Kindergeld wegen Ausbildungsplatzsuche – und die Erkrankung des Kindes

Ein Kind ist kindergeldrechtlich nicht als Kind, das einen Ausbildungsplatz sucht, zu berücksichtigen, wenn es erkrankt und das Ende der Erkrankung nicht absehbar ist.

Kindergeld wegen Ausbildungsplatzsuche – und die Erkrankung des Kindes

Dies entschied jetzt der Bundesfinanzhof auf die Klage des Vaters eines Sohnes, der sich wegen langjährigen Drogenkonsums in Therapie befand. Der Sohn hatte die Schule abgebrochen. Im Juli 2017 beantragte der Vater Kindergeld für seinen Sohn nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG, weil dieser einen Ausbildungsplatz suche und seine Ausbildungswilligkeit auch bekundet habe. Aus ärztlichen Bescheinigungen ging allerdings hervor, dass noch in den Monaten Juni und Juli 2017 das Ende der Erkrankung nicht absehbar war. Die Familienkasse lehnte die Gewährung von Kindergeld für die Zeit bis Mai 2017 ab.

Dagegen sprach das Finanzgericht Hamburg dem Vater das Kindergeld für den Zeitraum September 2016 bis Mai 2017 zu, weil es die allgemeine Ausbildungswilligkeit des Sohnes genügen ließ1. Auf die Revision der Familienkasse hob der Bundesfinanzhof das finanzgerichtliche Urteil auf. Er war der Ansicht, bei einem erkrankten Kind komme eine Berücksichtigung als Kind, das einen Ausbildungsplatz sucht, nur dann in Betracht, wenn das Ende der Erkrankung absehbar sei. Dies sei in dem Zeitraum, für den das Kindergeld streitig war, nicht der Fall gewesen. Dies folge aus den ärztlichen Bescheinigungen. Entgegen der Rechtsansicht des Finanzgerichts Hamburg reiche die allgemein gehaltene Aussage des Kindes, nach dem Ende der Erkrankung eine Ausbildung aufnehmen zu wollen, nicht aus. Das Kindergeld für den streitigen Zeitraum ist damit allerdings nicht endgültig verloren. Der Bundesfinanzhof verwies die Streitsache an das Finanzgericht zurück, damit dieses prüft, ob der Sohn als behindertes Kind (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG) berücksichtigt werden kann.

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Kindergeld wird nach § 62 Abs. 1 Satz 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG für ein Kind gewährt, das das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat und das eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann.

Kinder, die einen Ausbildungsplatz suchen, sollen mit denen, die bereits einen Ausbildungsplatz gefunden haben, gleichgestellt werden. Dies setzt voraus, dass der Beginn der Ausbildung nicht an anderen Umständen als dem Mangel eines Ausbildungsplatzes scheitert2. Dabei ist zwar grundsätzlich jeder Ausbildungswunsch des Kindes zu berücksichtigen; seine Verwirklichung darf jedoch nicht an den persönlichen Verhältnissen des Kindes scheitern3. Das Kind muss die Ausbildungsstelle im Falle des Erfolgs seiner Bemühungen antreten können4.

In der Person des Kindes liegende Gründe, welche der Aufnahme einer Berufsausbildung entgegenstehen, liegen z.B. vor, wenn ein Kind nicht die Voraussetzungen für den angestrebten Studiengang erfüllt5 oder wenn ausländerrechtliche Gründe einer Berufsausbildung entgegenstehen6. Ein Kind ist auch dann nicht zu berücksichtigen, wenn es eine Ausbildung wegen Übergewichts nicht antreten könnte7. Für den Bezug von Kindergeld ist es ausnahmsweise unschädlich, wenn das Kind wegen der Schutzfristen nach dem Mutterschutzgesetz (MuSchG) an der Aufnahme einer Berufsausbildung gehindert ist8.

Fälle, in denen ein Kind aus Gesundheitsgründen dauerhaft gehindert ist, eine Berufsausbildung oder Erwerbstätigkeit aufzunehmen und deshalb unterhaltsberechtigt ist, werden durch § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG gesetzlich typisiert. Hiernach ist ein Kind zu berücksichtigen, das wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, sofern die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist. Der Begriff der Behinderung orientiert sich an § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch -SGB IX-9. Nach der derzeitigen Definition des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX i.d.F. des Bundesteilhabegesetzes vom 23.12.201610 sind Menschen behindert, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Nach der vorherigen Definition des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist ein Mensch behindert, wenn seine körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach beiden Fassungen ist somit Voraussetzung für die Annahme einer Behinderung, dass eine Beeinträchtigung mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert. Ist das Ende einer der in § 2 Abs. 1 SGB IX aufgezählten Beeinträchtigungen, die ein Kind daran hindert, sich um eine Berufsausbildung zu bemühen, nicht absehbar, so sind in der Regel die Voraussetzungen einer Behinderung in zeitlicher Hinsicht erfüllt.

