Auslegung des Klagebegehrens – im Rahmen eines Urteils ohne mündliche Verhandlung

Ein Urteil ist verfahrensfehlerhaft ergangen, wenn das Gericht bei der Formulierung der Anträge für den nicht vertretenen Kläger dessen Klageziel im Sinne einer Abänderung des Bescheids mittels Anfechtungsklage erfasst, in den Gründen aber von einer Verpflichtungsklage ausgeht.

Auslegung des Klagebegehrens – im Rahmen eines Urteils ohne mündliche Verhandlung

Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, denn das Finanzgericht hat § 76 Abs. 2 und § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO verletzt. Dies stellt einen im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde auch ohne Rüge von Amts wegen zu berücksichtigenden Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens dar1.

Nach § 96 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ist das Gericht an die Fassung des Klageantrags nicht gebunden, sondern hat im Wege der Auslegung den Willen der Partei anhand der erkennbaren Umstände zu ermitteln2.

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass im Zweifel das gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht3. Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der Rechtsschutz gewährenden Auslegung nach Art.19 Abs. 4 des Grundgesetzes Rechnung4. Dabei darf das Finanzgericht nicht über ein offenkundig nicht verfolgtes Rechtsschutzziel entscheiden5, nicht über die Anträge hinausgehen (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO), nicht hinter dem Klagebegehren zurückbleiben, nicht nur über einen Teil des Klagebegehrens entscheiden6 und auch nicht unklar tenorieren oder so entscheiden, dass das Urteil nicht in einem bestimmten Sinne zweifelsfrei ausgelegt werden kann7.

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Insofern kann das Beschwerde- oder Revisionsgericht die Auslegung einer prozessualen Willenserklärung uneingeschränkt nachprüfen; die Nachprüfung von Prozesshandlungen und Prozesserklärungen sowie Anträgen auf ihren Inhalt und ihre Bedeutung gehört zu den Aufgaben des Bundesfinanzhofs, bei der er nicht an die Tatsachenfeststellungen des Finanzgericht gebunden ist8.

Nach diesen Grundsätzen verstößt die Auslegung des vom Kläger schriftsätzlich vorgebrachten Klagebegehrens durch das Finanzgericht dahingehend, dass dieser mit einer Anfechtungsklage gemäß § 40 Abs. 1 Alternative 1 FGO die Abänderung i.S. des § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO des Einkommensteuerbescheids vom 16.09.2019 begehrt, gegen § 76 Abs. 2 i.V.m. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO. Richtige Klageart wäre vielmehr die Verpflichtungsklage gemäß § 40 Abs. 1 Alternative 2 FGO mit dem Ziel einer Neubescheidung gemäß § 101 FGO gewesen.

 Im Streitfall hatte der prozessual nicht vertretene Kläger in seiner Klagebegründung vom 17.10.2019 zunächst (wörtlich) beantragt, „dass das Gericht überprüft, ob bei der strittigen Kapitalmaßnahme [der I-Ltd.] die Voraussetzungen vorliegen, dass § 1 KapErhStG anwendbar ist oder Steuerneutralität vorliegt aus analogen Gründen, aus denen das Bundesfinanzministerium die Kapitalmaßnahme von Google am 08.04.2014 als steuerneutral eingeordnet hat oder andere Gründe (z.B. Leistungsfähigkeitsprinzip bei der Besteuerung, Gleichmäßigkeit der Besteuerung) für eine Steuerneutralität vorliegen, so dass dem Klagebegehren (Anrechnung von Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag …) stattgegeben werden kann“. Mit Schriftsatz vom 28.01.2020 beantragte der Kläger zudem, „der Klage stattzugeben“. Das Finanzgericht hat den Antrag des Klägers sodann („sinngemäß“) so formuliert, dass dieser die Abänderung des Einkommensteuerbescheids vom 16.09.2019 begehrt und -nach Klagestattgabe- auch entsprechend i.S. des § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO tenoriert.

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Demgegenüber hat das Finanzgericht in seinen Entscheidungsgründen das Schreiben des Klägers vom 21.04.2012 nicht als Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid vom 03.04.2012 ausgelegt, obwohl sich dieses Schreiben gegen einen noch nicht bestandskräftigen Verwaltungsakt richtete, sondern -für den Bundesfinanzhof bindend (§ 118 Abs. 2 FGO)- festgestellt, dass es sich insoweit um einen Antrag auf „schlichte Änderung“ i.S. des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a der Abgabenordnung handelte. Nach den weiteren Feststellungen des Finanzgericht handelte es sich bei dem „Abrechnungsbescheid nach § 218 AO“ vom 15.11.2012 folglich um die Ablehnung dieser „schlichten Änderung“. Gegen die -nach erfolglosem Einspruch des Klägers- ergangene Einspruchsentscheidung vom 16.09.2019 wäre daher die Verpflichtungsklage gemäß § 40 Abs. 1 Alternative 2 FGO die richtige Klageart gewesen9.

