Die vom Finanzgericht unterlassene Auslegung

Hat das Finanzgericht eine (gebotene) Auslegung unterlassen, so kann der Bundesfinanzhof diese selbst vornehmen, wenn das Finanzgericht die hierfür erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, und zwar selbst dann, wenn mehrere Auslegungsmöglichkeiten bestehen1.

Die vom Finanzgericht unterlassene Auslegung

Die Auslegung von Willenserklärungen und Verträgen gehört grundsätzlich zu den „tatsächlichen Feststellungen“ i.S. des § 118 Abs. 2 FGO, deren Vornahme dem Finanzgericht obliegt und die vom BFH im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden darf2.

Die Auslegung des Finanzgerichts kann vom BFH nur daraufhin überprüft werden, ob die gesetzlichen Auslegungsregeln (§§ 133, 157 BGB), die Denkgesetze und die gesetzlichen Erfahrungssätze zutreffend angewandt worden sind. Hierzu gehören die Erforschung der für die Auslegung wesentlichen Begleitumstände durch das Finanzgericht3 und die Interessenlage der Beteiligten4. Ein vom Finanzgericht unter Beachtung der vorgenannten Maßstäbe gefundenes Auslegungsergebnis ist für den Bundesfinanzhof bindend, auch wenn es nicht zwingend, aber möglich ist.

Hat das Finanzgericht eine (gebotene) Auslegung indes unterlassen, so kann der Bundesfinanzhof diese selbst vornehmen, wenn das Finanzgericht die hierfür erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, und zwar selbst dann, wenn mehrere Auslegungsmöglichkeiten bestehen1.

Bei der Vertragsauslegung ist der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Empfangsbedürftige Willenserklärungen sind so auszulegen, wie sie der Erklärungsempfänger nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte unter Berücksichtigung aller ihm bekannten Umstände verstehen musste (Empfängerhorizont).

Weiterlesen:
Fehlende Beweiswürdigung als Verfahrensmangel

Bundesfinanzhof, Urteil vom 16. Juni 2021 – X R 29/19

  1. vgl. BFH, Urteil vom 17.03.2010 – X R 38/06, BFHE 229, 163, BStBl II 2011, 622, Rz 19[][]
  2. vgl. BFH, Urteil vom 14.01.2004 – X R 37/02, BFHE 205, 96, BStBl II 2004, 493, unter II. 4.[]
  3. vgl. BFH, Urteil vom 04.12.1979 – VII R 29/77, BFHE 130, 226, BStBl II 1980, 488[]
  4. vgl. BFH, Urteil vom 25.07.1979 – II R 105/77, BFHE 128, 544, BStBl II 1980, 11, unter II. 2.[]