Änderung der Einspruchsentscheidung – durch Antrag auf schlichte Änderung

Ein nach Ergehen der (Teil-)Einspruchsentscheidung und innerhalb der Klagefrist gestellter Antrag auf schlichte Änderung gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a, Satz 2 und Satz 3 Halbsatz 1 AO ist auch dann zulässig, wenn mit ihm lediglich die erneute Überprüfung einer Rechtsfrage begehrt wird, über die in der Einspruchsentscheidung bereits entschieden worden ist1.

Änderung der Einspruchsentscheidung – durch Antrag auf schlichte Änderung

Eine Korrektur nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO scheidet nicht schon deshalb aus, weil über das Begehren in der Teil-Einspruchsentscheidung bereits entschieden wurde.

Zwar hat sich in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung eine überwiegende Ansicht dahingehend gebildet, dass aufgrund einer teleologischen Reduktion der Vorschrift ein Änderungsantrag nach Ergehen der Einspruchsentscheidung unzulässig ist, wenn mit ihm lediglich die Überprüfung der vom Finanzamt der Einspruchsentscheidung zu Grunde gelegten Rechtsauffassung begehrt wird und keine neuen Tatsachen vorgetragen werden2.

Soweit der Bundesfinanzhof diese Auffassung in seinem Beschluss in BFH/NV 2010, 831 vertreten hat, hält er daran nicht mehr fest3.

Die teleologische Reduktion einer Norm kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Auslegung der Vorschrift nach dem Wortlaut zu einem sinnwidrigen Ergebnis führen würde4. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Die Überprüfung von Tat- und Rechtsfragen, über die in einer (Teil-)Einspruchsentscheidung bereits entschieden wurde, mittels eines Änderungsantrags nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO ist nicht sinnwidrig und entspricht der ausdrücklichen Anordnung des Gesetzgebers. Dies gilt auch dann, wenn es nach § 351 Abs. 1 Halbsatz 2 AO auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO bei der Anfechtung eines Änderungsbescheids ankommt.

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Gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO darf ein Steuerbescheid, soweit er nicht vorläufig oder unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist, nur aufgehoben oder geändert werden, wenn er andere Steuern als Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben nach Art. 5 Nrn.20 und 21 des Zollkodex der Union oder Verbrauchsteuern betrifft, soweit der Steuerpflichtige zustimmt oder seinem Antrag der Sache nach entsprochen wird; dies gilt jedoch zugunsten des Steuerpflichtigen nur, soweit er vor Ablauf der Einspruchsfrist zugestimmt oder den Antrag gestellt hat oder soweit die Finanzbehörde einem Einspruch oder einer Klage abhilft. Nach § 172 Abs. 1 Satz 2 AO ist die Korrekturvorschrift auch dann anwendbar, wenn der Steuerbescheid durch Einspruchsentscheidung bestätigt oder geändert worden ist. In diesen Fällen muss der Steuerpflichtige vor Ablauf der Klagefrist zustimmen oder den Antrag stellen (§ 172 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 1 AO). Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift erfolgt die Korrektur nach § 172 Abs. 1 Satz 1 AO somit auch dann, wenn der Steuerbescheid durch eine (Teil-)Einspruchsentscheidung bestätigt oder geändert worden ist. Das Gesetz sieht, neben der Stellung des Antrags innerhalb der Klagefrist, welche vorliegend gewahrt ist, keine weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen für den schlichten Änderungsantrag vor.

Aus dem Willen des Gesetzgebers ergibt sich keine einschränkende Auslegung der Norm. Zwar hatte der Gesetzgeber bei der Einführung des § 172 Abs. 1 Satz 3 AO konkrete Sachverhalte vor Augen, die erfasst werden sollten5. Insbesondere in Schätzungsfällen, in denen die Steuererklärung erst nach Ergehen der Einspruchsentscheidung eingereicht wird, sollte der Antrag auf schlichte Änderung nach Erlass der Einspruchsentscheidung dazu führen, die Finanzgericht zu entlasten. Mit der Verwendung des Worts „insbesondere“ bringt der Gesetzgeber jedoch zum Ausdruck, dass neben dem in der Gesetzesbegründung genannten Beispiel auch andere Anwendungsfälle denkbar sind. Gegen eine Beschränkung der Norm auf den in der Gesetzesbegründung ausdrücklich genannten Fall spricht zudem, dass eine solche Beschränkung des Antragsrechts im Wortlaut der Norm keinen Niederschlag gefunden hat6.

