Das unionsrechtswidrige, aber rechtskräftige Urteil – und trotzdem kein Billigkeitserlass

Nach Ansicht des Bundesfinanzhofs ist es weder ermessensfehlerhaft noch verstößt es gegen europäisches Unionsrecht, wenn die Finanzverwaltung eine Steuer nicht erstattet, die auf einem zwar unionsrechtswidrigen, aber durch letztinstanzliches Urteil des Bundesfinanzhofs bestätigten Steuerbescheid beruht.

Das unionsrechtswidrige, aber rechtskräftige Urteil – und trotzdem kein Billigkeitserlass

Im hier entschiedenen Fall erkannte das Finanzamt Schulgeldzahlungen der Kläger an eine Privatschule in Großbritannien im Jahr 1992 nicht als Sonderausgaben an. Der Bundesfinanzhof wies im Jahr 1997 die Revision der Kläger gegen das klageabweisende Urteil des Finanzgerichts zurück, ohne die Streitsache dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen. Im September 2007 entschied der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, die Dienstleistungsfreiheit werde verletzt, wenn Schulgeld nur bei Zahlungen an inländische Privatschulen als Sonderausgaben abziehbar sei. Den daraufhin gestellten Antrag der Kläger auf Änderung des Steuerbescheids 1992 lehnte das Finanzamt ab. Die hiergegen erhobene Klage und die Nichtzulassungsbeschwerde blieben ohne Erfolg: Einen Billigkeitserlass der Einkommensteuer, die auf der Nichtanerkennung der Schulgeldzahlungen als Sonderausgaben beruht, hat der Bundesfinanzhof im Streitfall verneint:

Bei einem Steuererlass aus sachlichen Billigkeitsgründen seien die Wertungen des deutschen Gesetzgebers sowie Unionsrecht zu beachten. Der Bestands- und Rechtskraft komme im deutschen Verfahrensrecht ein hoher Stellenwert zu. Auch nach Auffassung des EuGH bestehe keine grundsätzliche Verpflichtung, eine unionsrechtswidrige, aber rechtskräftige Entscheidung aufzuheben, selbst wenn die Vorlagepflicht verletzt worden sei. Die Mitgliedstaaten müssen jedoch das Äquivalenzprinzip sowie den Effektivitätsgrundsatz beachten, d.h. sie haften bei Verletzungen gegen das Unionsrecht und müssen derartige Verletzungen wie Verstöße gegen nationales Recht behandeln. Bei unionsrechtswidrigen Urteilen haften sie aber nur bei einer offenkundigen Verletzung des Unionsrechts.

Eine solche hat der Bundesfinanzhof im Streitfall verneint: Er habe im Jahr 1997 weder unter offenkundiger Verkennung des europäischen Rechts den Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit für Bildungsleistungen der Privatschulen zu Unrecht verneint noch offenkundig seine Vorlagepflicht verletzt. Die Weigerung des Finanzamtes, die Steuern aus Billigkeitsgründen zu erlassen, sei daher nicht ermessensfehlerhaft.

Nach Auffassung des Bundesfinanzhofs bestand auch keine Veranlassung, im Streitfall ein Vorabentscheidungsersuchen an den Unionsgerichtshof zu richten. Die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen obliege – auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshof der EuGH – den nationalen Gerichten. Der deutsche Gesetzgeber hat mit dem Jahressteuergesetz 2009 auf die EuGH-Rechtsprechung zu Schulgeldzahlungen reagiert. Seither sind nach § 10 Abs. 1 Nr. 9 des Einkommensteuergesetzes auch Schulgeldzahlungen an Privatschulen in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraumes in einem bestimmten Umfang als Sonderausgaben abziehbar.

Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden. Die Unbilligkeit kann in der Sache liegen oder ihren Grund in der wirtschaftlichen Lage des Steuerpflichtigen haben. In der wirtschaftlichen Situation des Steuerpflichtigen liegende (persönliche) Billigkeitsgründe sind weder geltend gemacht noch erkennbar, so dass allein sachliche Unbilligkeit in Betracht kommen kann.

Sachliche Unbilligkeit liegt vor, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage -hätte er sie geregelt- im Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte oder wenn angenommen werden kann, dass die Einziehung der Steuer den Wertungen des Gesetzgebers widerspricht1. Dies wiederum kann seinen Grund entweder in Gerechtigkeitsgesichtspunkten oder in einem Widerspruch zu dem der gesetzlichen Regelung zu Grunde liegenden Zweck haben. § 227 AO ermächtigt allerdings nicht zur Korrektur des Gesetzes. Der Erlass ist daher nur zulässig, wenn die Einziehung der Steuer zwar dem Gesetz entspricht, aber infolge eines Gesetzesüberhangs den Wertungen des Gesetzgebers derart zuwiderläuft, dass sie unbillig erscheint2.

Im vorliegenden Streitfall ist zu prüfen, ob das Finanzamt sein Ermessen zu Recht dahingehend ausgeübt hat, dass es den Erlass der auf der Nichtberücksichtigung des Schulgelds als Sonderausgaben beruhenden Steuerschuld abgelehnt hat. Da die zu Grunde liegenden Steuerbescheide zwar bestandskräftig und die Gerichtsentscheidungen rechtskräftig sind, sie aber materiell-rechtlich mit dem Unionsrecht nicht übereinstimmen, sind sowohl die Wertungen des deutschen Gesetzgebers als auch die Anforderungen, die sich aus dem Unionsrecht ergeben, zu berücksichtigen.

Die Bindung an die Wertungen des deutschen Gesetzgebers bedeutet im Hinblick auf den Streitfall zweierlei:

Zunächst sind Reichweite und Grenzen der Änderungsvorschriften der §§ 172 ff. AO zu beachten. Ein Erlass darf nicht Änderungsmöglichkeiten schaffen, die diese Vorschriften nicht vorsehen und nach der gesetzgeberischen Konzeption nicht vorsehen sollten3.

