Die nicht erörterten Ergebnisse der Beweisaufnahme

Erörtert das Finanzgericht im Anschluss an die Beweisaufnahme und vor Erlass seines Urteils nicht erneut den Sach- und Streitstand und, soweit bereits möglich, das Ergebnis der Beweisaufnahme mit den Beteiligten, verletzt es deren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs1.

Die nicht erörterten Ergebnisse der Beweisaufnahme

In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall hat eine Getränkehändlerin geklagt, die als Einzelkauffrau nach ihrer Einlassung auf einem „ethnischen Markt“ tätig war. Die Leitung ihres Unternehmens hatte sie ihrem Ehemann (MS) übertragen. Strittig war im vorliegenden Fall, ob ihr für die Streitjahre 2009 und 2010 für ihren Getränkegroßhandel der Vorsteuerabzug aus insbesondere Lieferungen der P-GmbH (P) zu versagen ist. Das Finanzamt nahm nach Durchführung einer Außenprüfung an, dass die Rechnungen Teil einer Umsatzsteuerhinterziehung seien und die Getränkehändlerin hiervon hätte Kenntnis haben müssen. MS wurde wegen der Vorgänge bei P vom zuständigen Landgericht wegen Umsatzsteuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt. Das Strafurteil ist nach Verwerfung der Revision und der Verfassungsbeschwerde des MS rechtskräftig.

Der Einspruch gegen die Änderungsbescheide blieb erfolglos. Im Laufe des Klageverfahren ersuchte das Finanzgericht Berlin-Brandenburg den Gerichtshof der Europäischen Union um Vorabentscheidung folgender Rechtsfrage:

„Sind die Art. 167, 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem – MwStSystRL – dahingehend auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsanwendung entgegen stehen, nach der ein Vorsteuerabzug auch dann zu versagen ist, wenn auf einer vorhergehenden Umsatzstufe eine Umsatzsteuerhinterziehung begangen wurde und der Steuerpflichtige hiervon Kenntnis hatte oder hätte haben müssen, er mit dem an ihn erbrachten Umsatz aber weder an der Steuerhinterziehung beteiligt noch in diese einbezogen war und die begangene Steuerhinterziehung auch nicht gefördert oder begünstigt hat?“

Der Unionsgerichtshof hat darauf mit seinem Urteil „Finanzamt Wilmersdorf“2 geantwortet:

„Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Praxis nicht entgegensteht, nach der einem Steuerpflichtigen, der Waren erworben hat, die Gegenstand einer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe der Lieferkette begangenen Umsatzsteuerhinterziehung waren, und der davon wusste oder hätte wissen müssen, das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wird, obwohl er an dieser Steuerhinterziehung nicht aktiv beteiligt war.“

Im Anschluss an das Urteil des Unionsgerichtshofs kam es in der mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht zu einer umfangreichen Beweisaufnahme durch Einvernahme mehrerer Zeugen. Hierzu ergibt sich aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 16.11.2021, dass der letzte Zeuge um 17:00 Uhr entlassen wurde. Danach wurden nur noch Sachanträge gestellt und der Vorsitzende schloss die mündliche Verhandlung mit der Verkündung des Beschlusses, dass eine Entscheidung den Beteiligten zugestellt wird.

Weiterlesen:
Die nicht fristgerechte Konkretisierung eines Antrags auf "schlichte" Änderung

Mit seinem Urteil gab das Finanzgericht Berlin-Brandenburg der Klage statt. Bei den Umsätzen, um die es im Strafurteil gegen MS gegangen sei, habe es sich nicht um die Lieferungen der P an die Getränkehändlerin, sondern um „die Lieferung unversteuerter Getränke durch unbekannte Hintermänner unter Mitwirkung des Ehemanns der Getränkehändlerin [MS] an die P […]“ gehandelt. Die Getränkehändlerin habe selbst keine Steuerhinterziehung begangen. Die P habe die Lieferungen an die Getränkehändlerin in ihrer Buchführung erfasst (und demgemäß auch versteuert). Es sei nicht feststellbar, dass die an die Getränkehändlerin ausgeführten Lieferungen Teil einer hinterziehungsbehafteten Lieferkette gewesen seien. Es sei bereits nicht feststellbar, dass die von der P an die Getränkehändlerin gelieferten Getränke mit denen identisch seien, die zuvor in eine Hinterziehung einbezogen gewesen seien. Die Eingangsrechnungen der P seien nicht mehr auffindbar. Es sei denkbar, dass die Getränkehändlerin von P mit Ware beliefert worden sei, die die P „legal“ erworben habe. Zudem sei nicht feststellbar, dass MS von Steuerhinterziehungen bei P Kenntnis hätte haben müssen. Der Zeuge Y habe bestätigt, dass MS in den „illegalen“ Getränkeeinkauf bei P nicht einbezogen gewesen sei. Der Zeuge D habe ausgesagt, dass die „illegalen Getränkelieferungen“ durch den Bruder und den Schwager des MS erfolgt seien. Da MS „Familienoberhaupt“ gewesen sei, sei er davon ausgegangen, dass MS davon Kenntnis hatte. Demgegenüber ging das Finanzgericht bei seiner Entscheidung davon aus, dass die Getränkehändlerin keine eigene Kenntnis von der Steuerhinterziehung bei der P hätte haben müssen. Im Hinblick auf die Einwendungen der Getränkehändlerin gegen die strafgerichtlichen Feststellungen bestehe keine Bindung an diese.

