Die Harnblasenkrebserkrankung eines Schweißers kann wegen der beruflichen Einwirkung aromatischer Amine trotz langjährigen Rauchens als Berufskrankheit anerkannt werden, wenn der Nikotinkonsum nach jahrelanger Abstinenz nicht mehr hinreichend wahrscheinlich die Krebserkrankung verursacht hat.

In dem hier vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall war der 1956 geborene klagende Arbeitnehmer von 1998 bis 2013 als Schweißer in der Herstellung von Großkücheneinrichtungen beschäftigt. Die Tätigkeit umfasste das Schweißen von Fettbackgeräten. Zur Rissprüfung von Schweißnähten verwendete der Arbeitnehmer azofarbstoffhaltige Sprays, die zunächst auf das Werkstück aufgesprüht und dann mit einem Lappen weggewischt wurden und das kanzerogene aromatische Amin o-Toluidin enthielten. 2014 wurde bei ihm Harnblasenkrebs diagnostiziert. Die beklagte Berufsgenossenschaft lehnte die Feststellung einer Berufskrankheit nach Nummer 1301 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine – BK 1301) ab. Als außerberufliche Ursache komme der langjährige Nikotinkonsum des Arbeitnehmers in Betracht, der zu einer Verdoppelung des Erkrankungsrisikos geführt habe.
Die Klage auf Anerkennung einer BK 1301 war vor dem erstinstanzlich hiermit befasste Sozialgericht Reutlingen erfolgreich1. Dagegen hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg die Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens abgewiesen2: Die BK 1301 gebe zwar keine Mindestexpositionsmenge vor. Der Sachverständige sei aber überzeugend zu der Einschätzung gelangt, dass eine ausreichende Exposition gegenüber o-Toluidin prinzipiell dann anzunehmen sei, wenn eine Exposition in Höhe des ehemaligen Wertes der Technischen Richtkonzentration (TRK-Wert) von 500 µg o-Toluidin/m³ vorliege. Die inhalative und dermale Exposition gegenüber dem im Rissprüfspray zu weniger als 2 % enthaltenen Azofarbstoff auf der Basis von o-Toluidin über etwa eine Stunde täglich erscheine damit nicht vergleichbar. Die berufliche Einwirkung sei nicht hinreichend wahrscheinlich Ursache der Erkrankung. Es sprächen ebenso gute Gründe für eine andere Verursachung.
Die hiergegen gerichtete Revision des Arbeitnehmers war vor dem Bundessozialgericht erfolgreich; der Arbeitnehmer hat einen Anspruch auf Feststellung seiner Harnblasenkrebserkrankung als Berufskrankheit Nummer 1301 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung.
Die arbeitstechnischen Voraussetzungen sind erfüllt, weil der Arbeitnehmer während seiner versicherten Tätigkeit als Schweißer von 1998 bis 2013 arbeitstäglich dem krebserregenden aromatischen Amin o-Toluidin sowohl inhalativ als auch dermal ausgesetzt war. Auf ein Erreichen einer Belastungsdosis in Höhe des ehemaligen Wertes der Technischen Richtkonzentration (TRK-Wert) von 500 µg o-Toluidin/m³ kommt es nicht an, weil die Berufskrankheit Nummer 1301 keinen Mindestexpositionswert enthält.
Auch die medizinischen Voraussetzungen sind gegeben. Der Kausalzusammenhang zwischen dem Harnblasenkrebs des Arbeitnehmers und den beruflichen Einwirkungen von o-Toluidin ist auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen zu bejahen. Aromatische Amine sind aufgrund der Berufskrankheit 1301 abstrakt-generell geeignet, Harnblasenkrebs zu verursachen. Die konkret-individuelle Kausalität im Fall des Arbeitnehmers ergibt sich im Ausschlussverfahren, auf das die Vorinstanz zur Eingrenzung möglicher Krankheitsursachen in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zurückgegriffen hat.
Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat danach für das Bundessozialgericht bindend festgestellt, dass der langjährige Nikotinkonsum nicht hinreichend wahrscheinlich Ursache der Harnblasenkrebserkrankung ist. Zugleich hat es weitere in Betracht kommende außerberufliche Konkurrenzfaktoren (Einnahme bestimmter Medikamente, chronische Harnwegsinfekte, Steinleiden oder Bestrahlungstherapien im kleinen Becken) ausgeschlossen. Damit verblieb die berufliche Belastung mit o-Toluidin als einziger Ursachenfaktor. Soweit das Landessozialgericht gleichwohl unspezifisch „gute Gründe für eine andere Verursachung wie für die berufliche Einwirkung des Stoffes“ angenommen hat, hat es methodisch und rechtlich unzulässig unbekannte Faktoren berücksichtigt.
Bundessozialgericht, Urteil vom 27. September 2023 – B 2 U 8/21 R
- SG Reutlingen, Urteil vom 14.12.2016 – S 4 2792/15[↩]
- LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29.09.2020 – L 9 U 488/17[↩]
Bildnachweis:
- Zigarette: Shutterbug75 | CC0 1.0 Universal