Eine Hörgeräteversorgung ist bereits dann vom Unfallversicherungsträger zu leisten, wenn die MdE 10 % oder unter 10 % beträgt, solange die beruflich bedingte Lärmschwerhörigkeit des Versicherten nur eine wesentliche Teilursache darstellt.

So die Entscheidung des Sozialgerichts Karlsruhe in dem hier vorliegenden Fall eines Klägers, der die Übernahme der Kosten zur Hörgeräteversorgung begehrt. Der 1957 geborene Kläger hat bis Mai 1978 in seinem erlernten Beruf als Maler und Lackierer gearbeitet. Danach war er von Mai 1978 bis März 1985 als Bauhelfer bei der Firma B. und von Mai 1985 bis November 1988 wiederum als Bauhelfer bei der Firma S. versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Seit dem 7. November 1988 übte der Kläger eine Tätigkeit als Versandarbeiter bei der Firma B. aus. Hier war er als Schichtführer tätig. Dabei hatte er Isolierglas sowie fertig verpackte Glasscheiben mit einem Flurförderfahrzeug, Typ Linde H 30, zu laden und zu entladen. Am 12. März 1999 erstattete die HNO-Ärztin Dr. S. , B. , eine ärztliche Anzeige über eine Berufskrankheit nach BK Nr. 2301 (Lärmschwerhörigkeit). Darin führte sie die beim Kläger bestehende beidseitige Innenohrschwerhörigkeit sowie einen rechtsseitigen Tinnitus auf Lärmarbeiten mit Bohrhammer, Flex, Kompressor, Rüttler, Betonmaschinen usw. zurück. Den Beginn der Schwerhörigkeit des Klägers datiere sie auf das Jahr 1990. Die Beklagte erkannte mit Bescheid vom 14. April 2000 unter Feststellung einer „beiderseitigen geringgradigen Hochtoninnenohrschwerhörigkeit“ das Vorliegen einer Berufskrankheit nach Nr. 2301 (Lärmschwerhörigkeit) nach Anlage 1 der BKV an. Gleichzeitig lehnte sie die Gewährung einer Verletztenrente mit der Begründung ab, die Berufskrankheit habe keine MdE in rentenberechtigendem Grade zur Folge. Am 5. Februar 2003 verordnete der HNO-Arzt Dr. J. eine beidseitige Hörgeräteversorgung des Klägers. Die Kosten für die Hörgeräteversorgung übernahm die Beklagte.
Am 11. März 2010 verordnete HNO-Arzt Dr. J. dem Kläger erneut eine beidseitige Hörgeräteversorgung. Nunmehr vertrat der Facharzt für HNO-Heilkunde B. mit beratungsärztlicher Stellungnahme vom 5. Mai 2010 die Ansicht, dass sich der lärmuntypische Hörschaden des Klägers im Mittel- und Tieftonbereich richtungsweisend verschlimmert habe und die Gesamthörschädigung dominiere, so dass die als Berufskrankheitsfolge anerkannte Lärmschwerhörigkeit keine wesentliche Teilursache bei der Hörgeräteversorgung mehr sei und diese deshalb zu Lasten der Krankenkasse zu erfolgen habe. Daraufhin lehnte es die Beklagte mit Bescheid vom 31. Mai 2010 ab, die Kosten für eine Hörgeräteversorgung des Klägers zu übernehmen. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren hat der Kläger vor dem Sozialgericht Karlsruhe erhoben.
In seiner Urteilsbegründung führt das Sozialgericht Karlsruhe aus, dass der grundsätzliche Anspruch des Klägers auf Hörgeräteneuversorgung sich nach den §§ 26, 27 Abs. 1 Ziffer 4 SGB VII richtet, wonach die vom Unfallversicherungsträger zu leistende Heilbehandlung auch die Versorgung mit Hilfsmitteln umfasst, wozu auch Hörgeräte gehören. Durch sie werden die Folgen der durch den Versicherungsfall verursachten Hörstörung ausgeglichen, zumindest aber gemildert (§ 31 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Nach § 26 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII hat der Unfallversicherungsträger mit allen geeigneten Mitteln möglichst frühzeitig den durch den Versicherungsfall verursachten Gesundheitsschaden zu beseitigen oder zu bessern, seine Verschlimmerung zu verhüten und seine Folgen zu mindern.
Freilich werden nur – insofern ist der Beklagten zuzustimmen – die Folgen der durch den Versicherungsfall verursachten Hörstörung ausgeglichen. D. h. es gelten auch die allgemeinen unfallversicherungsrechtlichen Grundsätze, wonach für die haftungsbegründende Kausalität zwischen Einwirkung und Erkrankung ein Ursachenzusammenhang zwischen den durch den Versicherungsfall erlittenen Körperschaden und den für die Erforderlichkeit einer Hörgeräteversorgung maßgeblichen Gesundheitsstörung erforderlich ist. Es gilt auch insoweit die Theorie der wesentlichen Bedingung1.
