Aussetzung der Vollziehung – und die überzogene Sicherheitsleistung

Art. 19 Abs. 4 GG verbietet es, den Zugang zu einem Rechtsbehelf – dazu gehört auch die Aussetzung der Vollziehung ohne Sicherheitsleistung – in aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren1. Die jeweils geltende Prozessordnung muss Vorkehrungen dafür treffen, dass der Einzelne seine Rechte auch tatsächlich wirksam durchsetzen kann. Ein Rechtsbehelf darf nicht ineffektiv gemacht werden und für den Beschwerdeführer „leerlaufen“2.

Aussetzung der Vollziehung – und die überzogene Sicherheitsleistung

Art. 19 Abs. 4 GG garantiert insbesondere auch effektiven vorläufigen Rechtsschutz, denn wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Hieraus ergeben sich für die Gerichte Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen Gesetzesbestimmungen über den Eilrechtsschutz3. Sind dem Gericht im Interesse einer angemessenen Verfahrensgestaltung Ermessensbefugnisse eingeräumt, so müssen diese im konkreten Fall im Blick auf die Grundrechte ausgelegt und angewendet werden. Sie dürfen nicht zu einer Verkürzung des grundrechtlich gesicherten Anspruchs auf einen effektiven Rechtsschutz führen4.

Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 3 FGO „kann“ die finanzgerichtliche Aussetzung der Vollziehung eines Steuerverwaltungsakts von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden. Zwar nennt das Gesetz in § 69 FGO keine näheren Vorgaben zu den Voraussetzungen hierfür und nach welchen Gesichtspunkten das Finanzgericht sein ihm hierbei eingeräumtes Ermessen auszuüben hat. Es ist zunächst Sache der Finanzgerichte, Voraussetzungen und Grenzen der Befugnis aus § 69 Abs. 2 Satz 3 FGO im Rahmen der ihnen zukommenden Auslegung und Anwendung des Fachrechts näher zu bestimmen und dabei dem verfassungsrechtlichen Gebot, effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen5.

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Nach der Rechtsprechung der Finanzgerichte sind die Voraussetzungen für die Anordnung einer Sicherheitsleistung als Bedingung einer Aussetzung im Grundsatz geklärt. Eine Sicherheitsleistung ist demnach dann angezeigt, wenn die spätere Vollstreckung der Steuerforderung infolge der Aussetzung der Vollziehung insbesondere wegen der wirtschaftlichen Lage der Steuerschuldner gefährdet oder erschwert erscheint. Von einer Sicherheitsleistung soll gleichwohl abgesehen werden, wenn mit Gewissheit oder großer Wahrscheinlichkeit ein für den Steuerpflichtigen günstiger Prozessausgang zu erwarten ist. Auch darf die Anforderung einer Sicherheitsleistung nicht erfolgen, wenn sie mit Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der Steuerpflichtigen eine unbillige Härte für sie bedeuten würde, etwa weil Steuerpflichtige im Rahmen zumutbarer Anstrengungen nicht in der Lage sind, Sicherheit zu leisten.

Diese Rechtsprechung steht im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen effektiven Rechtsschutz. Die Sicherheitsleistung hat den Zweck, Steuerausfälle nach einer für den Steuerpflichtigen abschlägigen Entscheidung in der Hauptsache zu vermeiden. Insbesondere in den Fällen, in denen wegen ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung eine Aussetzung erfolgen soll (§ 69 Abs. 2 Satz 2 FGO), wäre es im Allgemeinen unverhältnismäßig, dem Steuerpflichtigen die Aussetzung der Vollziehung zu versagen, wenn seine wirtschaftlichen Verhältnisse die Leistung einer Sicherheit nicht zulassen6. Auch die das Steueraufkommen sichernde Anordnung einer Sicherheitsleistung muss den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit genügen7. Dies gilt ebenso für die Bestimmung der Höhe der Sicherheitsleitung. Entsprechend ist nach der Rechtsprechung der Finanzgerichte eine Sicherheitsleistung gemäß § 69 FGO nicht stets in Höhe des Werts der zu sichernden Forderung festzusetzen, wenngleich dies nach Würdigung der Umstände des Einzelfalls möglich ist8.

