Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach der Lage des einzelnen Falls -aus persönlichen oder sachlichen Gründen- unbillig wäre. Zu diesen Ansprüchen gehören auch Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen einschließlich der nach § 240 Abs. 1 AO entstehenden Säumniszuschläge.

Gegenstand des Billigkeitsverfahrens auf Erlass von Säumnniszuschlägen ist nicht die Frage, ob den verschiedenen Anträgen auf Stundung oder AdV hätte entsprochen werden müssen, was zur Folge gehabt hätte, dass Säumniszuschläge in geringerer Höhe oder gar nicht entstanden wären. Diese Frage hätte nur durch Rechtsbehelfseinlegung in jenen Verfahren überprüft werden können1.
Darüber hinaus kann allein das Ausbleiben von Vollstreckungsmaßnahmen des Finanzamt und das Schweigen auf einen Antrag auf AdV vom Schuldner nicht dahin verstanden werden, dass das Finanzamt die AdV des betreffenden Verwaltungsakts gewährt hat2.
Sachlich unbillig ist die Festsetzung bzw. Einziehung einer Steuer oder Nebenleistung, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspricht, aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Fall derart zuwiderläuft, dass die Erhebung der Steuer unbillig erscheint. So verhält es sich, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage -wenn er sie als regelungsbedürftig erkannt hätte- i.S. der begehrten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte3. Bei der Billigkeitsprüfung müssen solche Umstände außer Betracht bleiben, die der gesetzliche Tatbestand typischerweise mit sich bringt4. Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt in der Regel keine Billigkeitsmaßnahme5; insbesondere kann § 227 AO nicht als Rechtsgrundlage für eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Befreiungsvorschrift dienen6. Die Billigkeitsprüfung darf sich je nach Fallgestaltung nicht nur auf allgemeine Rechtsgrundsätze und verfassungsmäßige Wertungen beschränken; sie verlangt vielmehr eine Gesamtbeurteilung aller Normen, die für die Verwirklichung des in Frage stehenden Steueranspruchs im konkreten Fall maßgeblich sind7.
Gemäß § 240 Abs. 1 Satz 1 AO sind Säumniszuschläge zu entrichten, falls eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages gezahlt wird. Nach § 240 Abs. 1 Satz 4 AO bleiben die verwirkten Säumniszuschläge unberührt, wenn die Festsetzung einer Steuer aufgehoben oder geändert wird. Diese Regelung gilt uneingeschränkt auch für die Beseitigung rechtswidriger Steuerfestsetzungen, da die Vollstreckbarkeit eines Steuerbescheids nicht von seiner Bestandskraft abhängt. Säumniszuschläge sind allerdings nicht verwirkt, soweit die Vollziehung des Steuerbescheids ausgesetzt ist.
Deshalb ist in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs anerkannt, dass Säumniszuschläge wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen sind, wenn die Steuerfestsetzung später aufgehoben worden ist und der Steuerpflichtige alles getan hat, um die AdV eines Steuerbescheids zu erreichen, das Finanzamt aber die Aussetzung „obwohl möglich und geboten“ abgelehnt hat. Ein Erlass kommt hingegen nicht in Betracht, wenn der Steuerpflichtige sich nicht um die AdV bemüht hat oder wenn die Vollziehung nicht ausgesetzt worden ist, weil -z.B. in Schätzungsfällen- keine ernstlichen Zweifel bestanden und der Steuerbescheid erst aufgrund nachgereichter Steuererklärungen aufgehoben worden ist8.
Im hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Streitfall haben die Steuerpflichtigen nicht alles getan, um die AdV zu erreichen. Die Einsprüche gegen die Änderungsbescheide wurden zunächst nicht „ernsthaft“ begründet, ebenso nicht die Anträge auf AdV bzw. Stundung. Die Ablehnung der gestellten Aussetzungsanträge war daher rechtmäßig. Eine nachvollziehbare Begründung ihres Einspruchs legten sie erstmals anderthalb Jahre später vor. Aufgrund dieser Einwendungen hat das Finanzamt in den Einspruchsentscheidungen den Einsprüchen teilweise stattgegeben. Mit der erstmaligen substantiierten Einspruchsbegründung haben die Kläger aber keinen erneuten Antrag auf AdV gestellt. Erst nach Erlass der Einspruchsentscheidungen haben sie erneut AdV beantragt, dem rückwirkend ab Antragstellung in dem sich anschließenden gerichtlichen Verfahren aufgrund eines neuen Vorbringens teilweise entsprochen wurde.
