Eine Krankenkasse kann auch bei einem an einem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktiv-Syndrom (ADHS) leidenden Erwachsenen zu einer Versorgung mit methylphenidathaltigen Arzneimitteln (hier: Concerta) nach den Grundsätzen des sog Off-Label-Use verpflichtet sein, wie eine aktuelle Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg in dem Fall eines 22jährigen Versicherten zeigt:

Arzneimittel mit dem Wirkstoff Methylphenidat sind gemäß § 21 Abs 1 AMG zur Behandlung der beim Antragsteller bestehenden Krankheit des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktiv-Syndroms (ADHS) nur für einen Einsatz bei Kindern über sechs Jahren und bei Jugendlichen zugelassen. Dies genügt nicht, um auch bei Erwachsenen von einer bestimmungsgemäßen Anwendung auszugehen1. Deshalb scheidet grundsätzlich eine Leistungspflicht gemäß §§ 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und 3, 31 Abs 1 Satz 1 SGB V bei dem mittlerweile 22-jährigen Antragsteller aus. Ausnahmsweise kommt jedoch eine Versorgung nach den Grundsätzen des sog Off-Label-Use in Betracht. Nach den von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen2 ist ein Off-Label-Use nur in Erwägung zu ziehen, wenn
- es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht,
- keine andere Therapie verfügbar ist und
- aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Dabei bedarf es eines positiven Wirksamkeitsnachweises.
Bei ADHS kann es sich um eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Krankheit handeln. Denn das Krankheitsbild des ADHS im Erwachsenenalter zeichnet sich dadurch aus, dass neben einer Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität noch mindestens zwei weitere Charakteristika wie Affektlabilität, desorganisiertes Verhalten, gestörte Affektkontrolle, Impulsivität oder emotionale Überreagibilität erfüllt sind3. In ärztlichen Stellungnahmen wird beim Antragsteller entsprechend davon berichtet, dass er (bei Pausierung der Medikation) massive Konzentrationsstörungen und Ablenkbarkeit, extreme Unruhe, distanzgemindertes, dissoziales und impulsives Verhalten bis hin zu Tätlichkeiten gegenüber Gegenständen zeigt und desorganisiert ist. Damit werden die Voraussetzungen der ADHS erfüllt. Des Weiteren liegen beim Antragsteller auch eine kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen und der Verdacht auf posttraumatische Belastungsstörung nach wahrscheinlich körperlichen und sexuellen Grenzverletzungen in der Ursprungsfamilie vor. Insbesondere bei der wohl komorbiden Störung des Sozialverhaltens und der ausgeprägten Impulsivität kann daher beim Antragsteller von einer besonders schwer ausgeprägten Form des ADHS auszugehen sein, die die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt. Deshalb dürfte davon auszugehen sein, dass die besonders schwere Verlaufsform beim Antragsteller – ohne Medikation – weiterhin vorliegt.
Nach den Feststellungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Nordrhein kommen keine alternativen Behandlungsmöglichkeiten in Betracht. Auch wird, wie das Landessozialgericht betont, die Therapie mit Methylphenidat nach Expertenkonsens als wirksam bewertet und als medikamentöse Therapie erster Wahl bezeichnet, während andere pharmakologische Therapien aufgrund des Nebenwirkungsprofiles oder geringerer oder fehlender Wirksamkeit bzw nicht ausreichender Datenlage nur als zweite Wahl oder nicht empfehlenswert eingestuft werden4. Darüber hinaus wird empfohlen, die pharmakologische Therapie mit der psychotherapeutischen Therapie zu kombinieren5. Deshalb geht das Landessozialgericht bei dem derzeit bekannten Sachverhalt davon aus, dass zwar eine multimodale Behandlung erforderlich ist, bei der medikamentösen Behandlung jedoch außer dem Einsatz von Methylphenidat derzeit keine andere angemessene Therapie zur Verfügung steht.
Schließlich fehlt es nicht an der für einen Off-Label-Use erforderlichen Erfolgsaussicht. Zwar besteht grundsätzlich keine begründete Aussicht darauf, dass gerade mit dem begehrten Arzneimittel ein Behandlungserfolg erzielt werden kann. Denn von hinreichenden Erfolgsaussichten ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Off-Label-Use nur dann auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das (konkrete) Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht6.
Davon ist vorliegend nicht auszugehen. Allerdings sind vorliegend erleichterte Voraussetzungen für einen Off-Label-Use denkbar. Denn die in der Rechtsprechung zum Off-Label-Use entwickelten Grundsätze könnten abgestuft modifizierend anzuwenden sein, wenn es darum geht, mit einem bislang nur für die Behandlung speziell von Kindern zugelassenen Arzneimittel zulassungsüberschreitend auch Erwachsene zu behandeln, wenn bei Erwachsenen ein identisches Nutzen-/Gefahrenpotenzial besteht oder aber sogar ein geringeres Schutzbedürfnis. Die Modifizierung der Anforderungen an einen zulassungsüberschreitenden Einsatz von Kinderarzneimitteln für Erwachsene kommt insbesondere in Betracht, wenn der Versicherte in der Zeit unmittelbar vor Vollendung des 18. Lebensjahres mit einem nur für Kinder und Jugendliche zugelassenen Arzneimittel indikationsbezogen versorgt wurde und er nach Erreichen des 18. Lebensjahres an derselben Krankheit leidet, die auch nach einem solchen „Stichtag“ auf andere Weise nicht angemessen behandelt werden kann7. Hier kann der Begriff des „Jugendlichen“, für den ADHS zugelassen ist, in dem Sinn zu verstehen sein, dass auch junge Erwachsene wie der jetzt 22-jährige Antragsteller unter diesen Begriff zu subsumieren sind. Zudem setzt sich die Auffassung durch, dass es sich bei ADHS um eine Störung handelt, die mit einer Prävalenz von 2% auch im Erwachsenenalter fortbesteht. Wenn daher das Risiko-Nutzen-Potenzial beim Fortgebrauch eines für Kinder zugelassenen und im Kindes- und Jugendlichenalter schon unmittelbar vor Erreichen des 18. Lebensjahrs angewandten Arzneimittels auch bei Überschreiten der Schwelle zur Volljährigkeit im Wesentlichen gleich geblieben sein sollte, bedarf es jedenfalls einer besonderen Rechtfertigung, die nahtlose Weiterversorgung des Betroffenen mit dem begehrten Mittel abzulehnen8.
Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluß vom 2. März 2010 – L 11 KR 460/10 ER-B
- so ausdrücklich zu methylphenidathaltigen Arzneimitteln: BSG, Urteil vom 30.06.2009 – B 1 KR 5/09 R[↩]
- z.B. BSG, Urteil vom 19.03.2002, SozR 3-2500 § 31 Nr 8[↩]
- Ebert/Krause/Roth-Sackenheim, ADHS im Erwachsenenalter – Leitlinien auf der Basis eines Expertenkonsensus mit Unterstützung der DGPPN, Der Nervenarzt 2003, Seite 939, 945[↩]
- Ebert ua, aaO Seite 941; Vorstand der Bundesärztekammer, Stellungnahme zur Aufmerksamkeits- / Hyperaktivitätsstörung ADHS – Kurzfassung, Seite 7 ff, 11[↩]
- Ebert ua, aaO Seite 943[↩]
- BSG, Urteile vom 19.03.2002, a.a.O.; und vom 30.06.2009, a.a.O., m.w.N.[↩]
- BSG, Urteil vom 30.06.2009, a.a.O., m.w.N.[↩]
- zum Ganzen vgl. BSG a.a.O.[↩]