Sachliche Unzuständigkeit für die Erlassentscheidung – und keine Heilung durch die Einspruchsentscheidung

Der Heilungstatbestand des § 126 AO erfasst nicht den Mangel der fehlenden sachlichen Zuständigkeit. Die rechtswidrige Ablehnung des Erlasses einer Kindergeldrückforderung durch eine sachlich unzuständige Behörde wird nicht dadurch rechtmäßig, dass die für die Prüfung des Erlasses sachlich und örtlich zuständige Familienkasse den Einspruch gegen den Ausgangsbescheid als unbegründet zurückweist.

Sachliche Unzuständigkeit für die Erlassentscheidung – und keine Heilung durch die Einspruchsentscheidung

Stellt die Einspruchsbehörde im Rahmen der gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 AO durchzuführenden umfassenden Prüfung der Erlassablehnung fest, dass die Ausgangsbehörde sachlich unzuständig war, hat sie deren Ausgangsbescheid aufzuheben und durch einen neuen Ausgangsbescheid erstmals selbst über den Erlassantrag zu entscheiden. Im Falle der Erlassablehnung steht dem Antragsteller dagegen der Einspruch offen.

Wird ein Erlassantrag von einer sachlich unzuständigen Behörde abgelehnt, ist die Klage auch dann gemäß § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO gegen diese Ausgangsbehörde zu richten, wenn die Einspruchsentscheidung von der für die Ausgangsentscheidung sachlich und örtlich zuständigen Behörde getroffen wird.

In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall war der Erlass einer Kindergeldrückforderung streitig. Die klagende Tochter erhielt aufgrund eines Abzweigungsbescheids vom 08.05.2014 laufend Kindergeld für sich selbst. Im Oktober 2014 beendete sie ihre Ausbildung vorzeitig, wovon die zuständige Familienkasse Nordrhein-Westfalen (NRW) Nord erst im Jahr 2016 Kenntnis erlangte. Die Familienkasse NRW Nord hob deshalb gegenüber dem Vater der Tochter die Kindergeldfestsetzung auf und forderte mit Bescheid vom 08.12.2016 von der Tochter als Abzweigungsempfängerin das für den Zeitraum November 2014 bis einschließlich Juli 2016 gezahlte Kindergeld zurück. Beide Bescheide wurden bestandskräftig. Die Durchführung des Rückforderungsverfahrens übernahm die Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse -Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse-.

Am 15.11.2017 beantragte die Tochter den Erlass dieser Rückforderung. Zur Begründung gab sie an, dass sie während des Rückforderungszeitraums Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch bezogen habe, bei denen die Kindergeldzahlungen in vollem Umfang angerechnet worden seien. Mit Bescheid vom 21.02.2018 erließ die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse eine Teilforderung in Höhe von 184 € und lehnte den Erlassantrag im Übrigen unter Hinweis auf die Verletzung der Mitwirkungspflicht der Tochter ab. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse NRW Nord mit Einspruchsentscheidung vom 17.05.2018, bekanntgegeben mit Schreiben vom 21.06.2018, als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie an, die Tochter habe die vorzeitige Beendigung ihrer Ausbildung trotz entsprechender Hinweise der Familienkasse NRW Nord nicht mitgeteilt. Hierdurch sei die Rückforderung verursacht worden. Eine sachliche Unbilligkeit sei wegen der Verletzung der Mitwirkungspflicht zu verneinen. Aus demselben Grund sei die Tochter auch persönlich nicht erlasswürdig.

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Das Finanzgericht Münster gab der Klage insoweit statt, als die Tochter die Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 21.02.2018 und der Einspruchsentscheidung vom 17.05.2018 begehrte. Soweit die Tochter darüber hinaus die Verpflichtung der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse zum Ausspruch des begehrten Erlasses beantragte, wies das Finanzgericht die Klage als unbegründet ab ((FG Münster, Urteil vom 21.12.2021 – 1 K 2235/18 Kg, AO)).

Die hiergegen gerichtete Revision der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse, wies der Bundesfinanzhof als unbegründet zurück; das Finanzgericht sei in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass sich die Klage gegen die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse richte. Ferner sei das Finanzgericht zu Recht davon ausgegangen, dass die Ablehnung des Erlasses durch eine sachlich unzuständige Behörde ausgesprochen wurde und dass dieser Mangel nicht aufgrund der nachfolgenden Einspruchsentscheidung geheilt wurde oder unbeachtlich ist:

Richtiger Klagegegner

Die Klage richtet sich infolge rechtsschutzgewährender Auslegung gegen die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse.