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Entgegen der Rechtsauffassung des Finanzgerichts Hamburg reicht in Fällen, in denen ein Kind aus Krankheitsgründen gehindert ist, einen Ausbildungsplatz zu suchen oder in denen derartige Bemühungen angesichts der Erkrankung sinnlos wären, die allgemeine Ausbildungswilligkeit, die auf eine in der Zukunft zu beginnende Berufsausbildung gerichtet ist, nicht aus. Vielmehr muss das Ende der Erkrankung absehbar sein. Dementsprechend hat der Bundesfinanzhof in der Entscheidung zur Unterbrechung der Ausbildungsplatzsuche im Urteil in BFHE 242, 118, BStBl II 2014, 834 auf die regelmäßig auf 14 Wochen beschränkten Fristen nach dem MuSchG hingewiesen; die Frage, ab welcher Zeitdauer die Erkrankung eines Kindes dessen Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG ausschließt, hat er offengelassen.

Im hier entschiedenen Streitfall war die Zeit bis zur Aufnahme einer künftigen Berufsausbildung keine Frage von Wochen oder Monaten. Denn sowohl der behandelnde Arzt als auch der behandelnde Psychologe gaben im finanzgerichtlichen Verfahren an, dass die Ausbildungsfähigkeit des Sohnes nicht absehbar gewesen sei. Die ärztliche Bescheinigung vom 12.07.2017, die die Familienkasse dahingehend verstanden hat, dass die Erkrankung des Sohnes voraussichtlich bis zum 31.12.2017 beendet sein werde, muss schon deshalb außer Betracht bleiben, weil sie erst nach dem Streitzeitraum ausgestellt wurde und keine Aussage zu der davor liegenden Zeit trifft. Noch in der ärztlichen Bescheinigung vom 26.06.2017 war angegeben, dass das Ende der Erkrankung nicht absehbar sei. Somit war im Streitzeitraum auch nicht der Beginn einer Berufsausbildung des  Sohnes absehbar. Eine Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG scheidet damit aus. Ob eine Berücksichtigung auch daran scheitert, dass -wie die Familienkasse meint- die auf Vordruck abgegebene Erklärung vom 26.06.2017 des Sohnes über seine Absicht, sich unmittelbar nach dem Ende der Erkrankung um eine Berufsausbildung bemühen zu wollen, nicht auf den Streitzeitraum zurückwirkt, kann daher offenbleiben11.

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Die Streitsache ist nicht spruchreif und geht an das Finanzgericht zurück, das zu prüfen haben wird, ob der Sohn als behindertes Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen ist.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 12. November 2020 – III R 49/18

  1. FG Hamburg, Urteil vom 31.07.2018 – 6 K 192/17[]
  2. BFH, Urteile vom 07.04.2011 – III R 24/08, BFHE 233, 44, BStBl II 2012, 210, sowie vom 13.06.2013 – III R 58/12, BFHE 242, 118, BStBl II 2014, 834[]
  3. BFH, Urteil vom 15.07.2003 – VIII R 71/99, BFH/NV 2004, 473[]
  4. BFH, Urteil vom 15.07.2003 – VIII R 79/99, BFHE 203, 94, BStBl II 2003, 843; BFH, Urteile vom 27.09.2012 – III R 70/11, BFHE 239, 116, BStBl II 2013, 544, sowie vom 18.01.2018 – III R 16/17, BFHE 260, 481, BStBl II 2018, 402[]
  5. BFH, Urteil in BFH/NV 2004, 473[]
  6. BFH, Urteil in BFHE 233, 44, BStBl II 2012, 210[]
  7. BFH, Beschluss vom 08.11.1999 – VI B 322/98, BFH/NV 2000, 432[]
  8. BFH, Urteil in BFHE 242, 118, BStBl II 2014, 834[]
  9. BFH, Urteil vom 19.01.2017 – III R 44/14, BFH/NV 2017, 735, m.w.N.[]
  10. BGBl I 2016, 3234[]
  11. vgl. A 17.2 Abs. 1 Satz 4 der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz Stand 2020 vom 27.08.2020, BStBl I 2020, 703[]
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