Die Bindung des Finanzgerichts an die Klageanträge

Gemäß § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist jedoch an die Fassung der Anträge nicht gebunden.

Die Bindung des Finanzgerichts an die Klageanträge

Das Gericht darf danach dem Kläger nicht etwas zusprechen, was dieser nicht beantragt hat; es darf auch nicht über etwas anderes („aliud“) entscheiden, als der Kläger durch seinen Antrag begehrt und zur Entscheidung gestellt hat. Maßgeblich ist in der Regel der in der mündlichen Verhandlung gestellte Antrag. Dieser Grundsatz gehört zur Grundordnung des Verfahrens. Ein Verstoß dagegen ist auch ohne ausdrückliche Rüge zu beachten und zwingt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, weil dadurch die Ordnungsmäßigkeit des ganzen weiteren Verfahrens betroffen ist1.

Ist das Klageziel jedoch nicht klar und eindeutig erkennbar, muss es durch Auslegung ermittelt werden. Dabei sind alle dem Gericht bekannten und erkennbaren Umstände tatsächlicher und rechtlicher Art zu berücksichtigen. Es ist davon ausgehen, dass im Zweifel das gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage des Klägers entspricht2.

Eine Auslegung findet ihre Grenze in dem erklärten Willen des Klägers. Ist der Klageantrag schon dem Wortlaut nach eindeutig gestellt und wird dieser Wortlaut durch die Ausführungen des Klägers im Übrigen gestützt, so ist für eine Auslegung durch das Gericht kein Raum mehr3.

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Allerdings unterscheidet § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO zwischen dem Klagebegehren und der „Fassung der Anträge“ und stellt dabei letztlich auf das Klagebegehren ab. Daraus folgt, dass, wenn das Finanzgericht auf die wörtliche Fassung des Klageantrags abstellt, obwohl dieser dem erkennbaren Klageziel des Klägers nicht entspricht, auch dies einen Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO begründet4.

Maßgeblich ist letztlich stets das materielle Ziel der Klage und nicht dessen Formalisierung durch einen Antrag5.

Die Auslegung einer prozessualen Willenserklärung kann das Beschwerde- oder Revisionsgericht uneingeschränkt nachprüfen; denn die Nachprüfung von Prozesshandlungen und Prozesserklärungen sowie Anträgen auf ihren Inhalt und ihre Bedeutung gehört zu den Aufgaben des Bundesfinanzhofs, bei denen er nicht an die Tatsachenfeststellungen des Finanzgericht gebunden ist6.

Ausgehend von diesen Rechtsgrundsätzen hat das Finanzgericht im vorliegenden Streitfall § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO nicht verletzt.

Der Kläger hat im vorliegenden Fall ursprünglich -unstreitig- zwei Klagen erhoben: zunächst mit Schriftsatz vom 20.09.2012 eine Feststellungsklage mit dem Antrag „festzustellen, dass der Haftungsbescheid vom 20.01.2012 nichtig ist“ und sodann mit Schriftsatz vom 27.05.2013 eine Anfechtungsklage mit dem Antrag, „den Haftungsbescheid vom 20.01.12 in der [Fassung der] Einspruchsentscheidung vom 22.05.2013 ersatzlos aufzuheben“.

Bei Erhebung der Anfechtungsklage hat der Kläger auf seine bereits anhängige Nichtigkeitsfeststellungsklage Bezug genommen. In seiner Klagebegründung vom 30.06.2013 hat er sich zunächst in einer Art Präambel („Vorab“) mit dem Thema „Nichtigkeitsfeststellungen und Finanzgerichtsbarkeit“ befasst. Darauf folgen Ausführungen („Teil I“), die mit „Begründung Hauptantrag Unwirksamkeit/Nichtigkeit des Haftungsbescheides“ überschrieben sind, und weitere Ausführungen („Teil II“), die mit „Begründung Hilfsantrag Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheides idF der EE“ überschrieben sind.

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Der Kläger hat damit hinreichend deutlich gemacht, dass er auch nach Erhebung der Anfechtungsklage an der bereits erhobenen Nichtigkeitsfeststellungsklage festhält. Dementsprechend hat das Finanzgericht mit Beschluss vom 05.08.2013 die beiden genannten Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Im weiteren Verlauf des Verfahrens hat sich die Nichtigkeitsfeststellungsklage weder erledigt noch ist sie vom Kläger zurückgenommen worden. Gegenteiliges hat der Kläger auch mit seiner Revisionsbegründung nicht vorgetragen. Ein nachvollziehbarer Grund, warum der Kläger auf eine Entscheidung über die Nichtigkeitsfeststellungsklage hätte verzichten sollen, ist nicht ersichtlich. Daraus folgt, dass der in der mündlichen Verhandlung, im Fortsetzungstermin vom 06.03.2018, gestellte Antrag des Klägers, der im Hauptantrag allein auf die Aufhebung des Haftungsbescheids und im Hilfsantrag auf eine Ermäßigung der Haftungsschuld gerichtet ist, hinter dem tatsächlichen Klagebegehren des Klägers zurückbleibt. Denn dieses ist -nach wie vor- sowohl auf die Feststellung der Nichtigkeit des Haftungsbescheids vom 20.01.2012 als auch auf dessen Aufhebung und hilfsweise auf die Herabsetzung des Haftungsbetrags gerichtet gewesen.

