Das Gesamtergebnis des Verfahrens – und die nachträglich beigezogenen Unterlagen

Das Gericht berücksichtigt das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht einwandfrei, wenn es seine Entscheidung auf Umstände stützt, die sich aus Unterlagen ergeben, die erstmals nach Schluss der mündlichen Verhandlung und Verkündung des Urteils beigezogen wurden.

Das Gesamtergebnis des Verfahrens – und die nachträglich beigezogenen Unterlagen

Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gesamtergebnis des Verfahrens umfasst den gesamten durch das Klagebegehren begrenzten und durch die Sachaufklärung des Gerichts und die Mitverantwortung der Beteiligten konkretisierten Prozessstoff1. Das Gesamtergebnis des Verfahrens wird insbesondere konkretisiert durch die Schriftsätze der Beteiligten, ihr Vorbringen in der mündlichen Verhandlung sowie in einem etwaigen Erörterungstermin, ihr Verhalten, die den Streitfall betreffenden Steuerakten, beigezogene Akten eines anderen Verfahrens; vom Gericht eingeholte Auskünfte, Urkunden und die aufgrund einer gegebenenfalls durchgeführten Beweisaufnahme gewonnenen Beweisergebnisse. Auch offenkundige und gerichtsbekannte Tatsachen sind zu berücksichtigen2.

Für eine einwandfreie Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens darf das Gericht weder Umstände, die zum Gegenstand des Verfahrens gehören, ohne zureichenden Grund ausblenden noch seine Überzeugung auf Umstände gründen, die nicht zum Gegenstand des Verfahrens zählen. Ebenso wenig darf das Gericht Umstände, auf deren Vorliegen es nach seiner Rechtsauffassung für die Entscheidung ankommt, ungeprüft behaupten. Es darf auch nicht von einem entscheidungserheblichen Sachverhalt ausgehen, der in den Akten keine Stütze findet oder der nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen wird3. Das Gericht darf seine Entscheidung außerdem nicht auf Umstände stützen, die sich aus Unterlagen ergeben, die erstmals nach Schluss der mündlichen Verhandlung und Verkündung des Urteils beigezogen wurden.

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Indem das Thüringer Finanzgericht im vorliegenden Fall4 seine Entscheidung maßgeblich auf die von der Klägerin nach der mündlichen Verhandlung schriftsätzlich eingereichte Baukostenaufstellung gestützt hat, hat es Umstände berücksichtigt, die nicht zum Gegenstand des Verfahrens gehörten. Diese Baukostenaufstellung war nicht Gegenstand des Verfahrens, weil das Finanzgericht sie erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung und Verkündung des Urteils am 17.03.2022 im Rahmen einer weiteren Sachaufklärung beigezogen hat. Die Aussage in der Vorentscheidung, die Baukostenaufstellung sei bereits im Verwaltungsverfahren eingereicht worden und damit als Bestandteil der beigezogenen Akten zum Gegenstand des Verfahrens geworden, kann der Bundesfinanzhof anhand der ihm vorliegenden Akten des Finanzamtes nicht nachvollziehen. Auch das Finanzamt hat in seiner Beschwerdebegründung bestritten, dass ihm die Baukostenaufstellung im Rahmen des Verwaltungsverfahrens vorgelegt worden war. Der Bundesfinanzhof hielt es daher für zweckmäßig und sachgerecht, die Vorentscheidung des Thüringer Finanzgerichts aufzuheben und die Sache gemäß § 116 Abs. 6 FGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung  an das Finanzgericht zurückzuverweisen.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 13. Oktober 2023 – VIII B 99/22

  1. BFH, Beschluss vom 04.02.2021 – VIII B 38/20, BFH/NV 2021, 641, Rz 3[]
  2. BFH, Beschlüsse vom 23.04.2020 – X B 156/19, BFH/NV 2020, 1077, Rz 10; vom 20.09.2022 – VIII B 135/21, BFH/NV 2022, 1301, Rz 4[]
  3. BFH, Beschlüsse vom 23.04.2020 – X B 156/19, BFH/NV 2020, 1077, Rz 11; vom 20.09.2022 – VIII B 135/21, BFH/NV 2022, 1301, Rz 5[]
  4. Thür. FG, Urteil vom 17.03.2022 – 4 K 559/19[]
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  • Thüringer Finanzgericht in Gotha / Sozialgericht Gotha: A. Savin,WikiCommons | FAL Free Art License 1.3