Änderungsmöglichkeit nach § 174 Abs. 3 AO bei unterlassenem Steuerbescheid

Eine Änderung nach § 174 Abs. 3 AO ist auch dann gerechtfertigt, wenn das Finanzamt zunächst keinen Steuerbescheid erlassen hat, dieses Unterlassen aber auf der erkennbaren Annahme beruht, ein bestimmter Sachverhalt sei in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen.

Änderungsmöglichkeit nach § 174 Abs. 3 AO bei unterlassenem Steuerbescheid

ach Ablauf der Festsetzungsfrist darf eine Aufhebung oder Änderung von Steuerbescheiden nur noch insoweit erfolgen, als dies sonst gesetzlich zugelassen ist (§ 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d AO). Zu diesen gesetzlich zugelassenen Ausnahmefällen gehört auch eine Änderung auf der Grundlage des § 174 Abs. 3 AO.

Danach kann die Steuerfestsetzung, bei der die Berücksichtigung eines bestimmten Sachverhalts unterblieben ist, insoweit nachgeholt, aufgehoben oder geändert werden, als dieser Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden ist, dass er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, und sich diese Annahme als unrichtig herausstellt. Die Nachholung, Aufhebung oder Änderung ist nur zulässig bis zum Ablauf der für die andere Steuerfestsetzung geltenden Festsetzungsfrist (§ 174 Abs. 3 Satz 2 AO).

Die Vorschrift soll verhindern, dass ein steuererhöhender oder steuermindernder Vorgang bei der Besteuerung überhaupt nicht berücksichtigt wird (negativer Widerstreit), während eine doppelte Berücksichtigung durch § 174 Abs. 1 und 2 AO vermieden wird1.

Unter einem „bestimmten Sachverhalt“ i.S. von § 174 Abs. 3 Satz 1 AO ist der einzelne Lebensvorgang zu verstehen, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Darunter fällt nicht nur die einzelne steuererhebliche Tatsache oder das einzelne Merkmal, sondern auch der einheitliche, für die Besteuerung maßgebliche Sachverhaltskomplex2.

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Einer Änderung nach § 174 Abs. 3 AO steht nicht entgegen, dass der bestimmte Sachverhalt „in einem Steuerbescheid erkennbar nicht berücksichtigt“ wurde.

Zwar hat das Finanzamt (zunächst) für 1991 keinen Steuerbescheid erlassen, in dem der maßgebliche Sachverhalt (Rücknahme der Option) hätte unberücksichtigt bleiben können. Da die Rechtsfolge des § 174 Abs. 3 AO aber darin besteht, dass die bislang unterbliebene Steuerfestsetzung „nachgeholt“ werden kann, steht der Anwendung dieser Norm nicht entgegen, dass das Finanzamt zunächst überhaupt keinen Steuerbescheid erlässt, weil es in der (erkennbaren) Annahme handelt, der bestimmte Sachverhalt sei in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen3.

Allerdings muss in diesem Fall die Annahme der Finanzbehörde, der Sachverhalt sei in einem anderen Steuerbescheid zu erfassen, für die Nichtberücksichtigung dieses Sachverhalts im Steuerbescheid kausal gewesen sein4. Die der Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 174 Abs. 3 AO dienende Kausalität fehlt insbesondere, wenn die Nichtberücksichtigung des Sachverhalts darauf beruht, dass das Finanzamt von diesem Sachverhalt gar keine Kenntnis hatte oder annahm, dieser Sachverhalt sei -jetzt und auch später- ohne steuerrechtliche Bedeutung5.

So liegen die Verhältnisse im Streitfall. Die Rücknahme der Option vom 23.12 1997 löst zwingende Rechtsfolgen auf Erwerber- und Veräußererseite aus, wobei die Jahre 1991 (Leistungsbewirkung) und 1997 (Optionsrücknahme) betroffen sind. Das Finanzamt hatte eine Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung 1991 gerade deshalb unterlassen, weil es davon ausging, dass die Rücknahme der Option im Rücknahmejahr (1997) zu berücksichtigen sei. Dabei ist das Finanzamt der umsatzsteuerrechtlichen Behandlung in der Umsatzsteuererklärung der DIH-KG 1997 vom 16.03.2004 gefolgt und hat folglich darauf verzichtet, die Rücknahme der Option als rückwirkendes Ereignis zu behandeln und die Umsatzsteuerfestsetzung 1991 gegenüber der Klägerin als Rechtsnachfolgerin der NB-G-GmbH zu ändern.