Dies hat das Finanzgericht in dem angefochtenen Urteil auch zutreffend berücksichtigt; denn es hat sowohl über die Nichtigkeitsfeststellungsklage als auch über die Anfechtungsklage entschieden.

Das ergibt sich bereits aus einer Zusammenschau von Rubrum und Tenor (Urteilsformel, § 105 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Denn im Rubrum werden ausdrücklich beide Klagen aufgeführt. Wenn sodann mit dem Tenor zunächst die Haftungssumme herabgesetzt und sodann „die Klage“ im Übrigen, ohne weitere Einschränkung abgewiesen wird, dann bezieht sich dies erkennbar sowohl auf die Anfechtungsklage als auch auf die Nichtigkeitsfeststellungsklage.

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Bestätigt wird dies nicht zuletzt durch die Entscheidungsgründe. Das Finanzgericht befasst sich darin zunächst mit der Frage, ob der Haftungsbescheid vom 20.01.2012 nichtig ist, und verneint dies. Sodann setzt sich das Finanzgericht mit der Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheids auseinander7.

Dass die Urteilsformel den Singular „die Klage“ verwendet, ist in Anbetracht dieser Umstände unerheblich.

Daraus folgt zudem, dass der Vorwurf des Klägers, es sei nicht erkennbar, worüber das Finanzgericht tatsächlich entschieden habe, unberechtigt ist.

Zwar muss die Urteilsformel (§ 105 Abs. 2 Nr. 3 FGO) vollständig, eindeutig und grundsätzlich aus sich heraus verständlich sein. Ein Urteil ist wirkungslos, wenn sich aus ihm keine eindeutige Entscheidung ergibt. Genügt die Urteilsformel diesen Anforderungen nicht, hat das Revisionsgericht dies auch ohne Rüge von Amts wegen zu beachten, da es sich auch hierbei um einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens handelt8.

Das schließt jedoch nicht aus, etwaige Unklarheiten im Wege der Auslegung unter Heranziehung des übrigen Urteilsinhalts zu beseitigen. Maßgeblich ist dabei der objektive Erklärungswert aus der Sicht des Empfängers9.

Nach diesen Grundsätzen ist die Tenorierung der Vorentscheidung entgegen der Auffassung des Klägers auch hinreichend bestimmt.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 28. Februar 2023 – VII R 29/18

  1. vgl. BFH, Beschluss vom 17.07.2019 – II B 31/18, Rz 10, m.w.N.; vgl. auch BFH, Beschluss vom 21.10.2020 – VII B 121/19, Rz 24, m.w.N.[]
  2. vgl. BFH, Urteile vom 27.01.2011 – III R 65/09, Rz 10; und vom 29.04.2009 – X R 35/08, BFH/NV 2009, 1777, unter II. 1., m.w.N.[]
  3. BFH, Urteil vom 13.12.1994 – VII R 18/93, BFH/NV 1995, 697, unter II.[]
  4. vgl. BFH, Urteile vom 14.09.2017 – IV R 34/15, Rz 16; und vom 04.09.2008 – IV R 1/07, BFHE 222, 220, BStBl II 2009, 335, unter II. 3.a; BFH, Beschlüsse vom 27.06.2017 – X B 106/16, Rz 22; und vom 19.08.2015 – V B 26/15, Rz 18, jeweils m.w.N.[]
  5. vgl. BFH, Beschlüsse vom 27.06.2017 – X B 106/16, Rz 22; und vom 19.08.2015 – V B 26/15, Rz 18; vgl. auch Lange in HHSp, § 96 FGO Rz 177; Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO Rz 97[]
  6. vgl. BFH, Beschluss vom 21.10.2020 – VII B 121/19, Rz 25, m.w.N.[]
  7. zur Auslegung des Tenors durch Rückgriff auf den Inhalt des Urteils s.a. BFH, Urteil vom 05.11.2015 – III R 57/13, BFHE 252, 108, BStBl II 2016, 403, Rz 14; BFH, Beschluss vom 25.06.2014 – VII B 183/13, Rz 18, jeweils m.w.N.[]
  8. vgl. BFH, Urteil vom 29.04.2020 – IV R 17/19, Rz 20, m.w.N.[]
  9. ständige Rechtsprechung, vgl. BFH, Urteile in BFHE 252, 108, BStBl II 2016, 403, Rz 14; und vom 25.09.2014 – III R 56/13, Rz 19[]
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