Ein Steuerbescheid kann nur aufgrund der §§ 172 ff. AO, die eine abschließende Regelung enthalten, geändert werden4. Dies unterscheidet den Steuerbescheid von einem sonstigen Steuerverwaltungsakt, der -wenn er rechtswidrig ist- gemäß § 130 AO, selbst nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden kann. Diese ausdrückliche gesetzliche Differenzierung erlaubt es daher nicht, im Rahmen des Billigkeitsverfahrens die Änderungsmöglichkeit nach § 130 AO heranzuziehen oder gar -wie von den Klägern vorgeschlagen- auf die Regelungen des VwVfG zurückzugreifen.

Zum anderen und damit zusammenhängend sind die Grundsätze der Bestandskraft zu beachten. Bei Einwänden, die, wie hier, die materiell-rechtliche Richtigkeit der Steuerfestsetzung betreffen, ist ein Erlass aus Billigkeitsgründen nur möglich, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig falsch ist und dem Steuerpflichtigen nicht zuzumuten war, sich rechtzeitig gegen die Fehlerhaftigkeit zu wehren5.

Im Streitfall hat das Finanzamt unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung die Ablehnung des Erlassantrages u.a. damit begründet, im Zeitpunkt seiner letzten Entscheidung im Festsetzungsverfahren sei die Ablehnung des Abzugs der Schulgeldzahlungen nicht offensichtlich und eindeutig falsch gewesen, da sie der damaligen Rechtslage und den Grundsätzen der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung entsprochen habe.

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Diese Argumentation des Finanzamt ist überzeugend, sie entspricht den Grundsätzen der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung und wird auch insoweit von den Klägern nicht in Frage gestellt.

Ziel der Kläger im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme ist indes nicht nur die faktische Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheids. Sie wollen vielmehr auch die tatsächliche Rückgängigmachung einer ihnen gegenüber ergangenen letztinstanzlichen Entscheidung erreichen, da der Bundesfinanzhof in seinem Urteil in BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617 das klageabweisende Finanzgericht, Urteil bestätigt hat, so dass zwischen den Klägern und dem Finanzamt rechtskräftig entschieden ist, dass die Schulgeldzahlungen im Jahr 1992 nicht als Sonderausgaben abgezogen werden konnten. Entsprechendes gilt für die Schulgeldzahlungen der Jahre 1994 bis 1997, deren Nichtberücksichtigung durch den BFH, Beschluss in BFH/NV 2002, 1037 rechtskräftig wurde.

Die Frage, ob ein Erlass aus Billigkeitsgründen gemäß § 227 AO auch möglich ist, wenn ein rechtskräftiges Urteil dem inhaltlich entgegensteht, wird in der BFH-Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet.

Nach Auffassung des VIII. Bundesfinanzhofs kommt ein Erlass aus Billigkeitsgründen nicht mehr in Betracht, soweit über die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung bereits rechtskräftig entschieden worden ist. Ein Erlass gemäß § 227 Abs. 1 AO bei bestandskräftiger Steuerfestsetzung setze nicht nur voraus, dass die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig falsch sei. Es müsse vielmehr hinzukommen, dass es für den Steuerpflichtigen nicht möglich und unzumutbar gewesen sei, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren. Daraus ergebe sich im Umkehrschluss, dass in den Fällen ein Erlass aus Billigkeitsgründen nicht in Betracht komme, in denen über die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung bereits rechtskräftig entschieden worden sei. Insofern seien die Beteiligten gemäß § 110 Abs. 1 Nr. 1 FGO an die Rechtskraft des Urteils gebunden6.

Soweit erkennbar, ist diese generelle Ablehnung einer Billigkeitsmaßnahme im Falle eines rechtskräftigen Urteils in der höchstrichterlichen Rechtsprechung eher die Ausnahme. Die Frage, ob und inwieweit die Rechtskraft eines Urteils einer Billigkeitsmaßnahme entgegensteht, wurde von anderen Bundesfinanzhofen des BFH -soweit sie überhaupt als problematisch angesehen wurde- ausdrücklich offengelassen, weil die Voraussetzungen des § 227 AO in den jeweiligen Sachverhalten schon aus anderen Gründen nicht gegeben waren7.

Selbst wenn eine Billigkeitsmaßnahme, die sich über die Rechtskraft eines Urteils hinwegsetzen würde, grundsätzlich nicht ausgeschlossen sein sollte, dürfte sie nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht kommen, da bei der Prüfung der sachlichen Unbilligkeit berücksichtigt werden muss, welch hohen Stellenwert der Gesetzgeber der Rechtskraft beimisst.

Nach § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Die Vorschriften der AO über die Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten bleiben davon zwar unberührt, allerdings nur, soweit sich aus der Rechtskraftwirkung nichts anderes ergibt (§ 110 Abs. 2 FGO). Dieser Vorrang der Rechtskraft gegenüber den Änderungsvorschriften bedeutet, dass eine Änderung ausgeschlossen ist, falls sich dadurch ein Widerspruch zur rechtlichen Beurteilung des Gerichts im rechtskräftigen Urteil ergeben würde8.

Der hohe Stellenwert, den das deutsche Verfahrensrecht der Rechtskraft zubilligt, zeigt sich zudem darin, dass nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) vorbehaltlich der Vorschrift des § 95 Abs. 2 BVerfGG oder einer besonderen gesetzlichen Regelung die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt bleiben. Der Gesetzgeber hat sich in verfassungskonformer Weise zwischen den im Rechtsstaatsprinzip gegründeten gleichrangigen Verfassungsgrundsätzen der Bestandskraft von Verwaltungsakten einerseits und der Gerechtigkeit im Einzelfall andererseits zu Gunsten der Rechtssicherheit entschieden9.

Eine Billigkeitsmaßnahme kann daher nur bei einem Urteil in Betracht kommen, welches so offenbar unrichtig ist, dass dessen Fehlerhaftigkeit ohne Weiteres erkannt werden konnte.

