Toleranzrahmen bei der Rechtsanwaltsvergütung im sozialgerichtlichen Verfahren

Bei der Bemessung der angemessenen Gebühren eines Rechtsanwalts scheidet eine Erhöhung der Mittelgebühr allein aufgrund von Toleranzgesichtspunkten aus.

Toleranzrahmen bei der Rechtsanwaltsvergütung im sozialgerichtlichen Verfahren

Zur Überzeugung des Sozialgerichts Berlin war die anwaltliche Gebührenbestimmung einer um 20% erhöhten Mittelgebühr für die Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV RVG nicht unbillig und daher nicht nach § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG zu ersetzen, und zwar aufgrund des leicht erhöhten Umfangs der anwaltlichen Tätigkeit und deren Schwierigkeit entsprechend der nach eigener Prüfung durch die Kammer zu bestätigenden Darlegungen der Bevollmächtigten des Erinnerungsgegners zur Begründung ihrer anwaltlichen Gebührenbestimmung bereits im Kostenfestsetzungsantrag vom 28.09.2010 sowie in der Erinnerungserwiderung, während eine Erhöhung der Mittelgebühr alleine aufgrund von Toleranzgesichtspunkten, worauf der Erinnerungsgegner im Schriftsatz vom 16.08.2011 hingewiesen hat, nicht zum Tragen kommt.

Zwar halten die Berliner Kostenkammern die Berücksichtigung einer Toleranzgrenze von bis zu 20% (nicht: 30%) grundsätzlich für möglich1. Für die Bestimmung der angemessenen Gebühr gem. § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG ist die Mittelgebühr ein fester Anhaltspunkt. Das ist der nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG angemessene Betrag, wenn als Ergebnis aller nach dieser Vorschrift anzustellenden Erwägungen die Feststellung zu treffen ist, dass es sich um einen Durchschnittsfall handelt. Ein weiterer Anhalt, der die unbestimmten Begriffe des § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG praktisch handhabbar macht, ist das Zugeständnis, dass zwischen „billig“ in dieser Vorschrift und „unbillig“ in § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG ein Spielraum – Toleranzrahmen – ist, der aber fest begrenzt werden muss: Nur die Bestimmung des Rechtsanwaltes, die um 20 % oder mehr abweicht, ist danach grundsätzlich unbillig, wobei allerdings auch Gebührenansätze unterhalb der Toleranzgrenze von 20% zur Unbilligkeit führen können2.

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Die beiden Anhaltspunkte – Mittelgebühr und Toleranzrahmen – sind nicht in der Weise miteinander zu kombinieren, dass in jedem Durchschnittsfall eine bis zu 20-prozentige Überschreitung der Mittelgebühr im Rahmen der Billigkeit bliebe. Die Einführung des Gesichtspunktes der Mittelgebühr hat den Zweck, jedenfalls in einem großen Teil der Verfahren, den Durchschnittsverfahren, einen bestimmten Betrag festlegen zu können. Zu entscheiden ist daher im Einzelfall, ob es sich um einen Durchschnittsfall handelt. Der Betrag steht dann fest. Der Gedanke des Spielraumes ist nicht geeignet, dieses Ergebnis in dem Sinne zu korrigieren, dass die Rechtsanwälte in Durchschnittsfällen immer bis zu 20% über die Mittelgebühr hinausgehen dürfen. Der Gedanke des Spielraumes ist nur für die Fälle hilfreich, in denen mit der Mittelgebühr-Methode kein fester Betrag ermittelt werden kann. Das kann dann so sein, wenn einige Gesichtspunkte dafür sprechen, dass das Verfahren etwas über dem Durchschnitt liegt. Dass solche Gesichtspunkte vorliegen, muss aber ausdrücklich festgestellt werden3, was allerdings nach den getroffenen Feststellungen vorliegend aber – und entgegen der Ansicht des Erinnerungsführers – gerade der Fall war.

Demgegenüber teilt das Sozialgericht Berlin die Einschätzung eines lediglich durchschnittlichen anwaltlichen Aufwandes im hier entschiedenen Fall nicht. Unzutreffend ist bereits dessen Vortrag, die Bevollmächtigte des Erinnerungsgegners habe sich allein und erstmals im Verfahren – S 61 AS 12410/07 – als Vertreterin des Erinnerungsgegners mit Schriftsatz vom 05.12.2007 gemeldet, ohne in der Sache rechtserhebliche Einwände zu erheben und mit Schriftsatz vom 09.01.2009 lediglich unter Hinweis auf ein Urteil im Parallelverfahren Vertrauensschutz eingewandt, und zwar angesichts der weiteren Schriftsätze vom 19.12.2007, vom 09.07.2008, die zwar relativ kurz waren, der letztgenannte Schriftsatz aber bereits aufgrund des längeren zeitlichen Abstandes auf einen entsprechenden Wiedereinarbeitungsaufwand schließen lässt, ebenso wie auf einen nochmaligen Wiedereinarbeitungsaufwand zur Vorbereitung des dann erst am 24.09.2010 anberaumten Kammertermins. Soweit der Erinnerungsführer meint, die seiner Ansicht nach – vom Gericht in dieser Qualität aber so nicht zu bestätigenden – „polemischen und politischen“ Ausführungen der Bevollmächtigten des Erinnerungsgegners im Schriftsatz vom 05.12.2007 seien für die Bewertung der anwaltlichen Tätigkeit unerheblich, steht dem Erinnerungsführer die nachträgliche „Korrektur“ der anwaltlichen Einschätzung, in welchem Umfang die Klage gebotenerweise zu begründen bzw. inwieweit die Klagebegründung oder der sonstige anwaltliche Vortrag im Einzelnen zu „kürzen“ gewesen sei, grundsätzlich nicht zu und ist nur in Ausnahmefällen erkennbar mutwilliger „Aufblähung“ von Schriftsätzen oder im Falle inhaltlich in deutlichem Ausmaß „völlig neben der Sache liegender“ Äußerungen denkbar, was vorliegend aber in keiner Weise festzustellen war. Soweit der Erinnerungsführer in diesem Rahmen weiter geltend macht, dass die Bevollmächtigte seit mehreren Jahren auf dem Gebiet des Sozialrechts und des Sozialprozessrechts tätig sei, ist dies unbeachtlich, da das BSG entschieden hat, dass hinsichtlich der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit nicht nach Rechtsgebieten zu differenzieren und die Möglichkeit, einen Fachanwaltstitel zu erwerben, unbeachtlich ist4. Nicht gefolgt werden konnte auch dem weiteren Vortrag des Erinnerungsführers zu der seiner Ansicht nach unterdurchschnittlichen Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, da hier nicht nur die – nicht einfache – Subsumtion des § 45 SGB X im Raum stand, sondern ausweislich der im Umfang von knapp einer Seite protokollierungsbedürftigen und komplexen Ausführungen des Vorsitzenden der Ursprungskammer zur Sach- und Rechtslage im Termin sowie angesichts der entsprechend eingehenden Entscheidungsgründe des Urteils vom 24.09.2010 auch die Voraussetzungen des § 48 SGB X bzw. dessen Abgrenzung zu § 45 SGB X und die Rechtslage auch im Übrigen offensichtlich derart unsicher war, dass bereits am 22.07.2007 ein gerichtlicher Vergleichsvorschlag erarbeitet wurde.

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Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 16. Januar 2013 – S 165 SF 4810/11 E

  1. SG Berlin, Beschlüsse vom 23.02.2009 – S 165 SF 65/09 E; und vom 11.02.2009 – S 164 SF 138/09 E[]
  2. SG Berlin, Beschluss vom 21.09.2009 – S 164 SF 1178/09 E[]
  3. vgl. hierzu BSG vom 26.02.1992 – 9a RVs 3/90, in Bezug auf § 12 BRAGO[]
  4. BSG vom 01.07.2009 – B 4 AS 21/09 R[]