Richtigerweise hätte das Finanzgericht daher gemäß § 76 Abs. 2 i.V.m. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO entsprechend dem vom Kläger im Klageverfahren vorgetragenen Rechtsschutzziel davon ausgehen müssen, dass dieser eine Neubescheidung gemäß § 101 FGO entsprechend der Entscheidungsgründe des FG, Urteils begehrt. In diesem Sinne wäre der vom Kläger gestellte Klageantrag auszulegen gewesen. Eine Abänderung des Einkommensteuerbescheids vom 16.09.2019 i.S. des § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO -wie durch das Finanzgericht tenoriert- kam hingegen nicht in Betracht, weil diese Vorschrift nur auf reine Anfechtungsbegehren beschränkt ist, die Verpflichtungsklage hingegen in den Anwendungsbereich des § 101 FGO fällt, der den Erlass eines begehrten Verwaltungsakts durch das Gericht aber nicht zulässt10.

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Der Bundesfinanzhof hält es daher für sachgerecht, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache gemäß § 116 Abs. 6 FGO an das Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Das Finanzgericht wird im zweiten Rechtsgang gemäß § 76 Abs. 2 FGO auf eine ordnungsgemäße Antragstellung hinwirken und gemäß § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO über den gestellten Antrag entscheiden müssen. Für das weitere Verfahren weist der Bundesfinanzhof zudem auf die zwischenzeitlich zu § 20 Abs. 4a Satz 5 EStG ergangenen Entscheidungen hin11.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14. Dezember 2021 – VIII B 50/21

  1. vgl. BFH, Beschlüsse vom 21.10.2020 – VII B 121/19, BFH/NV 2021, 326, Rz 23; vom 30.01.2020 – IX B 73/19, BFH/NV 2020, 562, Rz 5; vom 10.06.2014 – IX B 157/13, BFH/NV 2014, 1559, Rz 2; und vom 28.12.2010 – X B 18/10, BFH/NV 2011, 624; jeweils m.w.N.[]
  2. BFH, Urteil vom 12.06.1997 – I R 70/96, BFHE 183, 465, BStBl II 1998, 38, unter II. 1., m.w.N.[]
  3. BFH, Urteil vom 29.04.2009 – X R 35/08, BFH/NV 2009, 1777, m.w.N.[]
  4. BFH, Urteil vom 27.01.2011 – III R 65/09, BFH/NV 2011, 991, Rz 10, m.w.N.[]
  5. vgl. etwa BFH, Urteil vom 24.11.1998 – VIII R 61/97, BFHE 187, 297, BStBl II 1999, 483, unter II. 3.[]
  6. vgl. etwa BFH, Beschluss in BFH/NV 2011, 624, Rz 22, m.w.N.[]
  7. BFH, Urteil vom 27.07.1993 – VIII R 67/91, BFHE 173, 480, BStBl II 1994, 469, unter II. 1.[]
  8. BFH, Urteile vom 18.08.2020 – VII R 39/19, BFH/NV 2021, 329, und in BFHE 173, 480, BStBl II 1994, 469, unter II. 1.; BFH, Beschluss in BFH/NV 2011, 624, Rz 22[]
  9. BFH, Urteile vom 11.11.2008 – IX R 53/07, BFH/NV 2009, 364; vom 27.10.1993 – XI R 17/93, BFHE 172, 493, BStBl II 1994, 439; vom 13.12.1985 – III R 204/81, BFHE 145, 545, BStBl II 1986, 245; vom 03.02.1983 – IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324[]
  10. BFH, Urteile vom 20.07.2018 – IX R 28/17, BFH/NV 2019, 110, Rz 29; vom 29.03.2007 – IX R 21/05, BFH/NV 2007, 2077; vom 11.07.1996 – V R 18/95, BFHE 180, 524, BStBl II 1997, 259[]
  11. BFH, Urteile vom 04.05.2021 – VIII R 17/18, BFHE 273, 197, und – VIII R 14/20, BFHE 273, 206[]
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