Im Streitfall ist eine derartige offensichtliche inhaltliche Unrichtigkeit eines letztinstanzlichen Urteils nicht gegeben. Nicht nur im Zeitpunkt des BFH, Urteils in BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617, sondern bis zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Europäische Kommission Anfang Januar 2004 wurde die Begrenzung der Abziehbarkeit von Schulgeldzahlungen auf inländische Privatschulen von der Rechtsprechung -trotz einiger kritischer Stimmen im Schrifttum10- als mit dem Unionsrecht vereinbar angesehen11. Selbst in seinem Vorlagebeschluss vom 27.01.200512 hat das Finanzgericht Köln noch darauf hingewiesen, dass § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG a.F. nicht klar und eindeutig gegen Unionsrecht verstoße.

Bei einer solchen Lage kann nicht davon ausgegangen werden, dass die den Klägern gegenüber ergangenen gerichtlichen Entscheidungen, die der bis dahin bestehenden Rechtsprechung entsprachen, in einem solchen Maße fehlerhaft gewesen sein könnten, dass -sich über deren Rechtskraft hinwegsetzende- Billigkeitsmaßnahmen gerechtfertigt wären.

Die vom Finanzgericht bestätigte Auffassung des Finanzamt steht nicht im Widerspruch zu den Anforderungen, die sich aus dem Unionsrecht ergeben, das von allen Stellen der Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten einzuhalten ist13.

Zwar rügen die Kläger eine Verletzung des Unionsrechts, indem sie ausführen, der Bundesfinanzhof habe nicht nur einen unionsrechtswidrigen Steuerbescheid bestätigt, sondern darüber hinaus als letztinstanzliches Gericht seine Vorlagepflicht an den EuGH offensichtlich verletzt, so dass im Rahmen einer Billigkeitsentscheidung die Bestands- bzw. Rechtskraft kein Grund sein dürfe, den Erlass der zu Unrecht festgesetzten Steuer zu verweigern.

Indes erfordert weder das Unionsrecht eine faktische Aufhebung oder Änderung rechtskräftiger unionsrechtswidriger Urteile noch führt ein möglicher unionsrechtlicher Entschädigungsanspruch dazu, den Klägern die unionsrechtswidrig erhobenen Steuern zu erlassen.

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Dem Unionsrecht kann nicht entnommen werden, dass eine unionsrechtswidrige, aber rechtskräftig festgesetzte Steuer erstattet werden müsste.

Der EuGH hat ausdrücklich die Verpflichtung verneint, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu überprüfen und aufzuheben, falls sich herausstellt, dass sie gegen Gemeinschaftsrecht verstößt. Dabei hat der EuGH die Bedeutung betont, die dem Grundsatz der Rechtskraft sowohl in der Gemeinschaftsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen zukommt. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollten nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können. Damit gebiete das Gemeinschaftsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund derer eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch ein Verstoß dieser Entscheidung gegen Gemeinschaftsrecht abgestellt werden könnte14.

Da auf dem Gebiet des Verfahrensrechts gemeinschaftsrechtliche Vorschriften fehlen, ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, Umfang und Grenzen des Grundsatzes der Rechtskraft festzulegen15.

Dabei haben die Mitgliedstaaten in ihren Verfahrensvorschriften den Effektivitätsgrundsatz sowie das Äquivalenzprinzip zu beachten16. Beide Prinzipien leiten sich aus Art. 4 Abs. 3 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) ab, aufgrund dessen die Union und die Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit und gegenseitigen Unterstützung aufgerufen sind. Die Mitgliedstaaten haben danach alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen zu ergreifen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben.

Der Effektivitätsgrundsatz garantiert eine gerichtliche Rechtsschutzmöglichkeit in angemessener Frist. Er betrifft vor allem das Verfahren, weniger die Frage, ob es in der Sache schwierig ist, eine günstige Rechtsentwicklung vorherzusehen und durchzusetzen.

Der EuGH hat die deutschen Einspruchs- und Klagefristen und damit die nationalen verfahrensrechtlichen Regelungen zur Durchsetzung des Unionsrechts nicht beanstandet17. Zwar können die Verfahrensvorschriften im Ergebnis dazu führen, dass Entscheidungen, die materiell dem Unionsrecht nicht entsprechen, bestands- und rechtskräftig werden. Dies ändert aber nichts daran, dass es dem Betroffenen weder unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird, die ihm durch das Unionsrecht vermittelten Rechte geltend zu machen18.

Eine andere Ausprägung des Effektivitätsgrundsatzes ist die mitgliedstaatliche Haftung für Verstöße gegen Unionsrecht, wenn auf andere Weise die Durchsetzung des Unionsrechts nicht gesichert werden kann19. Auch diese Anforderung erfüllt das deutsche Recht, da ein unionsrechtlicher Entschädigungsanspruch vor den ordentlichen Gerichten geltend gemacht werden kann.

Das Äquivalenzprinzip verlangt, bei der Anwendung sämtlicher für Rechtsbehelfe geltenden Vorschriften einschließlich der vorgesehenen Fristen nicht danach zu unterscheiden, ob ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht oder gegen nationales Recht gerügt wird. Sollte ein nach innerstaatlichem Recht rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, zurückzunehmen sein, sofern seine Aufrechterhaltung „schlechthin unerträglich“ wäre, muss eine solche Verpflichtung zur Rücknahme unter den gleichen Voraussetzungen im Fall eines Verwaltungsakts gelten, der gegen Gemeinschaftsrecht verstößt20.

Da nach deutschem Verfahrensrecht ein Verstoß gegen deutsche Rechtsgrundsätze und Normen ebenfalls nur bei eindeutigen und offensichtlichen, im Streitfall nicht vorliegenden Fehlern eines rechtskräftigen, den Steuerbescheid bestätigenden Urteils zu einem Billigkeitserlass führen könnte, erfüllt das nationale Verfahrensrecht auch insoweit die unionsrechtlichen Anforderungen.

Die auf europäischer Ebene anerkannte und mit besonderem Gewicht versehene Rechtskraft kann infolgedessen dazu führen, dass der Einwand der Unionsrechtswidrigkeit nach dem Eintritt der Rechtskraft nicht mehr möglich ist und damit ein unionsrechtswidriges Urteil zu Gunsten der Rechtssicherheit akzeptiert werden muss21. Insofern verstößt die Ablehnung des Erlassantrages nicht per se gegen Unionsrecht.

