Die nicht unterschriebene Rechtsmittelschrift – und der vom Gericht unterlassene Hinweis

Es ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn ein Gericht nicht darauf hinweist, dass eine bei ihm sechs Arbeitstage vor Fristablauf eingereichte Rechtsmittelschrift nicht unterschrieben ist.

Die nicht unterschriebene Rechtsmittelschrift – und der vom Gericht unterlassene Hinweis

Zwar kann ausnahmsweise von dem Unterschriftserfordernis abgesehen werden, wenn aus anderen Gründen ohne Beweisaufnahme feststeht, dass es sich bei dem an das Gericht gelangten, nicht unterschriebenen Schriftstück nicht lediglich um einen Entwurf handelt.

Dies ist in der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung etwa angenommen worden, wenn einer nicht unterschriebenen Klageschrift eine vom Kläger eigenhändig unterzeichnete Prozessvollmacht im Original beigefügt war1, wenn ein rechtlich unerfahrener Kläger zwar die Klageschrift nicht unterzeichnet, auf dem Briefumschlag aber handschriftlich seinen Namen und seine Anschrift eingetragen hat2, wenn zwar nicht der -der Schriftform unterliegende- Antrag, wohl aber ein Begleitschreiben eigenhändig unterzeichnet ist3, oder wenn ein erforderlicher Gerichtskostenvorschuss noch innerhalb der Klagefrist eingezahlt wird4).

Ein vergleichbarer Ausnahmesachverhalt ist indes nicht gegeben, wenn es innerhalb der Beschwerdefrist über den bloßen Eingang des nicht unterschriebenen -und damit als bloßer Entwurf anzusehenden- Schriftstücks hinaus kein weiteres Indiz für den ernsthaften Willen des Antragstellers zur formgerechten Erhebung einer Beschwerde gibt.

Dem Beschwerdeführer ist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Gemäß § 56 Abs. 1 FGO ist auf Antrag -nach § 56 Abs. 2 Satz 4 FGO auch ohne Antrag- Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten steht dem Verschulden des Beteiligten gleich (§ 85 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 155 FGO).

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Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind glaubhaft zu machen (§ 56 Abs. 2 Satz 2 FGO). Bereits innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist sind (unbeschadet einer späteren Glaubhaftmachung) alle entscheidungserheblichen Tatsachen wenigstens ihrem wesentlichen Inhalt nach schlüssig darzulegen5, es sei denn, die Gründe waren offenkundig oder amtsbekannt6.

Dabei können Zweifel an der hinreichenden Substantiierung des Wiedereinsetzungsantrags auf sich beruhen, wenn dem Beschwerdeführer aus Gründen, die aktenkundig und damit amtsbekannt sind7, Wiedereinsetzung zu gewähren ist.

Ein Prozessbeteiligter kann erwarten, dass offenkundige Versehen, wie das Fehlen einer zur Fristwahrung erforderlichen Unterschrift, von dem angerufenen Gericht in angemessener Zeit bemerkt und als Folge der prozessualen Fürsorgepflicht innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um eine drohende Fristversäumung zu vermeiden8.

Nach ständiger Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes und des BVerfG ist ein Gericht verpflichtet, einen Schriftsatz, der eindeutig als fehlgeleitet erkennbar ist, im Rahmen des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs ohne schuldhaftes Zögern an die zuständige Stelle weiterzuleiten. Bei einer schuldhaft verzögerten Weiterleitung ist dem Verfahrensbeteiligten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren9. Dies gilt nach dieser Rechtsprechung unabhängig davon, auf welchen Gründen der Fehler bei der Einreichung des bestimmenden Schriftsatzes beruht10. Für ein bereits vorher mit der Sache befasstes Gericht entspricht das Unterbleiben einer Weiterleitung, obwohl bis zum Fristablauf noch eine Spanne von fünf Arbeitstagen zur Verfügung stand, nicht mehr einem ordentlichen Geschäftsgang11. Demgegenüber besteht keine Pflicht zur sofortigen Prüfung und Weiterleitung noch am Tage des Eingangs des Schriftsatzes oder zu einer beschleunigten Weiterleitung per Telefax12.

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Dementsprechend stellt es einen Verfahrensmangel (Verletzung der Verfahrensförderungspflicht des § 76 Abs. 2 FGO) dar, wenn ein Finanzgericht bei einer weit vor Ablauf der Klagefrist eingereichten Klage zwar noch innerhalb der Klagefrist auf bestimmte formale Mängel hinweist, aber erst nach drei Jahren ergänzend beanstandet, dass die Klageschrift lediglich mit einer Paraphe versehen sei, und aus diesem Grund die Klage als unzulässig verwirft13.

Vorliegend ist die nicht unterschriebene Beschwerdeschrift am 16.01.2017 beim Finanzgericht eingegangen. Bis zum Fristablauf am 24.01.2017 verblieben daher acht Kalendertage (bzw. sechs Arbeitstage), um den Antragsteller auf das Fehlen der Unterschrift hinzuweisen. Tatsächlich hat sich das Finanzgericht bereits am 17.01.2017 -im Rahmen seiner Nichtabhilfeentscheidung- mit der Beschwerde befasst, aber nicht auf das Fehlen der Unterschrift hingewiesen. Hätte es zu diesem Zeitpunkt einen Hinweis erteilt, wäre zu erwarten gewesen, dass der Antragsteller den Formmangel noch innerhalb der Beschwerdefrist geheilt hätte. Dieses Versäumnis des Finanzgericht überholt das vorherige Verschulden der Prozessbevollmächtigten, so dass schon deshalb Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 12. Juli 2017 – X B 16/17

  1. BFH, Urteil vom 28.09.1995 – IV R 76/94, BFH/NV 1996, 332[]
  2. BFH, Urteil vom 03.10.1986 – III R 207/81, BFHE 148, 205, BStBl II 1987, 131[]
  3. BFH, Urteil vom 13.12 2001 – III R 24/99, BFHE 196, 464, BStBl II 2002, 159[]
  4. BVerfG, Beschluss vom 22.10.2004 – 1 BvR 894/04, NJW 2005, 814, unter II. 2.b aa (2[]
  5. BFH, Beschlüsse vom 25.03.2003 – I B 166/02, BFH/NV 2003, 1193; und vom 29.10.2003 – V B 61/03, BFH/NV 2004, 459[]
  6. BFH, Urteil vom 17.09.1987 – III R 259/84, BFH/NV 1988, 681[]
  7. vgl. dazu BFH, Urteil in BFH/NV 1988, 681[]
  8. BVerfG, Beschluss in NJW 2005, 814, unter II. 2.b bb; dort war der maßgebende Schriftsatz -ebenso wie im vorliegenden Fall- acht Tage vor Fristablauf beim zuständigen Gericht eingereicht worden[]
  9. grundlegend BVerfG, Beschluss vom 20.06.1995 1 BvR 166/93, BVerfGE 93, 99, unter C.II.[]
  10. BVerfG, Beschluss in BVerfGE 93, 99, unter C.II. 2.b; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 02.09.2002 1 BvR 476/01, BStBl II 2002, 835[]
  11. vgl. BGH, Beschluss vom 03.07.2006 – II ZB 24/05, NJW 2006, 3499[]
  12. BFH, Beschluss vom 27.10.2004 – XI B 130/02, BFH/NV 2005, 563[]
  13. BFH, Beschluss vom 30.01.1996 – V B 89/95, BFH/NV 1996, 683, unter II. 3.b[]
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