Bei der im Aussetzungsverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO gebotenen summarischen Prüfung bestehen ernstliche verfassungsrechtliche Zweifel an der Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO, soweit diese nach dem 31.12.2018 entstanden sind1.

Dem hier entschiedenen Fall hat das Finanzgericht Münster dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung von Abrechnungsbescheiden über Säumniszuschläge zur Einkommensteuer 2019 sowie zur Einkommensteuervorauszahlung für das erste Kalendervierteljahr 2021 stattgegeben2. Das Finanzgericht Münster war der Auffassung, die Rechtmäßigkeit der in den Abrechnungsbescheiden ausgewiesenen Säumniszuschläge sei ernstlich zweifelhaft, soweit die Säumniszuschläge -wie hier- nach dem 31.12.2018 entstanden seien. Die ernstlichen Zweifel ergäben sich unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Verzinsung von Steuernachforderungen und -erstattungen nach § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO daraus, dass auch Säumniszuschlägen nicht nur die Funktion eines Druckmittels, sondern auch die einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern, mithin auch eine zinsähnliche Funktion zukomme. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Finanzamtes hat der Bundesfinanzhof als unbegründet zurückgewiesen:
Das Finanzgericht hat die angefochtenen Abrechnungsbescheide zu Recht von der Vollziehung ausgesetzt. Bei der im vorläufigen Verfahren gemäß § 69 FGO gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist der Bundesfinanzhof der Auffassung, dass an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe der nach dem 31.12.2018 verwirkten Säumniszuschläge ernstliche Zweifel bestehen.
Nach § 128 Abs. 3 i.V.m. § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige Härte zur Folge hätte. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, tritt an die Stelle der Aussetzung der Vollziehung die Aufhebung der Vollziehung (§ 69 Abs. 2 Satz 7 FGO).
Ernstliche Zweifel i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen bereits dann vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheids neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken3. Dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe überwiegen, wird dabei nicht vorausgesetzt4. Ernstliche Zweifel können auch verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein5.
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Finanzgericht die begehrte AdV der streitgegenständlichen Säumniszuschläge zu Recht gewährt.
Das Finanzgericht Münster ist insoweit zu Recht von dem Beschluss des BVerfG in BVerfGE 158, 282 ausgegangen. Danach verstößt § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes und ist daher verfassungswidrig, soweit er auf Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 zur Anwendung gelangt. Aufgrund einer Fortgeltungsanordnung für die Verzinsungszeiträume bis zum 31.12.2018 ist der Zinssatz von 6 % p.a. allerdings erst für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2019 nicht mehr anwendbar.
Das Bundesverfassungsgericht hat zwar in seinem Beschluss6 festgestellt, dass andere Verzinsungstatbestände der AO einer eigenständigen verfassungsrechtlichen Wertung bedürften7. Sowohl der VII. Bundesfinanzhof des Bundesfinanzhofs als auch der V. Bundesfinanzhof des Bundesfinanzhofs haben jedoch auch im Anschluss an die Entscheidung des BVerfG ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe der Säumniszuschläge geäußert, soweit Säumniszuschlägen nicht die Funktion eines Druckmittels zukommt, sondern sie die Funktion einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern haben (zinsähnliche Funktion)8. Soweit nach dem Beschluss des BVerfG hinsichtlich anderer Verzinsungstatbestände zu berücksichtigen sei, dass Steuerpflichtige im Bereich der Teilverzinsungstatbestände grundsätzlich die Wahl hätten, ob sie den Zinstatbestand verwirklichen oder ob sie die Steuerschuld tilgen und sich im Bedarfsfall die erforderlichen Geldmittel zur Begleichung der Steuerschuld anderweitig zu günstigeren Konditionen beschafften9, müsse im Hauptsacheverfahren geklärt werden, welche Bedeutung diesen Überlegungen in Bezug auf die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des § 240 AO zukomme.
Der Bundesfinanzhof schließt sich diesen Ausführungen an und teilt daher bei der gebotenen summarischen Prüfung die ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 240 AO. Denn es ist in der Rechtsprechung und überwiegend auch im Schrifttum anerkannt, dass Säumniszuschlägen auch die Funktion einer Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern zukommt10. Der Umstand, dass Säumniszuschläge nicht ausschließlich zinsähnlichen Charakter haben, sondern ihnen auch die Funktion eines Druckmittels zukommt, das den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Zahlung fälliger Steuern anhalten, also verhaltenslenkend wirken, und zugleich entstandenen Verwaltungsaufwand ausgleichen soll, steht der Annahme ernstlicher Zweifel in Bezug auf die Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO nicht entgegen. Vielmehr führt das Bestehen ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe in § 240 Abs. 1 Satz 1 AO dazu, dass die streitgegenständlichen Säumniszuschläge in voller Höhe von der Vollziehung auszusetzen sind, da es keine Teilverfassungswidrigkeit in Bezug auf einen bestimmten Zweck einer Norm gibt11.
Anders als das Finanzamt meint, hat das Finanzgericht zu Recht auch ein berechtigtes Interesse der Antragsteller an der AdV der angefochtenen Abrechnungsbescheide bejaht. Dabei kann offen bleiben, ob es in den Fällen, in denen die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts auf verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Gültigkeit der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm beruhen, eines besonderen Aussetzungsinteresses bedarf12. Jedenfalls im Streitfall fällt die Interessenabwägung zugunsten der Antragsteller aus. Bei dieser Abwägung hat sich der Bundesfinanzhof davon leiten lassen, dass die Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit hinsichtlich der Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 AO von hinreichendem Gewicht sind, zumal die Entscheidung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der Zinshöhe nach § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO13 bei der gebotenen summarischen Prüfung auch eine Überprüfung und ggf. Anpassung des in den Säumniszuschlägen enthaltenen Zinsanteils erforderlich erscheinen lässt14. Außerdem ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass die Gewährung der AdV im Streitfall das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung berühren könnte. Angesichts dessen ist dem Interesse der Antragsteller an einer AdV der angefochtenen Abrechnungsbescheide Vorrang zu geben.
Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 04.05.202215 zur Unzulässigkeit einer Richtervorlage hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit der Säumniszuschläge nach § 193 Abs. 6 Satz 2 des Gesetzes über den Versicherungsvertrag (VVG) folgt für den Streitfall nichts anderes. Das Bundesverfassungsgericht hat seine Entscheidung maßgeblich damit begründet, das vorlegende Gericht habe bereits nicht hinreichend i.S. des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG dargelegt, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG im Ausgangsverfahren entscheidungserheblich sei und inwiefern von der Verfassungswidrigkeit dieser Norm ausgegangen werden könne16. Ein entscheidungstragender Rechtssatz, dass die Grundsätze der Rechtsprechung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der Verzinsung von Steuernachforderungen und -erstattungen i.S. des § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO13 in der Sache nicht auf einen in den Säumniszuschlägen gemäß § 240 AO enthaltenen Zinsanteil zu übertragen seien, kann der Entscheidung nach Auffassung des Bundesfinanzhofs nicht entnommen werden.
Der hier entscheidende VIII. Senat des Bundesfinanzhofs weicht mit dieser Entscheidung nach eigener Einschätzung auch nicht i.S. von § 11 Abs. 2 FGO von der Entscheidung des II. Senats des Bundesfinanzhofs vom 20.09.202217 ab. Zwar hat der II. Senat des Bundesfinanzhofs dort die Gewährung der AdV eines Abrechnungsbescheids über Säumniszuschläge zur Grunderwerbsteuer mit der Begründung abgelehnt, dass sich im Hinblick auf die zwischenzeitlich ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts18.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 11. November 2022 – VIII B 64/22 (AdV)
- Anschluss an BFH, Beschlüsse vom 23.05.2022 – V B 4/22 (AdV); und vom 31.08.2021 – VII B 69/21 (AdV).[↩]
- FG Münster, Beschluss vom 25.04.2022 – 12 – V 570/22 AO, EFG 2022, 1083[↩]
- ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH, Beschlüsse vom 30.03.2021 – V B 63/20 (AdV), BFH/NV 2021, 1212; und vom 08.04.2009 – I B 223/08, BFH/NV 2009, 1437[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 15.04.2020 – IV B 9/20 (AdV), BFH/NV 2020, 919, m.w.N.[↩]
- ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH, Beschluss vom 04.07.2019 – VIII B 128/18, BFH/NV 2019, 1060, m.w.N.[↩]
- BVerfGE 158, 282[↩]
- BVerfG, Beschluss in BVerfGE 158, 282, Rz 241 f.[↩]
- vgl. BFH, Beschlüsse vom 31.08.2021 – VII B 69/21 (AdV), unter Hinweis u.a. auf BFH, Beschluss vom 14.04.2020 – VII B 53/19, BFH/NV 2021, 177; BFH, Beschluss vom 23.05.2022 – V B 4/22 (AdV), BFH/NV 2022, 1030[↩]
- BVerfG, Beschluss in BVerfGE 158, 282, Rz 243[↩]
- vgl. z.B. BFH, Urteile vom 30.06.2020 – VII R 63/18, BFHE 270, 7, BStBl II 2021, 191, Rz 23; vom 17.09.2019 – VII R 31/18, BFHE 266, 113, Rz 22; und vom 24.04.2014 – V R 52/13, BFHE 245, 105, BStBl II 2015, 106, Rz 13; Koenig/Koenig, Abgabenordnung, 4. Aufl., § 240 Rz 3; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rz 13; Haselmann/Maciejewski, Die Unternehmensbesteuerung 2022, 422, 427 f.; Steck, Deutsche Steuer-Zeitung 2019, 143, 144 ff.[↩]
- vgl. bereits BFH, Beschluss in BFH/NV 2019, 1060, Rz 16 zu ernstlichen Zweifeln bei Aussetzungszinsen; gleicher Ansicht BFH, Beschluss in BFH/NV 2022, 1030, Rz 47 zu Säumniszuschlägen[↩]
- vgl. zum Streitstand BFH, Beschluss in BFH/NV 2022, 1030, Rz 22 f., m.w.N.; vgl. auch BVerfG, Beschlüsse vom 24.10.2011 – 1 BvR 1848/11, 1 BvR 2162/11, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung -HFR- 2012, 89, Rz 4; und vom 06.05.2013 – 1 BvR 821/13, HFR 2013, 639, Rz 7[↩]
- BVerfG, Beschluss in BVerfGE 158, 282[↩][↩]
- vgl. aber Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung, BR-Drs. 157/22, S. 6[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 04.05.2022 – 2 BvL 1/22, BFH/NV 2022, 895[↩]
- BVerfG, Beschluss in BFH/NV 2022, 895, Rz 20 ff. und 25 ff.[↩]
- BFH, Beschluss vom 20.09.2022 – II B 3/22 (AdV), BB 2022, 23892[↩]
- BVerfG, BFH/NV 2022, 895, Rz 18== ein Gleichlauf der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Höhe von Zinsen nach § 233a AO und von Säumniszuschlägen nach § 240 AO verbiete. Eine Anrufung des Großen Senats des Bundesfinanzhofs wegen einer Rechtsfrage im Verfahren der AdV, in dem die Rechtsfrage nicht abschließend zu beantworten ist, kommt jedoch nicht in Betracht ((BFH, Beschluss vom 15.04.2010 – IV B 105/09, BFHE 229, 199, BStBl II 2010, 971[↩]