Eine Durchbrechung der Rechtskraft von rechtskräftigen Urteilen ist nach der Rechtsprechung des EuGH wegen des in Art. 4 EUV verankerten Grundsatzes der Zusammenarbeit indes in den Fällen geboten, in denen

  • die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese Entscheidung zurückzunehmen,
  • die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist,
  • das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des EuGH zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der EuGH um Vorabentscheidung ersucht worden ist, obwohl der Tatbestand des Art. 267 Abs. 3 AEUV erfüllt gewesen ist, und
  • der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichtshofs erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt hat.

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, muss -so der EuGH- eine Verwaltungsbehörde auf einen entsprechenden Antrag hin eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung überprüfen, um einer mittlerweile vom EuGH vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmung Rechnung zu tragen22.

Im Streitfall ist zwischen den Beteiligten bereits rechtskräftig festgestellt worden, dass eine Änderung der Steuerfestsetzung nicht möglich ist, da das deutsche Verfahrensrecht eine über die §§ 172 ff. AO hinausgehende Änderungsmöglichkeit für Steuerbescheide nicht kennt23.

Das Billigkeitsverfahren gemäß § 227 AO stellt keine Änderungsmöglichkeit im Sinne der EuGH-Rechtsprechung dar.

Der Erlass aus Billigkeitsgründen ist gegenüber der Steuerfestsetzung ein selbstständiges Verfahren24, das von der Rechtsanwendung zu trennen ist. Sein Zweck ist es, durch Nichtberücksichtigung einer Norm Gerechtigkeit in einem Einzelfall zu schaffen, in welchem die konkrete Steuerbelastung, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Besteuerung, nicht mehr zu rechtfertigen ist. § 227 AO ist ebenso wie § 163 AO die Rechtsgrundlage für die Abweichung von einem allgemeinen Gesetzesbefehl. Eine solche ausdrückliche Grundlage wird durch den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gefordert25. Da die Wertungen des Gesetzgebers bereits bei der Auslegung des gesetzlichen Steuertatbestands und bei der Frage der Tatbestandsmäßigkeit der Steuerfestsetzung zu berücksichtigen sind, kommen als sachliche Billigkeitsgründe nur solche Umstände in Betracht, die bei der Steuerfestsetzung durch Auslegung des Steuertatbestandes nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers nicht berücksichtigt werden26.

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Das Korrektursystem der §§ 172 ff. AO regelt die Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche abschließend. Es ist ein sorgfältig austariertes System, das dem Grundsatz der Rechtssicherheit auf dem Gebiet des Steuerrechts, in dem Massenverfahren zu bewältigen sind, einen hohen Stellenwert einräumt. Weiter gehende Korrekturmöglichkeiten für Steuerbescheide muss das nationale Verfahrensrecht wegen des Grundsatzes der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten auch nach den Vorgaben des Unionsrechts nicht vorsehen27.

Auch aus der EuGH-Rechtsprechung Kühne & Heitz28 ergibt sich kein Anspruch auf Erlass der auf der Nichtberücksichtigung des Schulgelds beruhenden Steuern aus Billigkeitsgründen gemäß § 227 AO. Diese Vorschrift räumt der Behörde -im Gegensatz zu § 48 VwVfG- ein Ermessen, Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis zu erlassen, nur beim Vorliegen weiterer gesetzlicher Voraussetzungen ein, nämlich nur wenn auf der Tatbestandsseite eine Unbilligkeit im Einzelfall gegeben ist. Diese Voraussetzung ist im Streitfall indes, wie bereits oben dargestellt, nicht erfüllt.

Mit dieser Auslegung des § 227 AO stimmt der Bundesfinanzhof mit der bisherigen Finanzrechtsprechung überein. Sowohl andere Bundesfinanzhofe des BFH als auch verschiedene Finanzgericht haben in § 227 AO keine Änderungsvorschrift im Sinne der oben aufgeführten EuGH-Rechtsprechung gesehen und dementsprechend den Erlass einer Steuerforderung abgelehnt, weil das innerstaatliche Recht keine Vorschrift zur Korrektur bestandskräftig gewordener Steuerbescheide wegen späterer Änderungen der Rechtsprechung kenne29.

Es besteht kein von einer nationalen Änderungsnorm losgelöster, genereller unionsrechtlicher Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens bzw. Änderung des Steuerbescheids nach Feststellung eines Verstoßes gegen das Unionsrecht. Dadurch würde die auch vom EuGH anerkannte Bestands- und Rechtskraft in Frage gestellt werden30.

Um einer Verletzung der Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV Rechnung zu tragen, ist es unionsrechtlich nicht geboten, den darauf beruhenden unionsrechtswidrigen Steuerbescheid bzw. seine Wirkungen aufzuheben31. Es reicht vielmehr aus, wenn der Betroffene einen unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch geltend machen kann, auch wenn auf diese Weise einfache Verstöße gegen die Vorlagepflicht unkorrigiert bleiben32.

Die Ablehnung des Erlassantrages ist auch nicht im Hinblick auf einen möglichen Entschädigungsanspruch wegen eines qualifizierten Verstoßes gegen das Unionsrecht ermessenswidrig.

In mehreren Urteilen prüft der V. Bundesfinanzhof im Rahmen eines Steuererlasses gemäß § 227 AO, inwieweit ein unionsrechtlicher Entschädigungsanspruch gegeben sein könnte33. Er geht dabei offensichtlich davon aus, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Entschädigungsanspruches eine sachliche Unbilligkeit der Steuererhebung anzunehmen sei. Soweit ersichtlich, hat diese Prüfung bislang jedoch noch in keinem Fall dazu geführt, einen Steuererlass aus Billigkeitsgründen auszusprechen.

Es kann dahingestellt bleiben, ob das Bestehen eines unionsrechtlichen Erstattungsanspruchs einen Billigkeitserlass gemäß § 227 AO rechtfertigen könnte, da im Streitfall die Voraussetzungen eines solchen Erstattungsanspruchs nicht erfüllt sind.

