Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs in Gestalt der sogenannten Beachtungspflicht ist verletzt, wenn das Finanzgericht Äußerungen eines Verfahrensbeteiligten zu entscheidungserheblichen ‑auch rechtlichen- Fragen nicht zur Kenntnis nimmt bzw. bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung zieht.

Dies ist u.a. der Fall, wenn die Klägerin in einem neuen Klageverfahren gegen einen Änderungsbescheid, der aufgrund der Hauptsacheerledigung eines früheren Klageverfahrens ergangen ist, nachvollziehbar darlegt, dem Finanzamt sei bei der Ermittlung der Höhe des abziehbaren Teilbetrags der ‑als solche unstreitigen- Vorsorgeaufwendungen eine offenbare Unrichtigkeit i.S. des § 129 AO unterlaufen, das Finanzgericht dieses eindeutige Vorbringen im Urteil aber dahingehend (fehl)versteht, die Klägerin wolle den grundsätzlichen Inhalt der mit dem Finanzamt getroffenen Verständigung und die Wirksamkeit seiner Erledigungserklärung anzweifeln, und daher nicht prüft, ob die von der Klägerin dargelegten Voraussetzungen des § 129 AO tatsächlich erfüllt sind.
Die Klägerin rügt in diesem Fall zu Recht eine Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Das Finanzgericht hat ihr Vorbringen zu § 129 AO nicht berücksichtigt.
Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs in Gestalt der sogenannten Beachtungspflicht ist verletzt, wenn das Finanzgericht Äußerungen eines Verfahrensbeteiligten zu entscheidungserheblichen Fragen nicht zur Kenntnis nimmt bzw. bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung zieht. Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht zwar nicht, sich mit Ausführungen auseinanderzusetzen, auf die es für die Entscheidung nicht ankommt. Das Gericht ist auch nicht verpflichtet, sich mit jedem Beteiligtenvorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich auseinanderzusetzen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist jedoch verletzt, wenn das Gericht Sachverhalt und Sachvortrag, auf den es ankommen kann, nicht nur nicht ausdrücklich bescheidet, sondern überhaupt nicht berücksichtigt [1].
Die Klägerin hatte schriftsätzlich vorgetragen, das Finanzamt habe die Änderungsveranlagung entgegen der Amtspflicht zur Günstigerprüfung unrichtig i.S. des § 129 AO vorgenommen. Angesichts der offensichtlichen Fehlerhaftigkeit der im Änderungsbescheid enthaltenen Ermittlung der Höhe der abziehbaren Vorsorgeaufwendungen nach der ‑hier maßgeblichen- bis 2004 geltenden Rechtslage hätte das Finanzgericht diesem Vorbringen der Klägerin nachgehen müssen, zumal die Klägerin gegenüber dem Finanzgericht die zutreffende Ermittlung der Vorsorgeaufwendungen (abgesehen von einem geringfügigen Rechenfehler) auch betragsmäßig dargelegt hatte. Es hat in seinem Urteil in diesem Zusammenhang aber lediglich ausgeführt, der Streit der Beteiligten betreffe nicht den irrtümlich fehlerhaften Ansatz einer Besteuerungsgrundlage, sondern den grundsätzlichen Inhalt der zwischen ihnen getroffenen Vereinbarungen.
