Verwirkung ist ein Anwendungsfall des Verbots widersprüchlichen Tuns, das Ausfluss des die gesamte Rechtsordnung beherrschenden Grundsatzes von Treu und Glauben ist.

Der Tatbestand der Verwirkung setzt neben dem bloßen Zeitmoment (zeitweilige Untätigkeit des Anspruchsberechtigten) sowohl ein bestimmtes Verhalten des Anspruchsberechtigten voraus, demzufolge der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung darauf vertrauen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden (Vertrauenstatbestand), als auch, dass der Anspruchsverpflichtete tatsächlich auf die Nichtgeltendmachung des Anspruchs vertraut und sich hierauf eingerichtet hat1.
Das Finanzamt verwirkt den Steueranspruch demgemäß nicht schon, wenn es ihn über längere Zeit hinweg nicht geltend macht. Vielmehr müssen weitere Umstände hinzutreten, die die verspätete Rechtsausübung durch die Behörde als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Solche Umstände liegen nur vor, wenn sich das Finanzamt über seine Untätigkeit hinaus in einer Weise verhält, die auf eine Aufgabe des Steueranspruchs schließen lässt2.
Diese Grundsätze gelten auch für die Gesamtschuldner bei der Grunderwerbsteuer gemäß § 13 Nr. 1 GrEStG. Das Finanzamt kann innerhalb der Verjährungsfrist grundsätzlich jeden, der nach dem GrEStG Steuerschuldner ist, als Gesamtschuldner in Anspruch nehmen. Bis zum Eintritt der Verjährung muss jeder Gesamtschuldner grundsätzlich mit dieser Inanspruchnahme rechnen3. Durch bloßen Zeitablauf (innerhalb der Verjährung) und die vorherige (erfolglose) Inanspruchnahme des Erwerbers wird der Anspruch gegen den Veräußerer als Gesamtschuldner nicht verwirkt. Eine Verwirkung des Anspruchs setzt vielmehr regelmäßig voraus, dass das Finanzamt durch ein bestimmtes Verhalten im Steuerschuldner das Vertrauen darauf geweckt hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde4. Ein solches Vertrauen ist insbesondere nicht gerechtfertigt, solange das Finanzamt die Unbedenklichkeitsbescheinigung nicht erteilt hat und der Erwerber eines Grundstücks deshalb gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 GrEStG nicht in das Grundbuch eingetragen wurde5. Eine Ausnahme hiervon könnte nur dann bestehen, wenn die fehlgeschlagene Beitreibung der Steuerforderung gegen den zunächst in Anspruch genommenen Erwerber auf einer vorsätzlichen oder sonstigen besonders groben Pflichtverletzung des Finanzamts beruht6.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 30. August 2017 – II R 48/15
- BFH, Urteil vom 21.02.2017 – VIII R 45/13, BFHE 257, 256, Rz 42[↩]
- BFH, Urteil vom 24.10.2006 – I R 90/05, BFH/NV 2007, 849, unter III. 1.d, m.w.N.[↩]
- BFH, Beschlüsse vom 02.12 1987 – II R 172/84, BFH/NV 1989, 455; und vom 17.05.1990 – II B 8/90, BFH/NV 1991, 481[↩]
- BFH, Beschluss in BFH/NV 1991, 481[↩]
- vgl. BFH, Beschluss in BFH/NV 1989, 455[↩]
- BFH, Urteil vom 04.07.1979 – II R 74/77, BFHE 129, 201, BStBl II 1980, 126; BFH, Beschluss in BFH/NV 1991, 481[↩]