanzgericht vertretenen Auffassung kommt es dabei auf die Dauer des Praxisjahres im Verhältnis zur Dauer der Fachschulausbildung nicht an.

Solange ein im Vordergrund stehender Ausbildungscharakter nicht feststeht, kann die Tätigkeit des Sohnes in den land- bzw. forstwirtschaftlichen Betrieben ungeachtet der von den Vertragsparteien gewählten Bezeichnung nicht als Praktikum (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 3 des Gesetzes zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns) eingeordnet werden.

Die Sache war allerdings noch nicht spruchreif. Das Finanzgericht wird im zweiten Rechtsgang insbesondere zu prüfen haben, ob bei den in den beiden Betrieben ausgeübten Tätigkeiten jeweils die Erlangung beruflicher Qualifikationen (Ausbildungscharakter) oder die Erbringung bezahlter Arbeitsleistungen (Erwerbscharakter) im Vordergrund stand. Es wird für die dabei -bezogen auf die beiden Beschäftigungsverhältnisse jeweils getrennt- vorzunehmende Gesamtwürdigung namentlich Feststellungen zur konkreten Ausgestaltung der Tätigkeit des Sohnes im jeweiligen Betrieb, zu etwaigen Ausbildungselementen sowie zu dem vom Sohn hierbei erzielten Entgelt treffen müssen.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 23. März 2022 – III R 41/20

  1. vgl. BFH, Urteil vom 22.02.2017 – III R 20/15, BFHE 257, 274, BStBl II 2017, 913[]
  2. vgl. BFH, Urteil vom 11.12.2018 – III R 26/18, BFHE 263, 209, BStBl II 2019, 765[]
  3. FG Münster, Urteil vom 08.08.2019 – 4 K 3925/17 Kg[]
  4. vgl. BFH, Urteil vom 22.02.2017 – III R 20/15, BFHE 257, 274, BStBl II 2017, 913, Rz 12, m.w.N.[]
  5. BFH, Urteil in BFHE 257, 274, BStBl II 2017, 913, Rz 12, m.w.N.[]
  6. BFH, Urteil vom 26.08.2010 – III R 88/08, BFH/NV 2011, 26, Rz 13[]
  7. BFH, Urteil vom 09.06.1999 – VI R 50/98, BFHE 189, 98, BStBl II 1999, 706, unter 2.; BFH, Urteile vom 21.01.2010 – III R 17/07, BFH/NV 2010, 1423, Rz 18, und in BFH/NV 2011, 26, Rz 13[]
  8. BFH, Urteile in BFHE 257, 274, BStBl II 2017, 913, Rz 13, m.w.N.; und vom 07.07.2021 – III R 24/19, BFH/NV 2021, 1486, Rz 23[]
  9. vgl. BFH, Urteil in BFHE 189, 98, BStBl II 1999, 706, unter 2. und 3.; BFH, Urteile vom 16.09.2015 – III R 6/15, BFHE 251, 31, BStBl II 2016, 281, Rz 12; und vom 10.04.2019 – III R 37/18, BFH/NV 2019, 1103, Rz 12; s.a. Kapitel A 15.2 Satz 2 der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz, Stand 2021 -DA-KG-, BStBl I 2021, 1599, zur Berücksichtigung eines Anlernverhältnisses als Ausbildung[]
  10. BFH, Urteile in BFHE 257, 274, BStBl II 2017, 913, Rz 14, und in BFH/NV 2019, 1103, Rz 14[]
  11. BFH, Urteile in BFHE 251, 31, BStBl II 2016, 281, Rz 22, m.w.N., und in BFH/NV 2019, 1103, Rz 14[]
  12. BFH, Urteil vom 11.12.2018 – III R 26/18, BFHE 263, 209, BStBl II 2019, 765, Rz 17 bis 19[]
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