Ist ein finanzgerichtliches Urteil nicht mit Gründen versehen, verletzt es Bundesrecht. Es kann danach keinen Bestand haben.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist eine Entscheidung i.S. des § 119 Nr. 6 FGO nicht mit Gründen versehen, wenn das Finanzgericht einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergeht oder einen bestimmten Sachverhaltskomplex überhaupt nicht berücksichtigt1. Unter selbständigen Ansprüchen und selbständigen Angriffs- und Verteidigungsmitteln sind dabei die eigenständigen Klagegründe und solche Angriffs- und Verteidigungsmittel zu verstehen, die den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm bilden2.
In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Streitfall ist das Finanzgericht Nürnberg3 nicht auf den vom Kläger im finanzgerichtlichen Verfahren hilfsweise geltend gemachten selbständigen Anspruch eingegangen, dass selbst bei einer Betrachtung entsprechend dem Finanzamt (d.h. bei einem Abstellen auf die Eingangsleistungen, die dem insolvenzbedingten Vorsteuerberichtigungsanspruch zugrunde lagen), die Aufrechnung in Höhe von 3.226, 64 € anfechtbar sei. Damit hat das Finanzgericht den diesbezüglichen Vortrag des Klägers übergangen und damit einen eigenständigen Klagegrund unerörtert gelassen, der den Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm (§ 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO) bildet, ohne dass das angefochtene Urteil dabei erkennen lässt, aus welchen Gründen dieser vom Kläger hilfsweise geltend gemachte Anspruch vom Finanzgericht abgelehnt wurde, obwohl es hierauf auch nach der eigenen materiell-rechtlichen Beurteilung des Finanzgericht4 ankam.
Der Kläger hat diesen Verfahrensfehler, auf dem das Urteil des Finanzgerichts beruht (§ 119 Nr. 6 FGO), in seiner Revisionsbegründung hinreichend gerügt; denn er hat hilfsweise eingewendet, dass das Finanzamt im finanzgerichtlichen Verfahren eingeräumt habe, dass der insolvenzbedingte Berichtigungsanspruch in Höhe von 3.226, 64 € auf Eingangsleistungen, die in kritischer Zeit bezogen worden seien, beruhe. Es liegt auch kein Ausnahmefall vor, bei dem der Verfahrensfehler unbeachtlich ist, da das übergangene Angriffs- oder Verteidigungsmittel ungeeignet war und eine erneute Entscheidung des Finanzgericht deshalb nur zu einer Bestätigung des Urteils führen könnte5.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 3. August 2022 – XI R 44/20
- vgl. z.B. BFH, Urteile vom 29.11.2000 – I R 16/00, BFH/NV 2001, 626, unter II. 2.; vom 24.04.2008 – IV R 69/05, BFH/NV 2008, 1550, unter II.B.02.b; vom 18.06.2009 – V R 4/08, BFHE 226, 382, BStBl II 2010, 310, Rz 14; vom 09.02.2012 – V R 40/10, BFHE 236, 258, BStBl II 2012, 844, Rz 38[↩]
- vgl. dazu BFH, Urteile vom 02.10.2001 – IX R 25/99, BFH/NV 2002, 363, unter II. 2.a; in BFHE 226, 382, BStBl II 2010, 310, Rz 14[↩]
- FG Nürnberg, Urteil vom 14.05.2019 – 2 K 798/15, EFG 2020, 1383[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 19.12.2016 – XI B 57/16, BFH/NV 2017, 599, Rz 25[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFHE 226, 382, BStBl II 2010, 310, Rz 16[↩]