In einem finanzgerichtlichen Verfahren, das keine wesentlichen Besonderheiten aufweist, ist eine bereits 13 Monate nach Eingang der Klage erhobene Verzögerungsrüge als verfrüht und damit als unwirksam anzusehen.

Weder aus dem Umstand, dass im Ausgangsverfahren eine Untätigkeitsklage erhoben wurde, noch aus dem langen Zurückliegen der Streitjahre folgt ein vom Ausgangsgericht von Amts wegen zu berücksichtigendes besonderes Beschleunigungsbedürfnis. Zur Begründung eines Anspruchs auf vorrangige Bearbeitung seines Verfahrens muss der Beteiligte vielmehr auch in solchen Fällen konkrete Umstände gegenüber dem Ausgangsgericht darlegen. Aufgrund des bei der Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer zu beachtenden Toleranzrahmens, der einer allzu kleinteiligen Betrachtungsweise entgegensteht, ist eine im 25. Monat nach Klageerhebung zu verzeichnende Untätigkeit des Ausgangsgerichts noch nicht als unangemessen anzusehen, wenn bereits zu Beginn des 26. Monats ein Umstand eintritt, der dem Ausgangsgericht eine Förderung des Verfahrens auf unabsehbare Zeit unmöglich macht.
Nach dem Wortlaut der gesetzlichen Regelungen (§ 198 Abs. 5 Satz 3 GVG, § 851 Abs. 1 ZPO, § 36 Abs. 1 Satz 1, § 80 Abs. 1 InsO, § 240 Satz 1 ZPO) werden Entschädigungsklageverfahren durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers nicht unterbrochen. Ob eine erweiternde Auslegung des Anwendungsbereichs des § 240 Satz 1 ZPO geboten ist, brauchte der Bundesfinanzhof hier nicht zu entscheiden.
In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall begehrt der Kläger gemäß § 198 GVG Entschädigung wegen der aus seiner Sicht unangemessenen Dauer zweier Klageverfahren, die seit dem 25.02.2019 beim Thüringer Finanzgericht anhängig sind und am 06.04.2021 wegen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers unterbrochen worden sind, ohne bisher aufgenommen worden zu sein. Der Bundesfinanzhof kann offenlassen, ob die Entschädigungsklageverfahren aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers überhaupt unterbrochen waren. Jedenfalls wäre eine eventuelle Unterbrechung zwischenzeitlich beendet worden, sodass den Entschädigungsklageverfahren Fortgang zu geben ist.
Aus den rechtlichen Regelungen über den Entschädigungsanspruch und das Insolvenzverfahren ließe sich ableiten, dass Entschädigungsklageverfahren nicht von der Unterbrechungswirkung des § 240 Satz 1 ZPO erfasst werden.
Der Eintritt der Rechtsfolge des § 240 Satz 1 ZPO setzt u.a. voraus, dass das jeweilige gerichtliche Verfahren „die Insolvenzmasse betrifft“. Gemäß § 198 Abs. 5 Satz 3 GVG ist ein Entschädigungsanspruch bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Entschädigungsklage nicht übertragbar. Daraus folgt, dass er bis zu diesem Zeitpunkt auch unpfändbar ist (§ 851 Abs. 1 ZPO). Gegenstände, die nicht der Zwangsvollstreckung unterliegen, gehören aber nicht zur Insolvenzmasse (§ 36 Abs. 1 Satz 1 der Insolvenzordnung -InsO-). Nur in Bezug auf die Insolvenzmasse geht das Verwaltungs- und Verfügungsrecht auf den Insolvenzverwalter über (§ 80 Abs. 1 InsO). Erst nach der rechtskräftigen Entscheidung über den Entschädigungsanspruch gelten die allgemeinen Vorschriften zur Übertragbarkeit, Aufrechenbarkeit1, Pfändbarkeit und damit auch zum Insolvenzbeschlag.
In der Praxis wäre diese Betrachtung in Bezug auf Entschädigungsforderungen allerdings mit erheblichen Friktionen verbunden. Im ersten Schritt müsste das -nicht unterbrochene- Entschädigungsklageverfahren auch während des Insolvenzverfahrens vom nicht zahlungsfähigen Schuldner persönlich, auf sein Risiko und auf seine Kosten geführt werden. Sobald diesem aber eine Entschädigung rechtskräftig zugesprochen würde, könnte der Insolvenzverwalter sein nunmehr bestehendes Verwaltungs- und Verfügungsrecht hinsichtlich der Entschädigungsforderung ausüben. Angesichts dessen wäre es für den Schuldner weitestgehend sinnlos, ein solches Entschädigungsklageverfahren fortzuführen.