Damit verkennt das Finanzgericht den ‑unmissverständlichen- Inhalt des Vorbringens der Klägerin in einer Weise, die als Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs anzusehen ist. Gerade gegenteilig zu der Annahme des Finanzgericht hatte die Klägerin zu keinem Zeitpunkt den Inhalt der zwischen den Beteiligten getroffenen Vereinbarungen in Frage gestellt. Inhalt dieser „Vereinbarungen“ konnte bei sachgerechter Auslegung vielmehr nur sein, dass die von dem Versicherungsunternehmen bescheinigten Vorsorgeaufwendungen in dem gesetzlich zulässigen Umfang berücksichtigt werden. Die Frage, zu welchem konkreten, die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage mindernden Betrag die gesetzliche vorgegebene Berechnungsweise der Höhe des abziehbaren Betrags führen würde, war der Disposition der Beteiligten hingegen entzogen, weil sich dieser Betrag aus der Anwendung der zwingenden gesetzlichen Regelungen ergibt [2]. Die Klägerin hatte insoweit in ihrem ‑vom Finanzgericht nicht hinreichend beachteten- Schriftsatz vom 03.12.2019 zutreffend darauf hingewiesen, dass die Günstigerprüfung von Amts wegen vorzunehmen ist. Das betragsmäßige Ergebnis einer solchen Günstigerprüfung kann ‑anders als das Finanzgericht wohl meint- nicht Gegenstand einer Vereinbarung zwischen den Beteiligten sein. Streitig war damit im Finanzgericht-Verfahren allein, ob dem Finanzgericht bei der Anwendung der Günstigerprüfung Fehler unterlaufen sind, von denen jedenfalls nach dem derzeitigen Stand der Sachaufklärung nicht auszuschließen ist, dass es sich um Rechen- oder Eingabefehler i.S. des § 129 AO handeln könnte.
Der Bundesfinanzhof hielt es daher für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht Köln zurückzuverweisen. Für das weitere Verfahren weist der Bundesfinanzhof ‑ohne Bindungswirkung für das Finanzgericht- auf die folgenden Punkte hin:
Im zweiten Rechtsgang wird das Finanzgericht der von der Klägerin aufgeworfenen Frage nachgehen müssen, ob der fehlerhafte Ansatz der Vorsorgeaufwendungen im angefochtenen Änderungsbescheid vom 16.10.2018 tatsächlich auf einer offenbaren Unrichtigkeit i.S. des § 129 AO beruht. Hierzu hat es bisher keine Feststellungen getroffen.
Darüber hinaus hat das Finanzgericht im Zusammenhang mit seiner Subsumtion unter die Regelung des § 351 Abs. 1 AO offenbar übersehen, dass der angefochtene Bescheid vom 16.10.2018 verfahrensrechtlich auf § 164 Abs. 2 AO gestützt worden ist und der Vorbehalt der Nachprüfung zugleich aufgehoben wurde. § 351 Abs. 1 AO bewirkt in diesen Fällen keine Einschränkung der Änderungsbefugnis [3].
Sollte der Vorbehalt der Nachprüfung im Zeitpunkt des Erlasses des Änderungsbescheids tatsächlich noch wirksam gewesen sein, käme es auf die aufgeworfenen Fragen zu § 129 AO nicht mehr an.
Sollte es ‑entgegen den vorstehenden Hinweisen- tatsächlich keine verfahrensrechtliche Möglichkeit zur Änderung des allein gegenüber der Klägerin ergangenen Bescheids vom 16.10.2018 mehr geben, weist der Bundesfinanzhof zur Herstellung von Rechtsfrieden darauf hin, dass dann außerhalb des vorliegenden Verfahrens die Möglichkeit bestehen dürfte, das materiell-rechtlich zutreffende Ergebnis der Günstigerprüfung wenigstens in dem ggf. noch ausstehenden Änderungsbescheid gegenüber den weiteren Inhaltsadressaten des Zusammenveranlagungsbescheids ‑den Erben nach E- anzusetzen.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 13. August 2020 – X B 26/20
- zum Ganzen BFH, Beschluss vom 13.03.2015 – X B 138/14, BFH/NV 2015, 982, Rz 24, m.w.N.[↩]
- zur Unzulässigkeit einer tatsächlichen Verständigung über Rechtsfragen vgl. BFH, Urteil vom 22.08.2012 – X R 23/10, BFHE 238, 173, BStBl II 2013, 76, Rz 33[↩]
- BFH, Entscheidungen vom 11.03.1999 – V B 24/99, BFHE 188, 128, BStBl II 1999, 335, unter II. 1.a; und vom 16.01.2013 – II R 66/11, BFHE 240, 191, BStBl II 2014, 266, Rz 15[↩]
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