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Der hier vom Bundesverfassungsgericht überprüfte Beschluss des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz9 genügte diesen Anforderungen nicht:

Die Anordnung der Sicherheitsleistung als solche begegnet allerdings keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Finanzgericht hat sich mit den Voraussetzungen für die Anordnung einer Sicherheitsleistung befasst. Es hat die Gefährdung des Steueranspruchs damit begründet, dass der Beschwerdeführer sein Immobiliarvermögen vor und während der Steuerfahndungsprüfung teils veräußert und teils unentgeltlich übertragen hat, wodurch die Realisierung der Steueransprüche bei einem zumindest teilweise ungünstigen Prozessausgang erheblich gefährdet sei. Weiter hat das Finanzgericht ausgeführt, dass angesichts der erst im Hauptsacheverfahren zu klärenden schwierigen Abgrenzungsfragen jedenfalls nicht von vornherein mit Gewissheit oder großer Wahrscheinlichkeit ein für die Beschwerdeführenden günstiger Prozessausgang zu erwarten sei. Dabei hat es ausdrücklich eine Abwägung der Interessen der Beschwerdeführenden an einer Aussetzung der Vollziehung ohne Sicherheitsleistung und des Finanzamtes an einer vollständigen Sicherung der geltend gemachten Steuerforderungen vorgenommen, und geschlussfolgert, dass eine Aussetzung nur zu gewähren sei, wenn in angemessener Höhe Sicherheit geleistet wird.

Zwar hat sich das Finanzgericht dabei nicht ausdrücklich damit auseinandergesetzt, dass die Anordnung einer Sicherheitsleistung auch dann zu unterbleiben hat, wenn sie mit Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der Steuerpflichtigen eine unbillige Härte für sie bedeuten würden, etwa weil sie im Rahmen zumutbarer Anstrengungen nicht in der Lage sind, Sicherheit zu leisten. Dies war aber auch nicht veranlasst. So erklärten die Beschwerdeführenden selbst, jedenfalls eine Sicherheitsleistung in Höhe von 6.000 € erbringen zu können, und bezifferten ihr Nießbrauchsrecht an dem an den Sohn verschenkten Familienheim mit rund 300.000 €. Entsprechend beantragten sie dann auch im Anhörungsrügeverfahren, die Sicherheitsleistung auf 350.000 € festzusetzen.

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In aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise hat das Finanzgericht den Beschwerdeführenden aber den Zugang zu dem Rechtsbehelf der Aussetzung der Vollziehung dadurch erschwert, dass es die Höhe der zu leistenden Sicherheit ausgehend von den Grundstücksgeschäften auf 500.000 € bestimmt hat, ohne die zugrunde gelegten Schätzungsgrundlagen hinreichend überprüfbar darzulegen und die dem Gericht vorgelegten Unterlagen genügend auszuwerten.

Zwar erscheint es auch mit Rücksicht auf ihre wirtschaftlichen Verhältnisse nicht als unbillige Härte, den Wert der teils mit dem Familienheim bebauten Grundstücke zu berücksichtigen, auch wenn der Beschwerdeführer nicht mehr Eigentümer derselben ist. Den Beschwerdeführenden steht insoweit jeweils ein lebenslanges Nutzungsrecht zu, dem sie selbst einen aus der Immobilie ableitbaren Wert beimessen. Außerdem beruhte die unentgeltliche Übertragung auf ihrem freien Entschluss.

Soweit das Finanzgericht jedoch eine Sicherheit in Höhe von 450.000 € als angemessen erachtet hat und dabei von einem Verkehrswert der schenkweise übertragenen, teils mit dem Familienheim bebauten Grundstücke in Höhe von 800.000 € ausgegangen ist, kann dies nicht nachvollzogen werden. Einer Gesamtschau von Tatbestand und den Entscheidungsgründen des angegriffenen Beschlusses lässt sich lediglich entnehmen, dass sich dieser veranschlagte Verkehrswert aus einem, ausgehend von Grundstücksflächen und Bodenrichtwert ermittelten Bodenwert und im Übrigen aus einem geschätzten Gebäudewert zusammensetzt.

Eine Schätzung setzt jedoch die konkrete Feststellung der Schätzungsgrundlagen voraus; bloße Mutmaßungen genügen nicht10. Die Darlegung der Schätzungsgrundlagen in der gerichtlichen Entscheidung kann auch im steuerlichen Kontext allgemein wie im Rahmen der Festsetzung der Sicherheitsleistung im AdV-Verfahren gefordert werden, wenn die Schätzung nicht bereits aus sich heraus verständlich erscheint. Letzteres ist vorliegend nicht der Fall, da der Differenzbetrag zwischen dem angenommenen Verkehrswert in Höhe von 800.000 €  einerseits und dem Produkt aus Bodenrichtwert (190 €/m²) und Grundstücksfläche (2.451 m²) andererseits nicht selbsterklärend erscheint. Der Beschluss des Finanzgerichts lässt diesbezüglich die vor diesem Hintergrund erforderliche Mitteilung der Schätzungsgrundlagen vermissen und die Grundlagen für die Schätzung gerade im Hinblick auf den für das Gebäude veranschlagten Wert nicht in einer Weise erkennen, dass die Schätzung nachvollziehbar und überprüfbar wäre. Die weitere Erwägung des Gerichts, für die Höhe der Sicherheitsleistung von 450.000 € die Differenz zwischen dem geschätzten Verkehrswert (800.000 €) und dem geschätzten Überlassungswert laut der notariellen Urkunde (350.000 €) anzusetzen, erschließt sich nicht.