Nach § 63 Abs. 1 FGO ist die Klage gegen die Behörde zu richten, die den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen (§ 63 Abs. 1 Nr. 1 FGO) oder die den beantragten Verwaltungsakt oder die andere Leistung unterlassen oder abgelehnt hat (§ 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO). Dabei bedeutet die Bezugnahme auf den „ursprünglichen“ Verwaltungsakt, dass nur die Ausgangsbehörde und nicht etwa die Rechtsmittelbehörde beteiligt sein soll. Daher ist sie und nicht die Familienkasse NRW Nord als Rechtsmittelbehörde beteiligt1.

Es liegt auch kein Fall des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO vor. Diese Vorschrift erfordert einen Wechsel der örtlichen Zuständigkeit (z.B. durch Wohnsitzwechsel) vor Erlass der Einspruchsentscheidung2. Zwar hat es der Bundesfinanzhof (BFH) für möglich gehalten, die Vorschrift auch für den Fall analog anzuwenden, dass die örtliche Zuständigkeit bereits vor Erlass des Ausgangsbescheids auf eine andere Behörde übergegangen und die Einspruchsentscheidung von der örtlich zuständigen Behörde getroffen worden ist3. Insofern kann der Bundesfinanzhof dahingestellt lassen, ob er sich dem anschließen könnte. Denn diese Sachverhaltskonstellation lag im Streitfall nicht vor. Bei der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse trat vor Erlass des Ausgangsbescheids kein Wechsel in der örtlichen Zuständigkeit ein. Vielmehr hat diese als von Beginn an sachlich unzuständige Behörde entschieden4. Damit war keine der in § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO geforderten Voraussetzungen gegeben. Die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse war nicht die ursprünglich zuständige Behörde, es trat keine Veränderung der örtlichen Zuständigkeit ein und es kam zu keiner Zuständigkeitsveränderung zwischen dem Erlass des Ausgangsbescheids und dem Erlass der Einspruchsentscheidung.

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Die Klage richtete sich -entgegen der Auffassung der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse- auch nicht deshalb gegen die Familienkasse NRW Nord, weil die durch letztere erlassene Einspruchsentscheidung zu einer Heilung des Zuständigkeitsmangels geführt hat. Denn eine solche Heilung trat nicht ein.

Überdies erscheint es für die Tochter auch nicht als zumutbar, dass sie bereits bei der Erhebung der Klage das Ergebnis der erst im Rahmen der Begründetheit der Klage vorzunehmenden Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit des Ausgangsbescheids vorwegnehmen und aufgrund einer mehrfach analogen Anwendung des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO den richtigen Beklagten bestimmen muss. Daher bleibt es bei der gesetzlichen Grundregel des § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO, wonach die Klage gegen die Behörde zu richten ist, die den beantragten Verwaltungsakt abgelehnt hat.

Unzuständigkeit der Agentur für Arbeit Recklinghausen – Inkasso-Service Familienkasse

Das Finanzgericht hat den Bescheid, durch den der beantragte Erlass von der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse abgelehnt wurde, zu Recht aufgehoben, weil dieser rechtswidrig ist und die Tochter in ihren Rechten verletzt (§ 101 Satz 1 FGO). Denn dieser Bescheid wurde von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen.

Der Bundesfinanzhof hat bereits mehrfach entschieden, dass die Konzentration der Aufgaben des Erhebungsverfahrens -insbesondere der Erlass und die Stundung von Kindergeldrückforderungen- bei der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse und der Familienkasse NRW Nord rechtswidrig ist5. Hierauf wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen.

Keine Heilung durch die Einspruchsentscheidung

Zu Recht ist das Finanzgericht weiter davon ausgegangen, dass der Mangel der sachlichen Zuständigkeit der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse nicht durch die nachfolgende Einspruchsentscheidung der Familienkasse NRW Nord geheilt wird und dass auch diese Einspruchsentscheidung rechtswidrig ist und die Tochter in ihren Rechten verletzt (§ 101 Satz 1 FGO).