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§ 174 Abs. 3 AO erfordert darüber hinaus die Annahme, dass der bestimmte Sachverhalt in einem „anderen Steuerbescheid“ zu berücksichtigen sei. Im Streitfall bezog sich die Annahme des Finanzamt nicht auf einen derartigen Steuerbescheid, sondern auf die Berücksichtigung im Rahmen der Umsatzsteuererklärung 1997 der DIH-KG.

Nach der Legaldefinition in § 155 Abs. 1 Satz 2 AO ist ein Steuerbescheid der nach § 122 Abs. 1 AO bekannt gegebene Verwaltungsakt. Er bildet zwar die Regelform der Steuerfestsetzung, eine Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung nach Abgabe einer entsprechenden Steuererklärung (§ 168 Satz 1 AO) steht einem Steuerbescheid i.S. von § 174 Abs. 4 AO jedoch gleich6. Da Gründe für eine unterschiedliche Behandlung innerhalb der Korrekturnorm des § 174 AO nicht ersichtlich sind, gilt diese Gleichstellung auch im Rahmen des § 174 Abs. 3 AO.

Die Annahme des Finanzamt, dass der Sachverhalt7 in einem anderen Steuerbescheid bzw. im Streitfall in einer anderen Umsatzsteuerfestsetzung (1997) zu berücksichtigen sei, hat sich auch als unrichtig herausgestellt. Denn nach der Rechtsprechung des BFH in BFHE 194, 493, BStBl II 2003, 673 wirkt sich die Rückgängigmachung des Vorsteuerabzugs beim Leistungsempfänger nicht im Jahr der Rücknahmeerklärung, sondern bereits im Jahr des Leistungsbezugs als rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO aus.

Weiterhin war „erkennbar“, dass die Berücksichtigung des Sachverhalts nur im Hinblick auf die spätere Steuerfestsetzung unterblieben ist, und zwar für denjenigen, dem gegenüber die Steuerfestsetzung geändert oder -wie im Streitfall- nachgeholt werden soll.

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Erkennbar heißt, dass dieser bei verständiger Würdigung des an ihn gerichteten Bescheids erkennen musste, warum ein bestimmter Vorgang dort nicht berücksichtigt wurde8. Für die Frage der Erkennbarkeit kommt es auf den gesamten Sachverhaltsablauf an9. Erkennbarkeit liegt insbesondere dann vor, wenn der Steuerpflichtige durch sein eigenes Verhalten die Finanzbehörde veranlasst hat, einen Sachverhalt nicht bei ihm, sondern bei einem anderen zu erfassen10.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 19. Dezember 2013 – V R 7/12

  1. BFH, Urteile vom 27.05.1993 – IV R 65/91, BFHE 172, 5, BStBl II 1994, 76; vom 29.05.2001 – VIII R 19/00, BFHE 195, 23, BStBl II 2001, 743, unter II. 3.a[]
  2. BFH, Urteil vom 14.01.2010 – IV R 33/07, BFHE 228, 122, BStBl II 2010, 586, Leitsatz 1[]
  3. BFH, Urteile vom 23.05.1996 – IV R 49/95, BFH/NV 1997, 89 Rz 19; vom 29.05.2001 – VIII R 19/00, BFHE 195, 23, BStBl II 2001, 743 Rz 29; Frotscher in Schwarz, AO, § 174 Rz 93[]
  4. BFH, Urteil in BFHE 195, 23, BStBl II 2001, 743 Rz 30; von Wedelstädt in Beermann, AO, § 174 Rz 65[]
  5. Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 174 AO Rz 29; von Wedelstädt in Beermann, a.a.O., § 174 AO Rz 65[]
  6. BFH, Urteil vom 15.03.1994 – XI R 45/93, BFHE 174, 290[]
  7. Rücknahme der Option[]
  8. BFH, Urteil vom 29.10.1991 – VIII R 2/86, BFHE 167, 316, BStBl II 1992, 832, Leitsatz 2[]
  9. BFH, Urteile vom 21.12 1984 – III R 75/81, BFHE 143, 110, BStBl II 1985, 283; vom 01.08.1984 – V R 67/82, BFHE 141, 490, BStBl II 1984, 788[]
  10. BFH, Urteil vom 05.11.2009 – IV R 99/06, BFHE 228, 98, BStBl II 2010, 593[]
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