Weiterlesen:
Wenn das Finanzamt die Frist versäumt...

Gegen das Urteil des Finanzgerichts richtet sich die auf Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO gestützte Beschwerde des Finanzamtes wegen Nichtzulassung der Revision, die zur Aufhebung des angefochtenen finanzgerichtlichen Urteils durch den Bundesfinanzhof und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Finnazgericht Berlin-Brandenburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO) führte; das angefochtene Urteile leide, so der Bundesfinanzhof, an einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, da das Finanzgericht den Anspruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat, indem es das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht mit ihnen erörtert hat.

Gemäß § 155 FGO i.V.m. § 285 Abs. 1, § 279 Abs. 3 ZPO hat im Anschluss an die Beweisaufnahme das Gericht erneut den Sach- und Streitstand und, soweit bereits möglich, das Ergebnis der Beweisaufnahme mit den Beteiligten zu erörtern. Über das Ergebnis der Beweisaufnahme haben die Beteiligten unter Darlegung des Streitverhältnisses zu verhandeln.

Dies ist vorliegend, wie sich aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung ergibt, seitens des Finanzgericht nicht geschehen.

Findet sich -wie hier- im Protokoll kein Hinweis darauf, dass die Parteien zum Beweisergebnis verhandelt haben, steht wegen der Beweiskraft des Protokolls (§ 94 FGO i.V.m. § 160 Abs. 2, § 165 ZPO) ein Verstoß gegen § 285 Abs. 1, § 279 Abs. 3 ZPO fest3.

Weiterlesen:
Gegenvorstellung - gegen die PKH-Ablehnung

Die durch das Protokoll nachgewiesene Verletzung von § 285 Abs. 1 ZPO enthält regelmäßig zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes4; denn die Beteiligten sollen nach § 285 Abs. 1 ZPO Gelegenheit erhalten, nach Abschluss der Beweisaufnahme zu deren Ergebnis vorzutragen und Stellung zu beziehen. Diese Gelegenheit wurde ihnen im Streitfall verwehrt.

Das Finanzamt hat mit der Rüge, es liege eine Überraschungsentscheidung vor, ausdrücklich auch eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör als verfahrensfehlerhaft i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO gerügt. Soweit es der BGH bei diesem Verfahrensfehler zudem für erforderlich hält, dass der Beschwerdeführer darlegt, was bei Gewährung des rechtlichen Gehörs vorgetragen worden wäre und dass nicht auszuschließen ist, dass dieser Vortrag zu einer anderen Entscheidung geführt hätte5, hat das Finanzamt dies im Rahmen seines Beschwerdevorbringens in ausreichender Weise getan. Denn aus seinem Beschwerdevorbringen wird deutlich, was das Finanzamt bei Gewährung rechtlichen Gehörs im Rahmen des finanzgerichtlichen Verfahrens noch vorgetragen hätte.

Das Finanzamt hat erstens in Bezug auf die zwischen den Beteiligten streitige Warenherkunft vorgebracht, dass die Zeugen Y und D zwar ausgesagt hätten, dass es sich nicht auseinander halten lasse, welche Getränkelieferungen an die Getränkehändlerin in eine Steuerhinterziehung einbezogen gewesen seien und welche nicht. Das Finanzamt hat dazu mit seiner Beschwerde ausgeführt, das LG habe indes in seinem Urteil festgestellt, dass es sich um Scheinrechnungen gehandelt habe. Aus dem steuerlichen Bericht über die bei der P durchgeführte Prüfung gehe außerdem hervor, dass selbst wenn P alle legal erworbenen Waren nur an die Getränkehändlerin geliefert hätte, was sehr unwahrscheinlich sei, die Getränkehändlerin auch illegal erworbene Waren erhalten haben müsse, die Teil einer Lieferkette waren, innerhalb derer eine Steuerhinterziehung stattgefunden habe.