An diesem Prüfungsmaßstab orientiert, ist das Sozialgericht Karlsruhe der Überzeugung, dass der berufsbedingte Anteil der Hochtonschwerhörigkeit des Klägers zwar mit einer MdE von unter 10 vom Hundert zu bewerten ist, aber gleichzeitig dennoch bereits ein Anspruch auf Hörgeräteversorgung durch die beklagte Berufsgenossenschaft begründet. Prof. Dr. St. weist in diesem Zusammenhang zu Recht auf Punkt 4.4.3 des Königsteiner Merkblatts von 19962 – nunmehr inhaltsgleich Punkt 4.5.3 der neuen Königsteiner Empfehlung für die Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit3 – zur wesentlichen Teilursache hin. Danach ist die Versorgung eines Lärmschwerhörigen mit Hörgeräten aus HNO-ärztlicher Sicht auf Kosten der Berufsgenossenschaft im Allgemeinen bereits indiziert, wenn mindestens eine geringgradige berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit besteht. Das Königsteiner Merkblatt sieht also die Indikation zur Hörgeräteversorgung bereits dann als gegeben an, wenn eine beiderseitige geringgradige Schwerhörigkeit entsprechend einem Hörverlust von mindestens 30 vom Hundert besteht, was tatsächlich mit einer MdE von 15 vom Hundert zu bewerten wäre. Darüber hinaus verweist das Königsteiner Merkblatt aber ausdrücklich auf die Heil- und Hilfsmittelrichtlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, anhand derer die Indikation zur Hörgeräteversorgung gestellt werden kann. Diese führen in der Fassung vom 17. Juni 1992, geändert zum 1. April 2012, aus:
Der tonaudiometrische Hörverlust muss auf dem besseren Ohr 30 dB oder mehr in mindestens einer der Prüffrequenzen zwischen 500 und 4.000 Hz betragen und die Verstehensquote für einsilbige Worte darf auf dem besseren Ohr bei 65 dB nicht größer als 80 vom Hundert (bei sprachaudiometrischer Überprüfung mit Kopfhörern) sein.
Das heißt, eine Hörgeräteversorgung ist bereits dann vom Unfallversicherungsträger zu leisten, wenn die MdE 10 v.H. oder unter 10 v.H. beträgt, solange die beruflich bedingte Lärmschwerhörigkeit des Versicherten nur eine wesentliche Teilursache darstellt. Damit ist die Schwelle für die Verordnung eines Hörgeräts durch den Unfallversicherungsträger deutlich herabgesetzt. Eine Hörgeräteversorgung zu Lasten der Beklagten erfolgt auch in leichteren Fällen, wenn der Versicherte – wie hier der Kläger – schon mit einem von der Unfallversicherung finanziertem Hörgerät versorgt war, die Voraussetzungen der Hilfsmittelrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses erfüllt sind und im laufenden Verfahren die Neuversorgung angestrebt wird4. Bei dem Vorliegen einer berufslärmbedingten geringgradigen Hochtoninnenohrschwerhörigkeit – wie sie beim Kläger vorliegt – kommt es mithin – entgegen den Ausführungen von Beratungsarzt B.5 – nicht auf den Nachweis eines bestimmten prozentualen Hörverlusts an6.
Dass diese vorgenannten Kriterien bei der gutachtlichen audiometrischen Untersuchung des Klägers durch Prof. Dr. St. am 10. Dezember 2011 erfüllt gewesen sind, ist offensichtlich und wird auch von der Beklagten nicht bestritten. Die Bewertung der Situation im Jahre 1988 ist schwieriger, weil damals kein Sprachaudiogramm gefertigt worden ist, so dass das Einsilbenverständnis bei 65 dB nicht zur Entscheidung herangezogen werden kann. Im Tonschwellenaudiogramm von 1988 hat die Hörschwelle rechts bei 1,5 kH bei 30 dB, bei 2 kHz bei 30 dB und bei 3kHz bei 40 dB und am linken Ohr bei 1,5 kHz bei 30 dB, bei 2 kHz bei 40 dB und bei 3 kHz bei 60 dB gelegen. Bei der tonschwellenaudiometrischen Untersuchung sind somit an beiden Ohren die Anforderungen der Heil- und Hilfsmittelrichtlinienverordnung erfüllt. Dass damals – abweichend von den Empfehlungen im Königsteiner Merkblatt – keine sprachaudiometrische Untersuchung durchgeführt worden ist, kann aber nunmehr – auch entgegen der dezidierten Auffassung der Beklagten – nicht zu Lasten des Klägers gehen. Aufgrund der tonaudiometrischen Befunde vom 29. April 1988 besteht weiter eine Indikation zur beidseitigen Hörgeräteversorgung auf Kosten der Beklagten. Anderenfalls ließe sich auch die entsprechende beratungsärztliche Stellungnahme des HNO-Arztes Dr. B. vom 20. März 2003 nicht schlüssig erklären. Darin hat Dr. B. ausdrücklich die Indikation zur beidseitigen Hörgeräteversorgung des Klägers durch die Beklagte gestellt. Dem ist die Beklagte damals auch nachgekommen.