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Auch aus dem systematischen Zusammenhang zu § 348 Nr. 1 AO ergibt sich keine Einschränkung der Zulässigkeit des Antrags auf schlichte Änderung nach einem durchgeführtem (Teil-)Einspruchsverfahren. Nach § 348 Nr. 1 AO ist gegen die Einspruchsentscheidung ein weiterer Einspruch nicht statthaft. Das Verwaltungsverfahren wird damit durch die Einspruchsentscheidung beendet. Eine Fortführung ist nur im Klageweg vor dem Finanzgericht möglich (vgl. § 44 FGO). Der Antrag auf schlichte Änderung führt das Einspruchsverfahren jedoch nicht fort. Er eröffnet ein weiteres Verfahren, das sich grundsätzlich von dem bereits abgeschlossenen Einspruchsverfahren unterscheidet7. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass aufgrund des Antrags auf schlichte Änderung der Eintritt der Bestandskraft des Bescheids nur punktuell und nicht wie beim Einspruch insgesamt verhindert wird. Aus diesem Grund kann aufgrund des Antrags auf schlichte Änderung keine Aussetzung der Vollziehung des Bescheids erfolgen (vgl. § 361 AO). Zum anderen ist bei Ablehnung des Antrags auf schlichte Änderung keine Anfechtungs, sondern eine Verpflichtungsklage gegeben. Der Verfahrensgang unterscheidet sich somit deutlich von einer Fortführung des Einspruchsverfahrens.

Die Zulassung des Änderungsantrags nach dem Erlass der Einspruchsentscheidung führt grundsätzlich auch nicht zu einer theoretisch unendlichen Verkettung von neuen Anträgen und behördlichen Entscheidungen8. Es kann durch den Änderungsantrag maximal zu einer zweimaligen Befassung der Finanzbehörde mit derselben inhaltlichen Frage kommen. Wird der gegen eine Einspruchsentscheidung gerichtete Antrag auf schlichte Änderung abgelehnt, kann hiergegen zwar Einspruch eingelegt werden. Ein weiterer Änderungsantrag nach der Einspruchsentscheidung über den abgelehnten Antrag auf schlichte Änderung ist jedoch nicht möglich, da die Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO nur auf Steuerbescheide und nicht auf sonstige Verwaltungsakte anwendbar sind.

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Gegen eine einschränkende Auslegung von § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a, Satz 2 und Satz 3 Halbsatz 1 AO spricht auch, dass die Einspruchsentscheidung nicht in erhöhter Bestandskraft erwächst9. Sie hat rechtlich keine andere Qualität als die Steuerfestsetzung10 und muss daher ebenso abänderbar sein wie der ursprüngliche Verwaltungsakt.

Danach liegen die Voraussetzungen für eine teleologische Reduktion nicht vor. Es widerspräche dem klaren Wortlaut und der Konzeption der AO, die Anwendung des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO nur im Falle des Vorbringens von neuem Rechts- oder Tatsachenvortrag, der noch nicht im Einspruchsverfahren überprüft wurde, anzuwenden. Dies müsste vom Gesetzgeber angeordnet werden. Dieser hat jedoch in § 172 Abs. 1 Satz 2 AO geregelt, dass § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO uneingeschränkt auch auf Einspruchsentscheidungen anwendbar ist und somit ebenfalls dann Anwendung findet, wenn der Rechts- und Tatsachenvortrag bereits in einem Einspruchsverfahren geprüft worden ist.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 27. Oktober 2020 – VIII R 30/17

  1. Abkehr vom BFH, Beschluss vom 05.02.2010 – VIII B 139/08, BFH/NV 2010, 831[]
  2. FG Köln, Urteil vom 11.06.2008 – 4 K 3560/07, EFG 2009, 1432; Sächs. Finanzgericht, Urteil vom 06.06.2012 – 8 K 1738/06; FG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 01.07.2015 – 7 K 7245/12, EFG 2015, 1587; und vom 26.11.2019 – 5 K 5012/19, EFG 2020, 885, Revision eingelegt: BFH – III R 5/20; FG Münster, Urteil vom 19.10.2017 – 5 K 3971/14 U, EFG 2017, 1865; offen gelassen in BFH, Beschluss vom 30.11.2010 – VIII B 3/10, BFH/NV 2011, 432; in BFH, Urteil vom 19.05.2020 – X R 22/19, BFH/NV 2020, 1241, Rz 23; und in BFH, Urteil vom 22.05.2019 – XI R 17/18, BFHE 264, 399, BStBl II 2019, 647, Rz 39[]
  3. s.a. BFH, Urteil vom 09.09.2020 – III R 2/19[]
  4. vgl. z.B. BFH, Urteil vom 12.06.2018 – VIII R 14/15, BFHE 262, 66, BStBl II 2018, 755, m.w.N.[]
  5. BT-Drs. 14/1514, S. 47[]
  6. so auch Kamps, Die Steuerberatung 2008, 429, unter II. 4.b; Bleschick, EFG 2020, 885, unter II. 2.b bb (4).[]
  7. so auch Bartone in Gosch, AO § 348 Rz 9[]
  8. Bartone in Gosch, AO § 348 Rz 9; anderer Ansicht Geimer, Der AO-Steuer-Berater 2008, 144, 145; Urteil des Finanzgericht Münster in EFG 2017, 1865, Rz 30[]
  9. von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler -HHSp-, § 172 AO Rz 241; von Wedelstädt in Gosch, AO § 172 Rz 201; Loose in Tipke/Kruse, § 172 AO Tz 46[]
  10. Frotscher in Schwarz/Pahlke, AO, § 172 Rz 101, m.w.N.[]
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