Sachliche Unbilligkeit i.S. des § 227 AO lässt sich auch nicht aus dem Umstand herleiten, dass das Finanzamt zunächst auf Wunsch der Steuerpflichtigen auf die vorübergehende Einziehung der gepfändeten Forderungen verzichtet und insoweit einen Vollstreckungsaufschub nach § 258 AO gewährt hat. Denn Maßnahmen des Vollstreckungsaufschubs, mit denen die Vollstreckungsbehörde lediglich auf einzelne Vollstreckungsmaßnahmen verzichtet, lassen die Steuerforderungen und damit auch deren Fälligkeit unberührt. Der Vollstreckungsaufschub ist regelmäßig kein Grund für einen teilweisen Erlass wegen sachlicher oder persönlicher Unbilligkeit, da Vollstreckungsschutz bereits bei einer vorübergehenden Notlage zu gewähren ist, die nicht die Einziehung der Forderung, sondern lediglich die Art und Weise sowie den Umfang oder den Zeitpunkt ihrer Vollstreckung als unbillig erscheinen lässt9.
Soweit die Steuerpflichtigen vorbringen, sie hätten das Finanzamt gebeten, hinsichtlich eines unstreitigen Teils der Steuerforderungen die gepfändeten Geldguthaben zu verwerten, begründet auch dies keinen sachlichen Billigkeitsgrund.
Ihnen blieb es trotz des (relativen) Verfügungsverbots nach § 309 Abs. 1 Satz 1 AO unbenommen, die Drittschuldner (Banken) anzuweisen, an das Finanzamt als Vollstreckungsgläubiger zu zahlen, um damit die Säumniszuschläge möglichst gering zu halten. Denn das Verfügungsverbot bezieht sich nur auf Verfügungen, die die Rechtsstellung des Vollstreckungsgläubigers beeinträchtigen. Verfügungen, die die Rechtsstellung des Vollstreckungsgläubigers nicht beeinträchtigen, werden von dem durch die Forderungspfändung begründeten Verfügungsverbot nicht berührt10.
Das Finanzamt hat im vorliegenden Fall des Weiteren zu Recht eine (persönliche) Erlass- oder Stundungssituation (§ 222 AO), die einen Teilerlass der Säumniszuschläge hätte rechtfertigen können11, verneint. Eine Stundung wäre nur dann geboten gewesen, wenn eine Erlass- oder Stundungsbedürftigkeit gegeben gewesen wäre12. Eine solche lag aber im vorliegenden Fall nicht vor, da den Steuerpflichtigen während des Säumniszeitraums ausreichende Mittel zur Zahlung der fälligen Steuerforderungen zur Verfügung gestanden haben.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 10. März 2016 – III R 2/15
- vgl. BFH, Beschluss vom 06.07.2015 – III B 168/14, BFH/NV 2015, 1344, Rz 7 f.[↩]
- BFH, Beschluss vom 16.06.2005 – VII B 273/04, BFH/NV 2005, 1747[↩]
- BFH, Urteil vom 20.09.2012 – IV R 29/10, BFHE 238, 518, BStBl II 2013, 505, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 21.07.1993 – X R 104/91, BFH/NV 1994, 597[↩]
- BFH, Urteile vom 07.10.2010 – V R 17/09, BFH/NV 2011, 865; und vom 04.02.2010 – II R 25/08, BFHE 228, 130, BStBl II 2010, 663; jeweils m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 10.05.1972 – II 57/64, BFHE 105, 458, BStBl II 1972, 649[↩]
- BFH, Urteil vom 26.10.1994 – X R 104/92, BFHE 176, 3, BStBl II 1995, 297, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 24.04.2014 – V R 52/13, BFHE 245, 105, BStBl II 2015, 106, Rz 11, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 14.05.1987 – X R 26/81, BFH/NV 1988, 411[↩]
- Beermann in HHSp, § 309 AO Rz 117[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 16.07.1997 – XI R 32/96, BFHE 184, 193, BStBl II 1998, 7; vom 30.03.2006 – V R 2/04, BFHE 212, 23, BStBl II 2006, 612[↩]
- BFH, Urteil vom 07.05.1993 – III R 43/89, BFH/NV 1994, 144[↩]