Nach der Rechtsprechung des EuGH34 muss ein Mitgliedstaat Schäden ersetzen, die einem Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die verletzte Rechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß ist hinreichend qualifiziert, und zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang.

Das gilt auch für die Haftung des Staates für Schäden, die durch eine unionsrechtswidrige Entscheidung eines nationalen letztinstanzlichen Gerichts verursacht wurden. Was des Näheren die zweite dieser Voraussetzungen und ihre Anwendung bei der Prüfung einer Haftung des Staates für eine Entscheidung eines nationalen letztinstanzlichen Gerichts angeht, so sind -nach Auffassung des EuGH- die Besonderheiten der richterlichen Funktion sowie die berechtigten Belange der Rechtssicherheit zu berücksichtigen. Der Staat haftet für eine unionsrechtswidrige Entscheidung nur in dem Ausnahmefall, in dem das Gericht offenkundig gegen das geltende Recht verstoßen hat. Bei der Entscheidung darüber, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, muss das mit einer Schadensersatzklage befasste nationale Gericht alle Gesichtspunkte des Einzelfalls berücksichtigen. Zu diesen Gesichtspunkten gehören u.a. das Maß an Klarheit und Präzision der verletzten Vorschrift, die Vorsätzlichkeit des Verstoßes, die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums, ggf. die Stellungnahme eines Gemeinschaftsorgans sowie die Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV durch das in Rede stehende Gericht. Ein Verstoß gegen das Unionsrecht ist jedenfalls dann hinreichend qualifiziert, wenn die fragliche Entscheidung die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs offenkundig verkennt35.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der Bundesfinanzhof in seinem Urteil in BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617 die einschlägige Rechtsprechung des EuGH nicht offenkundig verkannt.

Vergleicht man die Gründe, die den Bundesfinanzhof im Jahr 1997 dazu bewogen haben, in der Versagung des Sonderausgabenabzugs für an eine britische Privatschule gezahltes Schulgeld keine unionswidrige Diskriminierung zu sehen, mit den Urteilsgründen des EuGH in der Rechtssache Schwarz/Gootjes-Schwarz in Slg. 2007, I-6849, wird erkennbar, dass der Anwendungsbereich sowohl der Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 56 AEUV als auch der allgemeinen Freizügigkeit gemäß Art. 21 AEUV im Hinblick auf die fehlende Berücksichtigung des Schulgelds für Privatschulen anderer Mitgliedstaaten unterschiedlich beurteilt wurde. Hierin liegt indes kein offenkundiges Verkennen der EuGH-Rechtsprechung.

§ 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG a.F. führte nach Auffassung des Bundesfinanzhofs deshalb zu keiner unzulässigen Diskriminierung, weil er meinte, Schulgelder für die Teilnahme am Unterricht eines nationalen staatlichen Bildungssystems stellten aufgrund der ständigen Rechtsprechung des EuGH kein Entgelt i.S. des Art. 57 AEUV dar. Der Bundesfinanzhof führte dazu aus, obwohl die bisherigen EuGH, Entscheidungen nur zu staatlichen Schulen ergangen seien, beanspruchten diese Grundsätze auch für den Unterricht einer (privaten) Schule Geltung, die im Wesentlichen aus öffentlichen Mitteln finanziert werde. Werde hingegen eine Schule im Wesentlichen aus privaten Mitteln finanziert, sei ihr Unterrichtsangebot als Dienstleistung i.S. des Art. 56 AEUV anzusehen. Insoweit stimmen der EuGH und der Bundesfinanzhof überein.

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Im Unterschied zu dem zehn Jahre später ergangenen EuGH, Urteil Schwarz/Gootjes-Schwarz in Slg. 2007, I-6849 folgerte der Bundesfinanzhof jedoch aus den bis dahin bekannten Vorgaben des EuGH, auch die inländischen privaten Ersatz- und Ergänzungsschulen seien aufgrund ihrer Einbindung in das nationale Bildungssystem mit ihrer Unterrichtstätigkeit in der Regel nicht erwerbswirtschaftlich tätig, zumal sie überwiegend aus dem Staatshaushalt finanziert würden. Demgegenüber spielt es nach Auffassung des EuGH in der Rechtssache Schwarz/Gootjes-Schwarz in Slg. 2007, I-6849 für die Frage der Anwendbarkeit von Art. 56 AEUV keine Rolle, ob die Schulen im Mitgliedstaat des Leistungsempfängers eine Dienstleistung i.S. des Art. 57 AEUV erbringen. Es komme vielmehr allein darauf an, dass die in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Privatschule als Erbringerin entgeltlicher Leistungen angesehen werden könne36.

Diese unterschiedliche Sichtweise beruht auf einem Perspektivenwechsel in der Rechtsprechung des EuGH durch sein „Watts“-Urteil37, der für den Bundesfinanzhof im Jahr 1997 weder erkennbar noch antizipierbar war38. Ein offenkundiges Verkennen der EuGH-Rechtsprechung kann daher insoweit nicht angenommen werden.

Für die Frage des Anwendungsbereichs der Dienstleistungsfreiheit sah es der Bundesfinanzhof zudem als unerheblich an, dass einige inländische Privatschulen nur geringere Zuschüsse erhalten und daher ein höheres Schulgeld erhoben hatten, da derartige Sonderfälle an der grundsätzlichen Beurteilung nichts änderten. Hierzu berief sich der Bundesfinanzhof u.a. auf den Schlussantrag des Generalanwalts Slynn vom 15.03.1988 in der Rechtssache 263/86 -Humbel und Edel-39. In diesem Verfahren hat der EuGH entschieden, ein Unterricht an einer Fachschule, der innerhalb des nationalen Bildungswesens zum Sekundarunterricht gehörte, sei nicht als Dienstleistung i.S. des Art. 56 AEUV zu qualifizieren40.