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Auch soweit das Finanzgericht die Sicherheit um 50.000 € wegen der entgeltlichen Grundstücksübertragung im Jahr 2018 erhöht hat, verletzt dies die Beschwerdeführenden in ihrem Recht aus Art.19 Abs. 4 GG. Insoweit hat das Finanzgericht ausgehend von einem Kaufpreis von 260.000 € und einer auf dem Grundstück lastenden Grundschuld von 150.000 € auf einen Erlös in Höhe von jedenfalls 110.000 € geschlossen, der den Beschwerdeführenden zur Verfügung stehen müsste und als Sicherheit verwendet werden könnte.

Art. 19 Abs. 4 GG verpflichtet die Finanzgerichte aber auch im AdV-Verfahren, ungeachtet seines Charakters als summarisches Verfahren, der Frage der wirtschaftlichen Zumutbarkeit einer Sicherheitsleistung für den Steuerpflichtigen jedenfalls durch substantiierte Auseinandersetzung mit den vorliegenden Erkenntnissen im Einzelnen nachzugehen11.

Dem ist das Finanzgericht nicht hinlänglich nachgekommen. Zwar erscheint der Vortrag der Beschwerdeführenden über den Verbleib des Verkaufserlöses teilweise widersprüchlich. Sie haben dem Gericht jedoch jeweils ein Vermögensverzeichnis vorgelegt, das unter Mitwirkung eines Steuerberaters erstellt wurde und das Auskunft über vorhandene Vermögenswerte geben soll. Dieses Vermögensverzeichnis hat das Finanzgericht zwar in seinem Tatbestand erwähnt, im Zuge seiner Entscheidung aber ohne Darlegung etwaiger begründeter Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit desselben unberücksichtigt gelassen und seine eigene Berechnung über den aus dem Verkauf der Immobilie im Jahr 2018 erzielten Erlös nicht anhand des Vermögensverzeichnisses auf Plausibilität hin überprüft.

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Der Beschluss des Finanzgerichts vom 17.03.2021 beruht auf diesen Verstößen gegen Art.19 Abs. 4 GG, da nicht auszuschließen ist, dass die Entscheidung bei ordnungsgemäßer Schätzung und Berücksichtigung sämtlicher vorhandener Erkenntnisse zur Vermögenslage der Beschwerdeführenden anders ausgefallen und keine oder eine geringere Sicherheitsleistung festgesetzt worden wäre.

Gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG war daher der angegriffene Beschluss vom 17.03.2021 aufzuheben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung an das Finanzgericht zurückzuverweisen. Die Aufhebung konnte nicht auf die Anordnung der Sicherheitsleistung beschränkt werden, denn diese ist ein nicht selbständig anfechtbarer Teil der Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung und wird im Rahmen einer einheitlichen Ermessensentscheidung getroffen12.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20. Februar 2023 – 1 BvR 795/21

  1. vgl. BVerfGE 49, 329 <341>[]
  2. vgl. BVerfGE 96, 27 <39> zur Berufungszulassung; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Bundesfinanzhofs vom 22.09.2009 – 1 BvR 1305/09, Rn. 14[]
  3. vgl. BVerfGE 93, 1 <13> m.w.N.; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Bundesfinanzhofs vom 04.07.2001 – 1 BvR 165/01, Rn. 5 ff.; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Bundesfinanzhofs vom 27.04.2005 – 1 BvR 223/05, Rn. 29[]
  4. vgl. BVerfGE 49, 220 <226> BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Bundesfinanzhofs vom 22.09.2009 – 1 BvR 1305/09, Rn. 15[]
  5. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Bundesfinanzhofs vom 22.09.2009 – 1 BvR 1305/09, Rn. 16[]
  6. vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Bundesfinanzhofs vom 22.09.2009 – 1 BvR 1305/09, Rn. 17 m.w.N.[]
  7. vgl. BVerfG, Beschluss des Dreierausschusses des Ersten Bundesfinanzhofs vom 24.10.1975 – 1 BvR 266/75, Rn. 3[]
  8. vgl. BFH, Beschluss vom 06.02.2013 – XI B 125/12, BStBl II, S. 983[]
  9. FG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17.03.2021 – 6 – V 1857/20[]
  10. vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Bundesfinanzhofs vom 01.06.2015 – 2 BvR 67/15, Rn. 22[]
  11. vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Bundesfinanzhofs vom 22.09.2009 – 1 BvR 1305/09, Rn.20[]
  12. vgl. dazu Stapperfend, in: Gräber, FGO, 9. Aufl.2019, § 69 Rn. 235 m.w.N.[]
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