Auslegung des Klageantrags im Rahmen einer „Untätigkeitsverpflichtungsklage“

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs stellt es einen Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar, wenn über eine zulässige Klage nicht zur Sache, sondern durch Prozessurteil entschieden wird. In einem solchen Fall wird zugleich der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt1.

Auslegung des Klageantrags im Rahmen einer „Untätigkeitsverpflichtungsklage“

Prozesserklärungen sind wie sonstige Willenserklärungen auslegungsfähig. Ziel der Auslegung ist es, den wirklichen Willen des Erklärenden zu erforschen (§ 133 BHB). Auf die Wortwahl und die Bezeichnung kommt es nicht entscheidend an, sondern auf den gesamten Inhalt der Willenserklärung. Dabei können auch außerhalb der Erklärung liegende weitere Umstände berücksichtigt werden2.

Dementsprechend ist nach § 96 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 FGO das Gericht an die Fassung des Klageantrags nicht gebunden, sondern hat im Wege der Auslegung den Willen der Partei anhand der erkennbaren Umstände zu ermitteln3. Das Wesen der Klage wird nicht durch den -formalen- Klageantrag bestimmt, sondern durch den begehrten richterlichen Ausspruch. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass im Zweifel das gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht4. Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften (Art.19 Abs. 4 GG) Rechnung5.

Auf dieser Grundlage ist im Regelfall eine Würdigung auslegungsbedürftigen Klägervortrags in dem Sinne geboten, dass die materiell-rechtliche Richtigkeit einer Steuerfestsetzung überprüft werden soll, die mit dem Einspruch angefochten worden ist, wenn der Kläger gerichtlich die -im Gesetz nicht vorgesehene- Verpflichtung des Finanzamt begehrt, über den Einspruch zu entscheiden.

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Demgemäß war im vorliegenden Fall die „Untätigkeitsverpflichtungsklage“ nicht lediglich auf die Verpflichtung des Finanzamt gerichtet, eine Einspruchsentscheidung zu erlassen, sondern der Kläger begehrte im Rahmen einer Untätigkeitsanfechtungsklage (§ 46 Abs. 1 FGO) die inhaltliche Änderung des Einkommensteuerbescheids.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 9. September 2014 – VIII B 133/13

  1. vgl. BFH, Urteil vom 25.09.2013 – VIII R 17/11; bei fehlerhafter Auslegung des Klageantrags siehe z.B. BFH, Beschluss vom 16.10.2013 – IX B 73/13, BFH/NV 2014, 178[]
  2. BFH, Beschluss in BFH/NV 2014, 178[]
  3. BFH, Entscheidungen vom 12.06.1997 – I R 70/96, BFHE 183, 465, BStBl II 1998, 38, m.w.N.; vom 02.07.2012 – III B 101/11, BFH/NV 2012, 1628[]
  4. BFH, Entscheidungen vom 29.04.2009 – X R 35/08, BFH/NV 2009, 1777, m.w.N.; in BFH/NV 2012, 1628[]
  5. vgl. zum Ganzen BFH, Entscheidungen vom 17.01.2002 – VI B 114/01, BFHE 198, 1, BStBl II 2002, 306; vom 27.01.2011 – III R 65/09, BFH/NV 2011, 991; in BFH/NV 2014, 178[]