Die Auffassung des Bundesfinanzhofs ist zwar im Ergebnis vom EuGH im Jahr 2007 nicht geteilt worden. Liest man aber die vom Bundesfinanzhof in Bezug genommene Passage des Generalanwalts Slynn in dem Verfahren Humbel und Edel, konnte sich daraus durchaus der Eindruck ergeben, dass sich an der Beurteilung von Schulleistungen als Dienstleistungen der Sozialpolitik -und damit an der Einordnung als nicht entgeltliche Dienstleistungen- auch dann nichts ändere, wenn ausnahmsweise von einer Privatschule kostendeckendes Schulgeld erhoben werde. Die vom Bundesfinanzhof daraus gezogene Schlussfolgerung, damit seien auch Privatschulen gemeint, lag nicht fern und kann kein offenkundiges Verkennen der EuGH-Rechtsprechung begründen.

Aus denselben Gründen geht der Einwand fehl, im Ausgangsrechtsstreit sei vom Bundesfinanzhof verkannt worden, dass die passive Dienstleistungsfreiheit der Kläger verletzt worden sei. Der Bundesfinanzhof hat in seinem Urteil in BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617 ausdrücklich unter Bezugnahme auf die einschlägige EuGH-Rechtsprechung dargelegt, der Empfänger einer Dienstleistung dürfe -auch steuerrechtlich- nicht deshalb benachteiligt werden, weil er eine Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch nehme. Der Bundesfinanzhof hat aber -wie gerade dargestellt- seine Beurteilung, ob überhaupt der Anwendungsbereich der durch den EG geschützten Dienstleistungsfreiheit betroffen ist, auf die Verhältnisse des Ansässigkeitsstaats des Dienstleistungsempfängers gestützt und nicht auf die des Staates, in dem der Dienstleistungserbringer ansässig ist.

Der Bundesfinanzhof hat auch nicht dadurch die EuGH-Rechtsprechung offenkundig verkannt, dass er die mögliche Verletzung der allgemeinen Freizügigkeit nicht geprüft hat, obwohl er den Anwendungsbereich der spezielleren Dienstleistungsfreiheit verneint hat.

Der Vertrag über die Europäische Union vom 07.02.199241, durch den die Unionsbürgerschaft in den EG-Vertrag aufgenommen wurde, ist erst am 1.11.1993 in Kraft getreten42, war im Streitjahr 1992 also noch nicht anzuwenden. Zudem wurde in dessen Dritten Teil in Titel VIII ein Kapitel 3 eingefügt, das sich mit der allgemeinen und beruflichen Bildung befasst. Bis zu dieser Erweiterung des Geltungsbereichs des Vertrages fielen nur Regelungen, die den Zugang zur Berufsausbildung betrafen, in dessen Anwendungsbereich, nicht jedoch Regelungen in Bezug auf allgemein bildende Schulen43.

Bezüglich der Streitjahre 1994 bis 1997 hat der BFH mit seiner Entscheidung, eine Revision der Kläger nicht zuzulassen, das Unionsrecht ebenfalls nicht verkannt. In der Begründung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde hatten die Kläger nicht einmal ansatzweise eine mögliche Verletzung des damaligen Gemeinschaftsrechts als Grund für die Zulassung der Revision geltend gemacht. Vielmehr hatten sie sich ausschließlich auf die Rüge der Verletzung nationalen Verfassungsrechts beschränkt. Gegenstand der Prüfung des BFH im Rahmen des Beschwerdeverfahrens gemäß §§ 115, 116 FGO sind jedoch grundsätzlich nur die ausdrücklich und ordnungsgemäß gerügten Zulassungsgründe44.

Eine offenkundige Verkennung der EuGH-Rechtsprechung kann sich auch nicht daraus ergeben, dass der BFH seine Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV offenkundig verletzt hätte.

Wie sich im Bereich der Staatshaftung wegen Verletzung von Unionsrecht durch die Judikative die Verletzung des materiellen Rechts und die Verletzung der Vorlagepflicht zueinander verhalten, ist zwar bislang nicht vollkommen geklärt, bedarf im Streitfall aber keiner weiteren Klärung. Es ist zunächst davon auszugehen, dass im Ausgangspunkt der Primärverstoß gegen die im jeweiligen Ausgangsstreit umstrittene unionsrechtliche Regelung entscheidend ist45. Welche Auswirkungen dann ein Verstoß gegen die Vorlagepflicht haben könnte, ist bislang vom EuGH insoweit entschieden worden, dass die Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs dann nicht vorliegen, wenn weder bei der Auslegung des Primärrechts noch bei der Vorlagepflicht offenkundig die EuGH-Rechtsprechung missachtet wurde46.

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Ein solcher Fall ist vorliegend gegeben. Ein offenkundiger Verstoß gegen Art. 56 und Art 21 AEUV ist -wie gerade dargestellt- nicht erkennbar. Ebenso wenig hat der Bundesfinanzhof seine Vorlagepflicht offenkundig verletzt. Er hat seine Entscheidung, das Verfahren in BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617 nicht dem EuGH vorzulegen, darauf gestützt, dass eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH auch dann vorliege, wenn die streitigen Fragen nicht vollkommen mit den vom EuGH bereits entschiedenen Fragen identisch seien und insoweit das EuGH, Urteil C.I.L.F.I.T. in Slg. 1982, I-3415 angewendet. Der Bundesfinanzhof hat die Voraussetzungen dieses EuGH, Urteils bejaht, weil er die EuGH-Rechtsprechung, nach der Schulgelder für die Teilnahme am Unterricht staatlicher Bildungssysteme kein Entgelt für eine Dienstleistung sind und dies auch für den Unterricht einer im Wesentlichen aus öffentlichen Mitteln finanzierten Schule gilt, dahingehend ausgelegt hat, dass damit auch die Frage beantwortet werden könne, unter welchen Umständen der Unterricht an einer privaten Schule als Dienstleistung anzusehen sei. Dass der EuGH zehn Jahre später eine andere Auffassung vertreten hat, bedeutet nicht, dass der Bundesfinanzhof die im Zeitpunkt seiner Entscheidung bekannte EuGH-Rechtsprechung zur Vorlagepflicht offenkundig verkannt hat.

