Spezialrollstuhl als einziges Fortbewegungsmittel

Eine 48-jährige Beschwerdeführerin hatte Erfolg mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen sozialgerichtliche Beschlüsse, die es abgelehnt hatten, ihr einen speziellen Elektrorollstuhl, der für sie die einzige Möglichkeit darstellt, sich im häuslichen Bereich ohne fremde Hilfe zu bewegen, im Wege des Eilrechtsschutzes zu bewilligen. Das Bundesverfassungsgericht hob die angegriffenen Beschlüsse des Sozialgerichts und des Landessozialgerichts auf, die wegen der noch notwendigen Ermittlungen möglicher Gefahren für die Beschwerdeführerin beim Betrieb des Rollstuhls eine Bewilligung im Eilrechtsschutz ausgeschlossen und auf das Hauptsacheverfahren verwiesen hatten. Das Bundesverfassungsgericht ging von einer Verletzung des Gebots effektiven Rechtsschutzes aus, weil die Sozialgerichte das Beweisangebot der Beschwerdeführerin, ihre Fähigkeit zur gefahrenfreien Nutzung eines entsprechend ausgerüsteten Elektrorollstuhls mit einem leihweise zur Verfügung gestellten Fahrzeug vorzuführen, bereits im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hätten berücksichtigen müssen. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.

Spezialrollstuhl als einziges Fortbewegungsmittel

Die Beschwerdeführerin leidet an der Krankheit ALS (amyotrophe Lateralsklerose) mit nahezu vollständiger Lähmung der Muskulatur, wodurch sie komplett an den Rollstuhl gefesselt ist, den sie auch nicht mit eigener Muskelkraft in Bewegung setzen und steuern kann, auch nicht im häuslichen Umfeld. Im September 2007 beantragte sie bei ihrer Krankenkasse unter Vorlage einer entsprechenden Verordnung ihres behandelnden Arztes die Versorgung mit einem speziell für sie hergerichteten Elektrorollstuhl samt elektronischer Mundsteuerung. Auf der Grundlage von Gutachten, die die Fahrtauglichkeit der Beschwerdeführerin für einen Elektrorollstuhl im Straßenverkehr verneinten, lehnte die Krankenkasse die begehrte Versorgung ab. Die Beschwerdeführerin wandte sich hiergegen an das Sozialgericht und stellte dabei klar, dass es ihr um die Bewegungsfähigkeit im häuslichen Umfeld gehe. Während der Abwesenheit ihres Ehemannes sei sie im häuslichen Umfeld an den Platz gebunden, wo sie „abgestellt“ werde. Das Sozialgericht lehnte die beantragte Bewilligung im Wege einstweiligen Rechtsschutzes ab, weil umfangreiche medizinische Ermittlungen zur Frage einer etwaigen Selbst- oder Fremdgefährdung bei der Benutzung des Elektrorollstuhls erforderlich seien – derartige Gefahren müssten sicher ausgeschlossen sein, bevor die begehrte Versorgung in Betracht komme. All diese Fragen seien aber nicht im Eilrechtsschutz, sondern im Hauptsacheverfahren zu prüfen. Die dagegen erhobene Beschwerde hat das Landessozialgericht zurückgewiesen. Einem Beweisangebot der Beschwerdeführerin, anhand eines leihweise überlassenen Elektrorollstuhls im Rahmen des Eilrechtsschutzes die sachgerechte Bedienung zu belegen, wurde dabei von den Fachgerichten nicht nachgegangen.

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Diese Entscheidungen der Sozialgerichte steht nach Ansicht des BVerfG mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht in Einklang. Auch im Verfahren der einstweiligen sozialgerichtlichen Anordnung gilt, so die Verfassungsrichter, der Amtsermittlungsgrundsatz, was die Möglichkeit einer Beweiserhebung einschließt. Eine Vorwegnahme der Hauptsache kann dabei jedenfalls bei drohenden schweren und unzumutbaren Nachteilen auch im Eilrechtsschutz durchaus geboten sein. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, wobei auch die grundrechtlichen Belange, insbesondere der Grundwert der Menschenwürde, zu berücksichtigen sind. Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden.

Die Fachgerichte haben hier nicht ausreichend berücksichtigt, dass bei einem unter amyotropher Lateralsklerose leidenden Menschen mit völligem Verlust der eigenen Mobilität der Zwang zum Verharren in einer Situation der Hilflosigkeit eine schwerwiegende Einschränkung darstellt, die seine Persönlichkeitsrechte berührt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ein Anspruch auf die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein folgt. Dazu gehört auch das Interesse der Beschwerdeführerin, im Rahmen ihrer krankheitsbedingt sehr eingeschränkten Möglichkeiten im Wohnumfeld einen Rest an Mobilität zu erhalten.

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Vor diesem Hintergrund durften die Fachgerichte hier auch im Wege des Eilrechtsschutzes das Angebot der Beschwerdeführerin, ihre Fahrtauglichkeit an einem leihweise überlassenen Rollstuhl unter Beweis zu stellen, nicht unter Hinweis auf lediglich denkbare Gefahrenlagen beiseite schieben. Damit ließen sie das bereits im Eilrechtsschutz aktuelle und rechtlich schutzwürdige Interesse der Beschwerdeführerin, sich einen Rest an Mobilität zu erhalten, wegen einer von ihnen selbst nicht als nachgewiesen, sondern lediglich für möglich gehaltenen Gefahr beim Betrieb des Elektrorollstuhls zurücktreten.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 25. Februar 2009 – 1 BvR 120/09