Eine Erkrankung ist nur dann ein Wiedereinsetzungsgrund, wenn sie plötzlich aufgetreten ist, mit ihr nicht gerechnet werden musste und sie so schwerwiegend war, dass weder die Wahrung der laufenden Fristen noch die Bestellung eines Dritten, der sich um die Fristwahrung kümmern konnte, möglich war.

Ein berufsmäßiger Prozessbevollmächtigter, der infolge der Nachwirkungen einer schweren Erkrankung nur eingeschränkt arbeitsfähig und daher nicht in der Lage ist, sämtliche kurzfristig anfallenden fristgebundenen Angelegenheiten gleichzeitig zu erledigen, muss sich auch außerhalb seiner Kanzlei um einen Vertreter bemühen, der die fristgebundenen Angelegenheiten übernehmen kann.
Gemäß § 56 Abs. 1 FGO ist auf Antrag -nach § 56 Abs. 2 Satz 4 FGO auch ohne Antrag- Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten steht dem Verschulden des Beteiligten gleich (§ 85 Abs. 2 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 Satz 1 FGO). Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind glaubhaft zu machen (§ 56 Abs. 2 Satz 2 FGO). Schon einfache Fahrlässigkeit steht der Annahme entgegen, ein Beteiligter oder sein Vertreter sei „ohne Verschulden“ an der Fristwahrung gehindert gewesen1.
Der Eintritt einer Erkrankung kann als Entschuldigungsgrund anzuerkennen sein. Dies setzt nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung allerdings voraus, dass die Krankheit plötzlich aufgetreten ist, mit ihr nicht gerechnet werden musste und sie so schwerwiegend war, dass weder die Wahrung der laufenden Fristen noch die Bestellung eines Dritten, der sich um die Fristwahrung kümmern konnte, möglich war. Wer geschäftsmäßig fremde Rechtsangelegenheiten besorgt, muss -zur Vermeidung eines Organisationsverschuldens- überdies grundsätzlich dafür Vorkehrungen treffen, dass auch bei einer nicht vorhergesehenen Erkrankung Fristen in den Verfahren gewahrt werden, deren Betreuung er im Rahmen des betreffenden Geschäftsbetriebes übernommen hat2.
Es gehört zu den Organisationspflichten eines Rechtsanwalts, die nach den jeweiligen Umständen gebotene Vorsorge für den Fall zu treffen, dass er unvorhergesehen an der Wahrnehmung seiner Aufgaben -vor allem an der Wahrung gesetzlicher Fristen- gehindert ist3. Insbesondere muss ein Prozessbevollmächtigter, der wegen einer chronischen Erkrankung in seiner Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist, sein Büro so organisieren, dass Fristen auch für den Fall eines plötzlich auftretenden Krankheitsschubes ordnungsgemäß gewahrt werden können, z.B. durch Bereithaltung eines Vertreters4.
Unverschuldet handelt ein berufsmäßiger Prozessbevollmächtigter in solchen Fällen nur dann, wenn er plötzlich in einer Weise erkrankt, die es ihm -auch wenn er sich allgemein um einen Vertreter gekümmert hat- unmöglich gemacht hat, diesen Vertreter rechtzeitig ausreichend zu informieren5.
Nach diesen Grundsätzen konnte im hier entschiedenen Streitfall keine Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdebegründungsfrist gewährt werden:
Der Kläger hat zwar hinreichend glaubhaft gemacht, dass der von ihm beauftragte Rechtsanwalt R vom 16. bis zum 31.12.2020 aufgrund einer plötzlich eingetretenen schweren Erkrankung nicht arbeitsfähig war. Ferner geht der Bundesfinanzhof davon aus, dass R aufgrund der andauernden und erheblichen Nachwirkungen dieser Erkrankung während des gesamten Monats Januar 2021 das hohe Niveau seiner bisherigen beruflichen Leistungsfähigkeit nicht hat erreichen können, allerdings in diesem Zeitraum regelmäßig für seine Kanzlei tätig gewesen ist. Darüber hinaus unterstellt der Bundesfinanzhof, dass es dem R in dieser Situation objektiv nicht möglich war, in sämtlichen von ihm zu bearbeitenden Verfahren (sehr umfangreiche Kartellangelegenheit, mehrere einstweilige Verfügungssachen mit teilweise erheblichen wirtschaftlichen Auswirkungen, die bei einem obersten Gerichtshof des Bundes einzureichende Beschwerdebegründung im vorliegenden Verfahren) die ablaufenden, bereits verlängerten Fristen gleichzeitig einzuhalten, und eine kanzleiinterne Vertretung ausgeschlossen war, weil die weiteren kanzleizugehörigen Rechtsanwälte in diesen Rechtsgebieten keine ausreichenden Erfahrungen besaßen.
Ohne Verschulden“ i.S. des § 56 Abs. 1 FGO handelt ein berufsmäßiger Prozessbevollmächtigter aber auch in einer solchen Ausnahmesituation nur, wenn er die ihm zumutbaren Möglichkeiten ausschöpft, zu versuchen, die fristgebundene Tätigkeit, die von ihm selbst krankheitsbedingt nicht mehr erbracht werden kann, an einen Vertreter zu delegieren. Diesen Versuch hat R nicht unternommen, obwohl ihm seit der Wiederaufnahme seiner beruflichen Tätigkeit (28.12.2020) bis zum Fristablauf (28.01.2021) ein hierfür grundsätzlich ausreichender Zeitraum zur Verfügung stand, es sich also -in dieser zweiten Phase der Erkrankung- nicht um einen plötzlichen Notfall handelte. Vor diesem Hintergrund war die Entscheidung des R, keinen fachkundigen Vertreter außerhalb seiner Kanzlei zu suchen, sondern in dieser Sache einen -nach der klaren gesetzlichen Regelung des § 116 Abs. 3 Satz 4 FGO von vornherein aussichtslosen- zweiten Fristverlängerungsantrag zu stellen und sich im Übrigen anderweitigen, ebenfalls äußerst dringenden Angelegenheiten zu widmen, im Hinblick auf das vorliegende Verfahren nicht geeignet, um den Folgen seiner krankheitsbedingt eingeschränkten Leistungsfähigkeit zu begegnen6.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 21. Juli 2021 – X B 126/20
- BFH, Beschluss vom 24.06.2008 – X R 38/07, BFH/NV 2008, 1517, unter II. 2. vor a[↩]
- zum Ganzen BFH, Entscheidungen vom 29.07.2003 – VII R 39, 43/02, BFHE 202, 411, BStBl II 2003, 828, unter 1.; vom 10.05.2013 – II R 5/13, BFH/NV 2013, 1428, Rz 9; und vom 09.04.2018 – X R 9/18, BFH/NV 2018, 828, Rz 15 ff., Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG, Beschluss vom 05.07.2019 – 1 BvR 2605/18; BGH, Beschluss vom 20.12.2017 – XII ZB 213/17, NJW-RR 2018, 383[↩]
- BFH, Beschluss vom 07.02.2002 – III R 12/01, BFH/NV 2002, 794, unter II. 3.a[↩]
- BFH, Beschluss vom 11.10.1995 – VIII B 106/95, BFH/NV 1996, 332[↩]
- BFH, Beschluss in BFH/NV 2002, 794, unter II. 3.b[↩]
- ebenso zu einem vergleichbaren Fall BGH, Beschluss vom 10.02.2021 – XII ZB 4/20, MDR 2021, 575[↩]