Da der Billigkeitserlass eine Ermessensentscheidung der Behörde ist47, unterliegt er gemäß § 102 FGO lediglich einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Zu prüfen ist daher bei einer Erlassablehnung nur, ob die Finanzbehörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Begründung unter 2. und 3. ist ein Ermessensfehler des Finanzamt nicht erkennbar.

Der Bundesfinanzhof ist nicht verpflichtet, eine Vorabentscheidung des EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV herbeizuführen.

Die entscheidungsrelevante Rechtsfrage des Streitfalls ist, ob das Finanzamt bei der Ablehnung des Billigkeitsantrages sein Ermessen gemäß § 227 AO ordnungsgemäß ausgeübt hat, d.h. ob es bei seiner Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von seinem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.

Die Überprüfung dieser behördlichen Ermessensentscheidung, in der die rechtskräftige Versagung des Sonderausgabenabzugs nicht als so offenkundig unionsrechtswidrig und der EuGH-Rechtsprechung widersprechend angesehen wird, dass sie unbillig wäre, obliegt dem nationalen Gericht. Es ist -auch nach der EuGH-Rechtsprechung48- seine Aufgabe zu beurteilen, ob eine mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbare Entscheidung offensichtlich rechtswidrig im Sinne des betreffenden nationalen Rechts ist.

Die von den Klägern formulierten Vorlagefragen sind entweder nicht entscheidungserheblich oder sie können durch die Rechtsprechung des EuGH beantwortet werden.

Der ersten, zweiten sowie fünften Vorlagefrage fehlt die Entscheidungserheblichkeit.

§ 227 AO beschränkt sich -anders als § 48 VwVfG- nicht darauf, der Behörde ein Ermessen einzuräumen, sondern enthält zusätzlich als gesetzliche Voraussetzung die Unbilligkeit der Einziehung der Steuer. Damit stellt sich die erste Vorlagefrage im Streitfall gar nicht.

Da bereits die erste Voraussetzung der Kühne & Heitz-Rechtsprechung vorliegend nicht erfüllt wurde, bedarf es auch keiner Erläuterungen, wie deren dritte Voraussetzung zu verstehen wäre.

Die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung, nach der die gegen das Unionsrecht verstoßende Steuerfestsetzung ohne behördliche Überprüfung endgültig und nicht abänderbar ist, mit dem Effektivitätsprinzip hat der EuGH bereits bejaht, so dass auch die vierte Frage nicht zur Vorlage führen kann. In der Rechtssache Kapferer in Slg. 2006, I-2585 hatte das vorlegende Gericht ausdrücklich gefragt, ob der in Art. 10 EG (jetzt Art. 4 Abs. 3 EUV) verankerte Grundsatz der Zusammenarbeit, der das Effektivitätsprinzip umfasst, dahingehend auszulegen sei, dass auch ein nationales Gericht nach den in der Rechtssache Kühne & Heitz dargelegten Voraussetzungen verpflichtet sei, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu überprüfen und aufzuheben, wenn diese gegen das Unionsrecht verstoße. Die Antwort des EuGH lautete, das Unionsrecht gebiete es einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Vorschriften, aufgrund deren eine Entscheidung Rechtskraft erlange, abzusehen, selbst wenn dadurch ein Verstoß gegen das Unionsrecht abgestellt werden könne. Die Mitgliedstaaten hätten jedoch dafür zu sorgen, dass die Grundsätze der Gleichwertigkeit und der Effektivität gewährleistet blieben. Dieser Beurteilung stehe auch das Urteil Kühne & Heitz nicht entgegen49.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 21. Januar 15 – X R 40/12

