Bei einem finanzgerichtlichen Klageverfahren, dessen Schwierigkeit schon als überdurchschnittlich anzusehen ist und bei dem das Finanzgericht trotz wiederholter Sachstandsanfragen und Erhebung einer Verzögerungsrüge erst rund sechs Jahre nach Klageeingang mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, ist von einer unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen.

Gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Diese gesetzlichen Maßstäbe beruhen auf der ständigen Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG 1.
Die Anwendung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG beispielhaft genannten Kriterien vermittelt im Streitfall kein einheitliches Bild.
Der Schwierigkeitsgrad des Verfahrens war als eher überdurchschnittlich anzusehen. Einerseits waren Aufwendungen im Zusammenhang mit Rechtsanwaltskosten bei einem Verfahren vor dem EGMR zu beurteilen, für die eine höchstrichterliche Rechtsprechung nicht vorlag. Zum anderen befand sich die Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Prozesskosten als außergewöhnliche Belastungen, wenn auch den Zivilprozess betreffend, im Fluss.
Die Bedeutung des Ausgangsverfahrens war für die Kläger erheblich. Zum einen waren beide Eheleute bei Klageerhebung im Ausgangsverfahren hoch betagt und zum anderen hatten sie bereits ein Verfahren vor dem EGMR wegen eines überlangen Strafverfahrens anstrengen müssen. Verständlicherweise war ihr Wunsch nach endgültiger Klärung der Streitigkeiten groß, zu denen aus ihrer Sicht auch der Finanzgerichtsprozess um die Anerkennung der Rechtsanwaltsgebühren als Annex zu dem vorangegangenen Strafverfahren und den Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu zählen ist.
Die Würdigung, dass die Verfahrensdauer in Bezug auf einen Zeitraum von sechs Monaten nach Erhebung der Verzögerungsrüge vom 04.06.2012 unangemessen ist, ergibt sich aus einer Betrachtung des konkreten Verfahrensablaufs.
Im Juni 2012 hatte das Ausgangsverfahren bereits fünfeinhalb Jahre gedauert. Faktisch hat es bis zu diesem Zeitpunkt geruht und wurde ‑trotz der Verzögerungsrüge am 4.06.2012- erst dadurch aufgenommen, dass das Finanzgericht im Dezember 2012 eine Entscheidung im 1. Quartal 2013 in Aussicht stellte.
Das Entstehen eines Nichtvermögensnachteils wird in Fällen unangemessener Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet 2.
Eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 GVG wäre im Streitfall für die unangemessenen Verzögerungszeiträume ab Inkrafttreten des Gesetzes nicht ausreichend. Dafür spricht vor allem, dass das Finanzgericht auf die zahlreichen Versuche der Klägerin und des E, es zu einer Entscheidung innerhalb angemessener Frist zu bewegen, gar nicht reagiert und ihnen nicht einmal einen Zeitpunkt in Aussicht gestellt hat, ab dem mit einer Verfahrensförderung zu rechnen sei. In diesem Fall ist offensichtlich, dass die Klägerin und E aus nachvollziehbaren Gründen an einer zügigen Entscheidung interessiert und infolgedessen von der Verfahrensverzögerung in stärkerem Maße betroffen waren.
Umstände dafür, dass der in § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG genannte Regelbetrag von 1.200 EUR für jedes Jahr der Verzögerung vorliegend unbillig (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG) sein könnte, sind nicht ersichtlich. Sie ergeben sich weder aus dem hohen Alter der Klägerin und des E noch daraus, dass dieses Ausgangsverfahren seinen Ursprung in einem erfolgreichen Verfahren vor dem EGMR hatte.
Auch wenn im Gesetz ein Jahresbetrag genannt ist, kann dieser im konkreten Fall nach Monaten bemessen werden 3.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 20. August 2014 – X K 9/13
- vgl. hierzu und zum Begriff der Angemessenheit im Finanzgerichtsverfahren ausführlich BFH, Urteil in BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179, unter II. 2.[↩]
- vgl. auch BFH, Urteil in BFHE 240, 516, BStBl II 2013, 547, unter III. 6.a[↩]
- ebenso bereits BFH, Urteil in BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179[↩]