Eine Heilung des Mangels der fehlenden sachlichen Zuständigkeit der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse ergibt sich nicht aus § 126 der Abgabenordnung (AO). § 126 Abs. 1 Nrn. 1 bis 5 AO enthält einen Katalog von Verfahrens- und Formvorschriften, deren Verletzung einer Heilung durch Nachholung des unterbliebenen Verfahrensschritts oder der nicht beachteten Formanforderung zugänglich ist. Da der Katalog nicht nur beispielhaft formuliert wurde und die Vorschrift Ausnahmecharakter hat, ist die Aufzählung als abschließend zu betrachten6.

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Der Mangel der sachlichen Zuständigkeit wurde auch nicht durch die Gesamtüberprüfung des Streitfalls im Einspruchsverfahren geheilt.

Nach § 44 Abs. 2 FGO ist Gegenstand der Anfechtungsklage nach einem Vorverfahren der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf gefunden hat. Obwohl diese Regelung nur die Anfechtungsklage nennt, ist sie nach ständiger Rechtsprechung und Praxis des Bundesfinanzhofs auch auf die Verpflichtungsklage anzuwenden, wenn diese die Anfechtung eines ablehnenden Verwaltungsakts in sich aufgenommen hat7. Diese Voraussetzung liegt im Streitfall vor, da die Verpflichtungsklage auch die Anfechtung der Ablehnung des Erlasses mitumfasst.

Der Gesetzgeber geht daher nicht davon aus, dass die Einspruchsentscheidung an die Stelle des Ausgangsbescheids tritt. Vielmehr bleibt der Ausgangsbescheid Verfahrensgegenstand und es sind nur die Änderungen zu berücksichtigen, die der Ausgangsbescheid durch die Einspruchsentscheidung erfahren hat. Obwohl es sich formal weiter um zwei Verwaltungsakte handelt, bilden der Ausgangsbescheid und die Einspruchsentscheidung einen Verbund8 und eine Verfahrenseinheit9.

Zur „Gestalt“ des Verwaltungsakts i.S. des § 44 Abs. 2 FGO gehören der Verfügungssatz und die tragenden Gründe10. Da sich die nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO durchzuführende Prüfung auch auf die örtliche und sachliche Zuständigkeit der Ausgangsbehörde erstreckt11, kann auch ein Mangel der sachlichen Zuständigkeit im Einspruchsverfahren korrigiert werden. Eine Korrektur muss jedoch auch tatsächlich durchgeführt werden. Diese erfolgt dadurch, dass die Einspruchsbehörde den Bescheid der sachlich unzuständigen Ausgangsbehörde aufhebt und erstmals selbst entscheidet. Diese Entscheidung hat jedenfalls dann, wenn es sich -wie im vorliegenden Fall- um eine Ermessensentscheidung handelt, in Form eines Ausgangsbescheids zu erfolgen, damit dem Betroffenen (bzw. im Streitfall der Tochter als Abzweigungsempfängerin) der volle außergerichtliche Rechtsschutz mit einer Prüfung durch zwei Stellen der Verwaltung erhalten bleibt.

Soweit sich die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse zur Begründung ihrer Auffassung auf Stimmen aus der Rechtsprechung12 und der Literatur13 beruft, vermag der Bundesfinanzhof hieraus keine für diese Auffassung sprechenden Argumente abzuleiten.

Soweit das Finanzgericht Berlin-Brandenburg von einer Zuständigkeit der Einspruchsbehörde aufgrund der entsprechenden Vorstandsbeschlüsse der Bundesagentur für Arbeit ausgeht, widerspricht dies bereits dem BFH, Urteil in BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 41. Dass die Einspruchsbehörde nach § 367 Abs. 2 AO eine umfassende Prüfung vorzunehmen hat, ist zwar zutreffend, hilft aber nicht für den Fall, dass die Einspruchsbehörde dieser Verpflichtung -wie im Streitfall in Bezug auf die sachliche Zuständigkeit der Ausgangsbehörde- nicht entsprochen hat. Dass Ermessenserwägungen in der Einspruchsentscheidung nachgeholt werden können, ist ohne Belang, da die sachliche Zuständigkeit zum einen nicht im Ermessen der Behörde liegt und zum anderen von einer „Nachholung“ ohnehin nicht ausgegangen werden könnte, wenn sich die Einspruchsbehörde mit der Frage der sachlichen Zuständigkeit der Ausgangsbehörde gar nicht befasst.