  1. ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. jüngst BFH, Urteil vom 19.10.2010 – X R 9/09, BFH/NV 2011, 561, unter II. 1.a, m.w.N.[]
  2. BFH, Urteil in BFH/NV 2011, 561, unter II. 1.a, m.w.N.[]
  3. so auch BFH, Urteil in BFH/NV 2011, 561, unter II. 1.b[]
  4. vgl. BFH, Beschluss in BFH/NV 2010, 1783[]
  5. ständige BFH-Rechtsprechung, vgl. Urteile vom 30.04.1981 – VI R 169/78, BFHE 133, 255, BStBl II 1981, 611; vom 11.08.1987 – VII R 121/84, BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512; BFH, Urteil vom 21.07.1993 – X R 104/91, BFH/NV 1994, 597; Urteil vom 14.11.2007 – II R 3/06, BFH/NV 2008, 574, und BFH, Urteil in BFH/NV 2011, 561; s. auch Stöcker in Beermann/Gosch, AO § 227 Rz 22[]
  6. s. BFH, Beschluss vom 11.05.2011 – VIII B 156/10, BFH/NV 2011, 1537[]
  7. vgl. z.B. BFH, Urteile vom 22.09.1976 – I R 68/74, BFHE 120, 200, BStBl II 1977, 15; und vom 31.10.1990 – I R 3/86, BFHE 163, 478, BStBl II 1991, 610[]
  8. vgl. BFH, Urteil vom 26.11.1998 – IV R 66/97, BFH/NV 1999, 788, unter II. 1.b[]
  9. vgl. z.B. BVerfG, Beschluss vom 12.12 1957 – 1 BvR 678/57, BVerfGE 7, 194, 195[]
  10. vgl. z.B. Meilicke, Der Betrieb 1994, 1011; ders., DStZ 1996, 97[]
  11. so auch FG Köln, Urteil vom 28.06.2001 – 7 K 8690/99, EFG 2004, 1044; und FG Münster, Urteil vom 26.02.2003 – 1 K 1545/01 E, EFG 2003, 1084[]
  12. FG Köln, Beschluss vom 27.01.2005 – 10 K 7404/01, EFG 2005, 709, unter II. 3.c[]
  13. vgl. z.B. EuGH, Urteil vom 12.06.1990 – C-8/88 -Deutschland/Kommis- sion-, Slg. 1990, I-2321, Rz 13[]
  14. EuGH, Urteile vom 01.06.1999 – C-126/97 -Eco Swiss-, Slg. 1999, I-3055, Rz 47 f.; vom 30.09.2003 – C-224/01 -Köbler-, Slg. 2003, I-10239, Rz 38; vom 16.03.2006 – C-234/04 -Kapferer-, Slg. 2006, I-2585, Rz 20 f.; vom 03.09.2009 – C-2/08 -Fallimento Olimpiclub-, Slg. 2009, I-7501, Rz 22; und vom 06.10.2009 – C-40/08 -Asturcom Telecomunicaciones-, Slg. 2009, I-9579, Rz 35 ff.[]
  15. s. z.B. EuGH, Urteile Kempter in Slg. 2008, I-411, Rz 57; vom 04.10.2012 – C-249/11 -Byankov-, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2013, 273, Rz 69, jeweils m.w.N.[]
  16. vgl. z.B. EuGH, Urteile Kapferer in Slg. 2006, I-2585, Rz 22, und Fallimento Olimpiclub in Slg. 2009, I-7501, Rz 24[]
  17. EuGH, Urteil i-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, Rz 59 f.; ähnlich auch BFH, Urteil vom 16.09.2010 – V R 57/09, BFHE 230, 504, BStBl II 2011, 151, unter II. 5.c cc[]
  18. so auch Gundel, Festschrift für V. Götz, 2005, 191, 201[]
  19. vgl. EuGH, Urteil vom 19.11.1991 – C-6/90, – C-9/90 -Francovich-, Slg. 1991, I-5357, Rz 35; s. Gundel in Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, 2. Aufl., § 3 Rz 197[]
  20. EuGH, Urteil i-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, Rz 62 f.[]
  21. so auch Baumann, Die Rechtsprechung des EuGH zum Vorrang von Gemeinschaftsrecht vor mitgliedstaatlichen Verwaltungsakten und Gerichtsurteilen, 2010, 160 f.[]
  22. EuGH, Urteil Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837, Rz 28[]
  23. BFH, Beschluss in BFH/NV 2010, 1783, s.a. oben unter II. 2.a[]
  24. vgl. z.B. BVerfG, Beschluss vom 08.07.1987 – 1 BvR 623/86, HFR 1988, 177[]
  25. so auch von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rz 30; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 227 AO Rz 2 ff.[]
  26. BFH, Urteil vom 24.03.1981 – VIII R 117/78, BFHE 133, 60, BStBl II 1981, 505[]
  27. vgl. z.B. EuGH, Urteil i-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, Rz 57, m.w.N.; so wohl auch BFH, Urteil in BFHE 230, 504, BStBl II 2011, 151, unter II. 5.c[]
  28. EuGH, Urteil „Kühne & Heitz“ in Slg. 2004, I-837[]
  29. s. BFH, Entscheidungen in BFH/NV 2008, 1889, unter II. 3.a; in BFHE 230, 504, BStBl II 2011, 151, unter II. 5.c aa; wohl auch vom 01.04.2011 – XI B 75/10, BFH/NV 2011, 1372; und vom 14.02.2011 – XI B 32/10, BFH/NV 2011, 746; ebenso Finanzgericht Köln, Urteil vom 18.03.2009 7 K 2808/07, EFG 2009, 1168, unter 1.c; FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.06.2010 5 K 2292/06 B, EFG 2012, 206[]
  30. ebenso Gundel, Festschrift für V. Götz, 205[]
  31. so auch Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 2013, 318[]
  32. so auch im Ergebnis Gundel, Festschrift für V. Götz, 205; Krönke, a.a.O., 316; Baumann, a.a.O., 166 f.[]
  33. vgl. z.B. BFH, Urteile vom 13.01.2005 – V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460, unter II. 2.a cc; vom 21.04.2005 – V R 16/04, BFHE 210, 159, BStBl II 2006, 96, unter II. 3.; in BFH/NV 2008, 1889, unter II. 4., und in BFHE 230, 504, BStBl II 2011, 151, unter II. 6.[]
  34. s. z.B. EuGH, Urteil Köbler in Slg. 2003, I-10239, Rz 51 bis 55[]
  35. zu dem Vorstehenden s. EuGH, Urteile Köbler in Slg. 2003, I-10239, Rz 51 ff.; vom 13.06.2006 – C-173/03 -Traghetti del Mediterraneo-, Slg. 2006, I-5177, Rz 43[]
  36. EuGH, Urteil Schwarz/Gootjes-Schwarz in Slg. 2007, I-6849, Rz 44[]
  37. EuGH, Urteil vom 16.05.2006 – C-372/04 -Watts, Slg. 2006, I-4325, unter Rz 90[]
  38. zu den Bedenken gegen diese Rechtsprechung s.a. EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackl vom 21.09.2006 – C-76/05 -Schwarz/Gootjes-Schwarz-, Slg. 2007, I-6849[]
  39. EuGH, Schlussantrag des Generalanwalts Slynn vom 15.03.1988 – 263/86 -Humbel und Edel, Slg. 1988, I-5365[]
  40. EuGH, Urteil in Slg. 1988, I-5365, Rz 14 ff.[]
  41. BGBl II 1992, 1253[]
  42. BGBl II 1993, 1947[]
  43. vgl. dazu auch EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackl vom 21.09.2006 – C-76/05, Slg. 2007, I-6849, Rz 91[]
  44. s. BFH, Beschluss vom 27.11.2001 – XI B 123/01, BFH/NV 2002, 542; Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 116 FGO Rz 30; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 116 Rz 55[]
  45. vgl. Kokott/Henze/Sobotta, Juristenzeitung -JZ- 2006, 633, 637[]
  46. s. EuGH, Urteil Köbler in Slg. 2003, I-10239; ebenso Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633, 637[]
  47. GmS-OBG, Beschluss vom 19.10.1971 – GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603[]
  48. s. EuGH, Urteil i-21 und Arcor in Slg. 2006, I-8559, Rz 71[]
  49. EuGH, Urteil Kapferer in Slg. 2006, I-2585, Rz 21 und 23[]
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Feststellungen im Strafurteil - und ihre Verwertung durch das Finanzgericht