Weiterlesen:
Verbrauch des Verzichts auf mündliche Verhandlung - infolge einer Aufklärungsanordnung

Weiter hat das Finanzamt zum „Wissenmüssen“ der Getränkehändlerin im Beschwerdeverfahren vorgetragen, dass S, der von der Getränkehändlerin bevollmächtigt gewesen sei, wegen Steuerhinterziehung vom LG zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt worden sei. Die Revision und die Verfassungsbeschwerde des S seien erfolglos geblieben. Darüber hinaus hat sich das Finanzamt umfangreich zu der aus seiner Sicht unzutreffenden Würdigung der Aussagen des D und MS geäußert sowie auf die vom LG erhobenen weiteren Beweise zum Wissenmüssen des MS oder der Getränkehändlerin, die das Finanzgericht überhaupt nicht gewürdigt habe, hingewiesen.

Aufgrund dieses Verfahrensfehlers erscheint es sachgerecht, gemäß § 116 Abs. 6 FGO das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht zurückzuverweisen, da beim derzeitigen Verfahrensstand von einer Revisionsentscheidung keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist6.

Für das weitere Verfahren weist der Bundesfinanzhof vorsorglich auf Folgendes hin.

MS hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht ausgesagt, dass er einen Schwager habe, der nach seiner Entlassung aus dem Unternehmen der Getränkehändlerin bei der P gearbeitet habe. Ebenso habe er erfahren, dass sein 22 Jahre jüngerer Halbbruder ES bei der P gearbeitet habe. In Übereinstimmung hiermit hatte Y als Zeuge bekundet, dass der Schwager von MS für die P tätig war. Der Zeuge D sagte aus, dass die P über den Halbbruder des MS, ES, „illegal Spirituosen bezogen“ habe, was im Zusammenhang mit dessen Schwager „gelaufen“ sei, der für die P im Lager beschäftigt gewesen sei. ES habe die Schlüssel für ein Lager gehabt.

Weiterlesen:
Rechtliches Gehör - und das Nichterscheinen zum Verhandlungstermin

Bei dieser Sachlage, bei der mehrere Familienmitglieder der Getränkehändlerin im Zusammenhang mit der P standen und dabei auch für die P tätig waren, erscheint es fernliegend, dass die Getränkehändlerin nichts von den Vorgängen bei der P gewusst hat und davon auch nichts hätte wissen müssen. Die vorstehenden Umstände und die Beziehungen der Getränkehändlerin zu allen Familienmitgliedern hat das Finanzgericht in einem zweiten Rechtsgang weitergehend aufzuklären und zu würdigen. Dabei können die Tätigkeiten des Bruders und des Schwagers des Ehemanns der Getränkehändlerin geeignet sein, die für sich genommen nachvollziehbare Beweiswürdigung des LG in dem Strafurteil zur Verurteilung des MS wegen Steuerhinterziehung zu bestätigen oder ein anderweitiges Wissenmüssen der Getränkehändlerin zu begründen.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 22. November 2022 – XI B 1/22

  1. Folgeentscheidung zu EuGH, Urteil „Finanzamt Wilmersdorf“ vom 14.04.2021 – C-108/20, EU:C:2021:266[]
  2. EuGH, Urteil vom 14.04.2021 – C-108/20, EU:C:2021:266[]
  3. vgl. BGH, Beschluss vom 20.12.2005 – VI ZR 307/04, BGH-Report 2006, 529, Rz 3; s. zu § 160 Abs. 2, § 165 ZPO auch BFH, Beschluss vom 18.08.2015 – III B 112/14, BFH/NV 2015, 1595, Rz 10[]
  4. vgl. BGH, Urteile vom 09.10.1974 – VIII ZR 215/73, BGHZ 63, 94; vom 26.04.1989 – I ZR 220/87, NJW 1990, 121; vom 24.01.2001 – IV ZR 264/99, NVersZ 2001, 175; BGH, Beschlüsse vom 02.12.2004 – IX ZR 56/04, BeckRS 2005, 01420; in BGHReport 2006, 529; vom 25.09.2007 – VI ZR 162/06, Zeitschrift für das gesamte Medizinrecht 2007, 141; vom 28.07.2011 – VII ZR 184/09, NJW 2011, 3040, 3041; vom 23.11.2011 – IV ZR 49/11, ZEV 2012, 100, 102; vom 23.05.2012 – IV ZR 224/10, NJW 2012, 2354; und vom 28.07.2016 – III ZB 127/15, NJW 2016, 2890[]
  5. vgl. BGH, Beschluss in NJW 2016, 2890, Rz 11[]
  6. vgl. dazu allgemein BFH, Beschluss vom 27.10.2020 – XI B 33/20, BFH/NV 2021, 459, Rz 25, m.w.N.[]
Weiterlesen:
Zustellung eines finanzgerichtlichen Urteils - an das elektronische Anwaltspostfach

Bildnachweis: