Der Bundesfinanzhof – und die Überraschungsentscheidung

Eine Überraschungsentscheidung liegt nicht vor, soweit ein Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde auf einen im Beschwerdeverfahren vorgebrachten rechtlichen Gesichtspunkt gestützt wurde.

Der Bundesfinanzhof – und die Überraschungsentscheidung

Gemäß § 133a Abs. 1 Satz 1 FGO ist auf die Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten das Verfahren fortzuführen, wenn ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist und das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.

Nach Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet es u.a., für die Prozessbeteiligten überraschende Entscheidungen zu unterlassen1. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn ein Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten Gesichtspunkt stützt und dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretener Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlungen nicht rechnen musste. Dies kann u.a. der Fall sein, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom Gericht erst mit der abschließenden Entscheidung in das Verfahren eingebracht wird2.

Das Gericht ist jedoch grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet; der fachkundig vertretene Beteiligte hat vielmehr von sich aus alle vertretbaren rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte in Erwägung zu ziehen3. Auf rechtliche Umstände, die ein Beteiligter selbst hätte erkennen können und müssen, muss er nicht hingewiesen werden4.

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Gemessen daran ist die Anhörungsrüge im vorliegenden Fall für den Bundesfinanzhof unbegründet:

Die fachkundig vertretene Klägerin musste mit der Prüfung der Gehörsverletzung rechnen, da das Finanzamt seine Nichtzulassungsbeschwerde auch darauf gestützt hat. Der Bundesfinanzhof hat in dem angefochtenen Beschluss ausgeführt, dass das Finanzamt mit seinem Beschwerdevorbringen eine Verletzung rechtlichen Gehörs gerügt habe (und der Vortrag zur Erfüllung der Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO ausreichend sei). Dass die Klägerin den Vortrag des Finanzamtes zum Vorliegen einer Überraschungsentscheidung zur Kenntnis genommen hat, ergibt sich im Übrigen aus ihrer Beschwerdeerwiderung vom 11.04.2022. Sie hat dort unter Rz 9 auch zur Frage des Vorliegens einer Überraschungsentscheidung vortragen. Dies zeigt, dass der Klägerin auch insoweit rechtliches Gehör gewährt worden ist.

Es begründet keine Verletzung rechtlichen Gehörs, dass der Bundesfinanzhof dem Beschwerdevorbringen der Klägerin, aus ihrer Sicht sei das Vorliegen einer Überraschungsentscheidung „fernliegend“, nicht gefolgt ist. Ein Anspruch darauf, dass das Gericht einen Verfahrensbeteiligten „erhört“, d.h. sich seinen rechtlichen Ansichten oder seiner Sachverhaltswürdigung anschließt, ergibt sich aus dem Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs nicht5. Die Klägerin musste damit rechnen, dass sich der Bundesfinanzhof auch der Gegenauffassung des Finanzamtes, es liege eine Verletzung rechtlichen Gehörs vor, anschließen könnte.

Mit der Rüge, dem Finanzgericht sei der vom Bundesfinanzhof bejahte Gehörsverstoß tatsächlich nicht unterlaufen, dringt die Anhörungsrüge wegen der Beweiskraft des Protokolls, auf die der Bundesfinanzhof im angefochtenen Beschluss in BFH/NV 2023, 269 hingewiesen hat, nicht durch.

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Soweit die Rüge geltend macht, das Urteil des Finanzgerichts könne aufgrund der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des Finanzgerichts auf dem vom Bundesfinanzhof bejahten Verfahrensfehler nicht beruhen, weist der Bundesfinanzhof nur ergänzend darauf hin, dass dies nicht zutrifft. Der Bundesfinanzhof hat in seinem zurückverweisenden Beschluss in BFH/NV 2023, 269 ausführlich dargelegt, dass auf Basis der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des Finanzgerichts und der des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH), an die das Finanzgericht als vorlegendes Gericht gebunden ist6, eine andere Entscheidung möglich ist. Das EuGH-Urteil „Aquila Part Prod Com“7 zur Zurechnung des Wissens von beauftragten Personen bestätigt diese Ausführungen des Bundesfinanzhofs.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14. Juni 2023 – XI S 2/23

  1. vgl. BFH, Beschluss vom 27.10.2020 – XI B 33/20, BFH/NV 2021, 459, Rz 17[]
  2. BFH, Beschluss vom 04.03.2020 – XI B 30/19, BFH/NV 2020, 611, Rz 7; BFH, Urteil vom 12.01.2022 – II R 11/20, BFH/NV 2022, 812, Rz 13[]
  3. vgl. BFH, Beschlüsse vom 31.01.2014 – X B 52/13, BFH/NV 2014, 860, Rz 72; vom 12.06.2014 – XI B 133/13, BFH/NV 2014, 1560, Rz 19[]
  4. vgl. BFH, Beschlüsse vom 10.03.2016 – X B 198/15, BFH/NV 2016, 1042, Rz 13; vom 13.05.2020 – VIII B 117/19, BFH/NV 2020, 1262, Rz 4[]
  5. vgl. BFH, Beschluss vom 14.11.2022 – XI B 106/21, BFH/NV 2023, 140, Rz 16[]
  6. vgl. BFH, Urteile vom 16.12.2020 – XI R 26/20 (XI R 28/17), BFHE 272, 240, Rz 29; vom 21.04.2022 – V R 48/20 (V R 20/17), BFHE 276, 394, Rz 19[]
  7. EuGH, Urteil Aquila Part Prod Com vom 01.12.2022 – C-512/21, EU:C:2022:950, Rz 64 ff., 67[]
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