Der Bundesfinanzhof muss diese Frage, ob im Hinblick auf die vorstehend dargelegte Problematik eine erweiternde Auslegung des Anwendungsbereichs des § 240 Satz 1 ZPO geboten ist, vorliegend nicht entscheiden, da eine eventuelle Unterbrechungswirkung zwischenzeitlich jedenfalls beendet worden wäre. Bei den vorliegenden Entschädigungsklageverfahren handelt es sich um Aktivprozesse, in denen -falls sie durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens unterbrochen worden sein sollten- der Insolvenzverwalter das erste Recht zur Aufnahme gehabt hätte (§ 85 Abs. 1 Satz 1 InsO). Nachdem dieser die Aufnahme abgelehnt hatte, lag das Recht zur Aufnahme der Verfahren gemäß § 85 Abs. 2 InsO u.a. beim Beklagten. Dieser hat am 18.02.2022 die Aufnahme erklärt, sodass die Verfahren jedenfalls seit diesem Zeitpunkt fortzuführen sind.
Die vorliegend erhobenen Entschädigungsklagen sind jedoch sowohl mit den Zahlungsanträgen als auch mit den Feststellungsanträgen unbegründet:
Ein Anspruch auf Geldentschädigung ist in beiden Verfahren bereits wegen des Fehlens wirksamer Verzögerungsrügen ausgeschlossen.
Die Zuerkennung einer Geldentschädigung setzt eine (wirksame) Verzögerungsrüge voraus (§ 198 Abs. 3 Satz 1 GVG). Diese kann erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird (§ 198 Abs. 3 Satz 2 GVG).
Für finanzgerichtliche Verfahren, die keine wesentlichen Besonderheiten aufweisen, gilt grundsätzlich die Vermutung einer angemessenen Verfahrensdauer, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach Klageeingang mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene Phase der gerichtlichen Aktivität nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht das Verfahren unbearbeitet lässt2. Der Bundesfinanzhof hat bereits entschieden, dass im Anwendungsbereich dieser Vermutung eine nach 14 Monaten erhobene Verzögerungsrüge in der Regel als verfrüht und damit unwirksam anzusehen ist3.
In den vorliegend zu beurteilenden Ausgangsverfahren wurden die Verzögerungsrügen jeweils bereits 13 Monate nach der Erhebung der beiden Klagen eingereicht. Sie sind daher nach den im vorstehenden Absatz dargelegten Maßstäben unwirksam.
Im Streitfall folgt nichts anderes daraus, dass es in den Ausgangsverfahren nicht um gewöhnliche Anfechtungs- oder Verpflichtungsklagen geht, sondern Untätigkeitsklagen erhoben worden sind.
Allein aus dem Umstand, dass es sich um Untätigkeitsklagen handelt, folgt noch kein besonderes Beschleunigungsgebot für das Ausgangsgericht. Der Kläger muss ein aus seiner Sicht bestehendes besonderes Beschleunigungsbedürfnis vielmehr auch in diesen Fällen ausdrücklich benennen (vgl. auch § 198 Abs. 3 Satz 3 GVG), damit das von ihm betriebene Verfahren einen Vorrang gegenüber anderen, beim selben Spruchkörper anhängigen gleich alten -oder sogar jüngeren- Verfahren erhalten kann. Hinzu kommt, dass die Untätigkeitsklagen vorliegend noch vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist des § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO erhoben worden sind.
Der Kläger hat in den Ausgangsverfahren weder vor noch mit seinen Verzögerungsrügen ein nachvollziehbares Interesse an einer besonderen Beschleunigung der Verfahren dargelegt. Hierfür genügt insbesondere nicht der bloße Hinweis auf das lange Zurückliegen der Streitjahre. Der Kläger hätte zur Begründung eines besonderen Beschleunigungsanspruchs vielmehr konkrete Umstände (z.B. drohender Beweismittelverlust infolge des Zeitablaufs, Einfluss des Verfahrens auf seine gegenwärtigen oder zukünftigen steuerrechtlichen Planungen) darlegen müssen. Allein der Umstand, dass die Streitjahre lange zurückliegen, bewirkt noch keinen Vorrang eines solchen Ausgangsverfahrens gegenüber gleich alten oder jüngeren Verfahren, die beim selben Spruchkörper anhängig sind. Denn das Finanzgericht ist -vorbehaltlich des Vorliegens besonderer, von dem die Beschleunigung begehrenden Beteiligten darzulegender Umstände- grundsätzlich nicht verpflichtet, Verzögerungen des vorangegangenen Verwaltungsverfahrens gewissermaßen von Amts wegen auszugleichen. Im Übrigen beruhte ein erheblicher Teil der zwischen dem Streitjahr und dem Beginn der Ausgangsverfahren verstrichenen Zeit darauf, dass der Kläger mehrfach Nichtigkeitsfeststellungsklagen anhängig gemacht, zurückgenommen und später zum selben Streitgegenstand erneut anhängig gemacht hatte.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf eine gerichtliche Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war.