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Die Ablehnung einer Heilung beinhaltet in einem Fall wie dem vorliegenden auch keinen bloßen Formalismus, sondern folgt aus dem Gebot effektiver Rechtsschutzgewährung. Für den von einer solchen Entscheidung betroffenen Kläger muss aus der Entscheidung der für den Einspruch zuständigen Behörde hervorgehen, wogegen er sein Rechtsschutzbegehren richten soll. Kommt die Einspruchsbehörde aufgrund ihrer umfassenden Prüfung zu dem Ergebnis, dass die Ausgangsbehörde sachlich unzuständig war, hebt sie den Ausgangsbescheid auf, erlässt selbst einen Ausgangsbescheid und belehrt den Betroffenen über die ihm dagegen zustehende Einspruchsmöglichkeit. Geht die Einspruchsbehörde dagegen von einer bestehenden sachlichen Zuständigkeit der Ausgangsbehörde aus und prüft sie deshalb deren Sachentscheidung, kann sich der Betroffene darauf beschränken, die Ausgangsbehörde zu verklagen, und die Klage -mithilfe der Rüge der fehlenden sachlichen Zuständigkeit- nur auf eine Aufhebung des Ablehnungsbescheids richten. Folgte man dagegen der Auffassung der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse, dass auch eine „zufällige“ sachliche Zuständigkeit der Einspruchsbehörde ohne weitere Erläuterung in den Gründen der Einspruchsentscheidung zu einer Heilung führen kann, wird für den Betroffenen zum einen nicht klar, gegen welche Behörde er Rechtsschutz begehren soll. Zum anderen läuft er -wie das erstinstanzliche Urteil im Streitfall zeigt- Gefahr, wegen des zu weit gefassten Rechtsschutzziels einen Teil der Kosten auferlegt zu bekommen, ob-wohl die Ursache für die Zuständigkeitsunklarheit und die fehlende Möglichkeit des Finanzgericht, über die eigentliche Sache entscheiden zu können, von der Verwaltung gesetzt wurde.

Übertragen auf die Verhältnisse des Streitfalls bedeutet dies, dass die Familienkasse NRW Nord den Mangel der sachlichen Zuständigkeit durch die Einspruchsentscheidung nicht geheilt hat. Die Familienkasse NRW Nord hat den Ablehnungsbescheid der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse vom 21.02.2018 weder aufgehoben noch erstmals selbst einen Ausgangsbescheid erlassen. Sie hat den Ausgangsbescheid nur auf seine materielle Rechtmäßigkeit hin überprüft und ihn dann in vollem Umfang als rechtmäßig bestätigt.

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Bestätigt die Einspruchsentscheidung den ursprünglichen Verwaltungsakt, so bleibt es bei der „ursprünglichen Gestalt“, dem ursprünglichen Inhalt des Ausgangsbescheids14. Die Einspruchsentscheidung vom 17.05.2018 bedeutet deshalb nicht, dass die Familienkasse NRW Nord selbst den von der Tochter begehrten Erlass abgelehnt hat. Indem sie durch die Zurückweisung des Einspruchs den Ausgangsbescheid der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse gebilligt hat, hat sie die Entscheidung nicht zu ihrer eigenen gemacht15. Insoweit kommt auch keine nach § 128 Abs. 1 AO mögliche Umdeutung der Einspruchsentscheidung in eine „eigene Ablehnung des Erlasses“ in Betracht, da die Einspruchsbehörde dann zusätzlich auch den Ausgangsbescheid hätte aufheben müssen16. Die von der Ausgangsbehörde zu Unrecht (mutmaßlich) aus Nr. 2.04. des Vorstandsbeschlusses Nr. 15/2016 vom 14.04.201617 abgeleitete sachliche Zuständigkeit wurde daher nicht korrigiert, sodass der Ausgangsbescheid auch in Gestalt der Einspruchsentscheidung rechtswidrig blieb.

Folge: Aufhebung von Bescheid und Einspruchsentscheidung

Schließlich hat der Bundesfinanzhof in den Urteilen in BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712 und in BFH/NV 2021, 1100 bereits entschieden, dass auch § 127 AO einer Aufhebung des angegriffenen Verwaltungsakts, der von der -sachlich unzuständigen- Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse im Erhebungsverfahren getroffen wurde, nicht entgegensteht und es sich bei der Entscheidung über einen Erlass zudem um eine Ermessensentscheidung handelt, auf die § 127 AO grundsätzlich keine Anwendung findet.