Zwischen 1988 und 2011 hat sich nun das Hörvermögen des Klägers zweifellos beidseitig verschlechtert. Eine allgemein anerkannte Definition zur Quantifizierung einer solchen Verschlechterung gibt es indes nicht. Vielmehr ergeben sich sehr unterschiedliche Bilder, je nachdem welches Vergleichskriterium herangezogen wird. Betrachtet man den aus dem Tonschwellenaudiogramm ermittelten Hörverlust, so hat sich dieser am rechten Ohr von 10 vom Hundert auf 55 vom Hundert und am linken Ohr von 20 vom Hundert auf 45 vom Hundert verschlechtert. Vergleicht man die im zur Diskussion stehenden Gutachten als endgültigen Aussagen ermittelten Hörverluste, so liegt am rechten Ohr eine Verschlechterung von 10 vom Hundert auf 40 vom Hundert vor, links beträgt der Hörverlust sowohl 1988 als 2011 konstant 20 vom Hundert. Betrachtet man die Hörschwelle bei 1 kHz, so ist sie am rechten Ohr von 15 dB 1988 auf 45 dB 2011 abgefallen, während dies am linken Ohr von 20 dB auf etwa 30 dB der Fall gewesen ist. Das ist am linken Ohr in dB-Werten nicht einmal eine Verdoppelung, bei Rückrechnung auf die Schallleistung pro Flächeninhalt bedeutet dies aber, dass am rechten Ohr eine tausendfach höhere Schallleistung pro Flächeneinheit erforderlich ist, um einen Höreindruck zu erzielen, am linken Ohr eine 32-fache. Anders stellt sich die Situation unter Zugrundelegung des subjektiven Lautheitempfindens bei 1 kHz dar. Hier nimmt die Hörverschlechterung rechts 0,2 auf 1,8 Sone zu, links von 0,3 auf 0,8 Sone. Schließlich sind die daraus resultierenden MdE-Werte in den Blick zu nehmen: 1988 haben sie bei unter 10 vom Hundert gelegen, 2011 nunmehr bei 15 vom Hundert, wobei eine arithmetische Subtraktion der Werte zur Ermittlung der eingetretenen Verschlechterung nicht zulässig ist. Diese Überlegungen zeigen, dass beim Kläger – entgegen der redundant und nachgerade stereotyp von der Beklagten und ihrem Beratungsarzt B. vorgetragenen Behauptung – eben quantitativ nicht eindeutig nachweisbar ist, seiner berufsbedingte Lärmschädigung komme heute nicht mehr die Qualität einer rechtlich wesentlichen Teilursache zu.
Aus alledem folgt, dass die berufsbedingte Lärmbelastung des Klägers aus den Jahren zwischen 1978 und 1988 bis heute weiter als wesentliche Teilursache der Hörschädigung nachwirkt, weshalb eine Hörgeräteversorgung auch zu Lasten des beklagten Unfallversicherungsträgers geht7.
Dem Begehren des Klägers ist nach alledem stattzugeben gewesen.
Sozialgericht Karlsruhe, Urteil vom 14. Juni 2012 – S 4 U 3837/10
- vgl. nur BSG, Urteil vom 02.04.2009 – B 2 U 9/08 R und aktuell LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.03.2012 – L 2 U 4996/10[↩]
- Königsteiner Merkblatts für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit, 4. Auflage 1996[↩]
- vom März 2012[↩]
- vgl. nur Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl., 2010, S. 352 m. N. der Rspr.; siehe zuletzt auch instruktiv SG Mannheim, Urteil vom 19.10.2011 – S 14 U 2090/11 mit der dort beklagten Berufsgenossenschaft in einem dem vorliegenden Sachverhalt vergleichbaren Fall sogar Missbrauchskosten nach § 192 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG auferlegt worden sind[↩]
- zuletzt vom 26.05.2012[↩]
- vgl. so auch LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 29.09.2010 – L 6 U 140/06[↩]
- vgl. Römer in Hauck/Noftz, SGB VII, Anhang zu K § 9 BK 2301 Rn. 11[↩]