Die vom Kläger zusätzlich gestellten Anträge auf Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer sind nicht von der Erhebung einer wirksamen Verzögerungsrüge abhängig, weil das in § 198 Abs. 3 GVG enthaltene Erfordernis der Verzögerungsrüge nach dem klaren Gesetzeswortlaut nur für den Anspruch auf Geldentschädigung gilt.
Da auch für die in den Ausgangsverfahren erhobenen Untätigkeitsklagen von der typisierenden Bundesfinanzhofsrechtsprechung auszugehen ist, wonach das Finanzgericht in einem durchschnittlichen Klageverfahren gut zwei Jahre nach Klageeingang mit Maßnahmen beginnen muss, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, wären in den seit dem 25.02.2019 beim Finanzgericht anhängigen Ausgangsverfahren grundsätzlich ab März 2021 auf den Verfahrensabschluss gerichtete Aktivitäten des Finanzgericht erforderlich gewesen.
Bereits am 06.04.2021 sind die Ausgangsverfahren jedoch infolge der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers unterbrochen worden4. Während der Unterbrechung ist dem Gericht eine Verfahrensförderung aus Rechtsgründen nicht möglich5, so dass diese Zeit nicht als Teil einer unangemessenen Verfahrensdauer angesehen werden kann.
Damit könnte allenfalls die Nichtbearbeitung der Ausgangsverfahren im Monat März 2021 als unangemessen anzusehen sein. Insoweit scheidet die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer jedoch aufgrund des Toleranzrahmens aus, der einer allzu kleinteiligen Betrachtungsweise entgegensteht6.
Dieser Toleranzrahmen beruht darauf, dass nach der vom Bundesfinanzhof für das durchschnittliche finanzgerichtliche Klageverfahren entwickelten typisierenden Formel lediglich nach „gut“ zwei Jahren mit verfahrensfördernden Maßnahmen begonnen werden muss. Dies ermöglicht es, eine im 25. Monat nach Klageerhebung zu verzeichnende Untätigkeit des Ausgangsgerichts noch nicht als unangemessen anzusehen, sofern -wie hier- bereits zu Beginn des 26. Monats nach Klageerhebung ein Umstand eintritt, der dem Ausgangsgericht eine Förderung des Verfahrens auf unabsehbare Zeit unmöglich macht.
Nur zur Klarstellung weist der Bundesfinanzhof darauf hin, dass seine bisherige Rechtsprechung unberührt bleibt, wonach in Fällen, die nach Ablauf der „gut“ zwei Jahre nach Klageerhebung durch einen langen Zeitraum der gerichtlichen Untätigkeit gekennzeichnet sind, grundsätzlich bereits der 25. Monat in den Zeitraum der unangemessenen Verfahrensdauer einzubeziehen ist.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 16. November 2022 – X K 1 – 2/21
- dazu ausführlich BGH, Urteil vom 07.11.2019 – III ZR 17/19, BGHZ 224, 20[↩]
- BFH, Urteil vom 07.11.2013 – X K 13/12, BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179[↩]
- BFH, Urteile vom 26.10.2016 – X K 2/15, BFHE 255, 407, BStBl II 2017, 350, Rz 45 ff.; und vom 29.11.2017 – X K 1/16, BFHE 259, 499, BStBl II 2018, 132, Rz 39 ff., auf die wegen der näheren Begründung verwiesen wird[↩]
- vgl. zur Unterbrechungswirkung bei Gewinnfeststellungsverfahren BFH, Urteil vom 24.08.2004 – VIII R 14/02, BFHE 207, 10, BStBl II 2005, 246[↩]
- zum Fristenlauf und zu Verfahrenshandlungen der Beteiligten vgl. § 249 Abs. 1, 2 ZPO; zu gerichtlichen Handlungen vgl. BFH, Beschluss vom 14.05.2013 – X B 134/12, BFHE 240, 534, BStBl II 2013, 585, Rz 17, m.w.N.[↩]
- vgl. hierzu insbesondere BFH, Urteil vom 17.06.2014 – X K 7/13, BFH/NV 2015, 33, Rz 52[↩]
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- Thüringer Finanzgericht in Gotha / Sozialgericht Gotha: A. Savin,WikiCommons | FAL Free Art License 1.3