Für das weitere Verfahren weist der Bundesfinanzhof ergänzend darauf hin, dass nach seiner Auffassung die örtliche Zuständigkeit der Familienkasse für die Entscheidung über den Erlass einer gegenüber einem Abzweigungsempfänger geltend gemachten Rückforderung an den Wohnort des Kindergeldberechtigten anknüpft, dessen Kindergeld abgezweigt wird. Dies ergibt sich aus § 19 Abs. 1 Satz 1 AO. Danach bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit nach dem Wohnsitz oder in Ermangelung eines Wohnsitzes nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Betroffenen. Dem Betroffenen steht im Fall der Steuervergütung Kindergeld (§ 31 Satz 3 EStG) der Kindergeldberechtigte gleich. Die örtliche Gesamtzuständigkeit der Wohnsitzfamilienkasse18 umfasst daher Erhebungsfragen auch dann, wenn Dritte, wie z.B. der Abzweigungsempfänger, betroffen sind. Auf den Wohnort des Abzweigungsempfängers kommt es daher nicht an.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 19. Januar 2023 – III R 2/22

  1. BFH, Urteil vom 25.02.2021 – III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 13 ff.; Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler -HHSp-, § 63 FGO Rz 20, 24 f.[]
  2. Schallmoser in HHSp, § 63 FGO Rz 36[]
  3. BFH, Beschluss vom 28.01.2002 – VII B 83/01, BFH/NV 2002, 934, unter II. 1.a[]
  4. z.B. BFH, Urteil vom 07.07.2021 – III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457, Rz 19[]
  5. BFH, Urteile in BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712; vom 25.02.2021 – III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100, und in BFH/NV 2021, 1457[]
  6. von Wedelstädt in Gosch, AO § 126 Rz 1, 5; Rozek in HHSp, § 126 AO Rz 16; Seer in Tipke/Kruse, § 126 AO Rz 3; vgl. auch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts -BVerwG- vom 29.09.1982 – 8 C 138/81, BVerwGE 66, 178, zum Fall des nachträglichen Zuwachses der Verwaltungskompetenz[]
  7. BFH, Urteil vom 10.05.1983 – VII R 130/81 unter II. 1.a, m.w.N.; z.B. BFH, Urteil vom 23.10.2019 – III R 14/18, BFHE 266, 526, BStBl II 2020, 785, Rz 8; ebenso Steinhauff in HHSp, § 44 FGO Rz 311; Krumm in Tipke/Kruse, § 44 FGO Rz 24[]
  8. BFH, Beschluss vom 29.06.1999 – VII B 303/98, BFH/NV 1999, 1585, unter 1.[]
  9. BFH, Urteil vom 19.05.1998 – I R 44/97, BFH/NV 1999, 314, unter II. 1.[]
  10. von Beckerath in Gosch, FGO § 44 Rz 172[]
  11. BFH, Urteil vom 19.01.2017 – III R 31/15, BFHE 256, 502, BStBl II 2017, 642, Rz 20[]
  12. FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.06.2020 – 7 K 14045/18, EFG 2020, 1284; FG Münster, Urteil vom 03.12.2020 – 3 K 2344/20, EFG 2021, 337; FG Düsseldorf, Urteile vom 14.06.2021 – 9 K 2976/20 AO; und vom 28.09.2021 – 9 K 465/21 AO, Anwalt/Anwältin im Sozialrecht 2021, 273[]
  13. Wackerbeck in HHSp, § 16 AO Rz 55; Schmieszek in Gosch, AO § 16 Rz 17[]
  14. Krumm in Tipke/Kruse, § 44 FGO Rz 24[]
  15. vgl. BVerwG, Urteil vom 16.07.1968 – I C 81.67, BVerwGE 30, 138; Verwaltungsgerichtshof -VGH- Baden-Württemberg vom 18.12.2012 – 10 S 2058/11, Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg 2013, 301, Rz 30[]
  16. vgl. BayVGH, Beschluss vom 22.05.2012 – 11 BV 11.964 Rz 3[]
  17. Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit Nr. 5/2016[]
  18. s. dazu BFH, Urteil in BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 23[]
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  • Agentur für Arbeit: succo