19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Wirksam ist nur ein zeitgerechter Rechtsschutz. Art.19 Abs. 4 GG fordert daher auch, dass Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit gewährt wird1. Welche Verfahrensdauer noch angemessen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab2.

Entscheidend sind vor allem
- die Bedeutung der Sache,
- die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten,
- die Schwierigkeit des Falles und
- das Verhalten der Beteiligten, insbesondere etwaige den Beteiligten selbst zuzurechnende Verzögerungen, sowie
- eine gerichtlich nicht zu beeinflussende Verzögerung durch die Tätigkeit von Sachverständigen oder sonstigen Dritten3.
Dem Gericht steht für die Bearbeitung anhängiger Verfahren grundsätzlich ein Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen es aufgrund eigener Gewichtung dieser Faktoren Prioritäten in Abweichung von der Reihenfolge des Eingangs setzen kann4. Allerdings haben die Gerichte im Rahmen ihrer Verfahrensführung auch die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen. Mit zunehmender Dauer des Verfahrens insgesamt oder in der jeweiligen Instanz verdichtet sich die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen5.
Verfahren, in denen es um Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts geht, sind für die Betroffenen von besonderer Bedeutung und durch die Gerichte besonders zu fördern6.
Auf Umstände, die innerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs liegen, wie etwa eine allgemein angespannte Personalsituation, kann sich der Staat zur Rechtfertigung der überlangen Dauer eines Verfahrens nicht berufen. Der Staat muss alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Zeit beendet werden können7.
Dies gilt auch für die Auswirkungen auf das gerichtliche Verfahren im Falle der Erkrankung des zuständigen Richters. Es obliegt dem Gericht und damit dem Staat, die erforderliche Vertretung des erkrankten Richters sicherzustellen oder andere geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Verzögerungen durch den krankheitsbedingten Ausfall auf ein Maß zu reduzieren, das dem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit Rechnung trägt. Erkrankungen von Richtern gehören ebenso wie die sonstigen üblichen Ausfallzeiten etwa durch den gesetzlichen Jahresurlaub oder durch Fortbildung zum Alltag der Gerichte. Solche Ausfallzeiten haben die Justizbehörden und Gerichte zu verantworten, denn diese Umstände sind grundlegender Bestandteil der ihnen obliegenden Personal- und Ressourcenplanung8.
Der Staat muss dabei gegebenenfalls auch auf längere Arbeitsunfähigkeitszeiten beim richterlichen Personal durch geeignete Maßnahmen reagieren9. Er kann sich nicht darauf berufen, dass er seine Gerichte nicht so ausstattet, wie es erforderlich ist, um die anstehenden Verfahren ohne vermeidbare Verzögerung abzuschließen. Es ist seine Aufgabe, im Rahmen des Zumutbaren alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet und nötig sind, einer Überlastung der Gerichte vorzubeugen und ihr dort, wo sie eintritt, rechtzeitig abzuhelfen. Der Staat hat die dafür erforderlichen – personellen wie sächlichen – Mittel aufzubringen, bereitzustellen und einzusetzen. Diese Aufgabe folgt aus der staatlichen Pflicht zur Justizgewährung, die Bestandteil des in Art.20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips ist10.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10. Januar 2023 – 1 BvR 1346/22
- vgl. BVerfGE 55, 349 <369> 93, 1 <13>[↩]
- vgl. BVerfGE 55, 349 <369> s. auch 93, 1 <13>[↩]
- vgl. BVerfGE 46, 17 <29> BVerfG, Beschluss vom 14.10.2003 – 1 BvR 901/03; BVerfG, Beschluss vom 26.04.1999 – 1 BvR 467/99; vgl. auch EGMR, Urteil vom 08.01.2004, Nr. 47169/99 – Voggenreiter/Deutschland[↩]
- vgl. BVerfGE 55, 349 <369> BVerfG, Beschluss vom 29.03.2005 – 2 BvR 1610/03, Rn. 12; BVerfG, Beschluss vom 06.10.2003 – 2 BvR 940/01, Rn. 4[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.07.2000 – 1 BvR 352/00, Rn. 11[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.10.2003 – 1 BvR 901/03, Rn. 11[↩]
- vgl. BVerfGE 36, 264 <274 f.> BVerfG, Beschluss vom 02.07.2003 – 2 BvR 273/03, Rn. 13; BVerfG, Beschluss vom 14.10.2003 – 1 BvR 901/03, Rn. 10; BVerfG, Beschluss vom 29.03.2005 – 2 BvR 1610/03, Rn. 13; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 17. Auflage 2022, Art.19 Rn. 79[↩]
- vgl. BSG, Urteil vom 24.03.2022 – B 10 ÜG 2/20 R, Rn. 43[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.08.2012 – 1 BvR 1098/11, Rn.19[↩]
- vgl. BVerfGE 36, 264 <274 f.>[↩]
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