Der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid – und die gesonderte Verlustfeststellung

Das Finanzamt ist nicht gehindert, bei der materiell-rechtlich zutreffenden Ermittlung des verbleibenden Verlustvortrags die „nach Absatz 2 abziehbaren Beträge“ (§ 10d Abs. 4 Satz 2 EStG) ohne Bindung an einen bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid neu zu bestimmen und die dabei festgestellten materiell-rechtlichen Fehler im Rahmen der Änderung des Verlustfeststellungsbescheids zu korrigieren.

Der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid – und die gesonderte Verlustfeststellung

Nach § 177 Abs. 2 AO muss das Finanzamt, wenn die Voraussetzungen für die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids zu Gunsten des Steuerpflichtigen vorliegen, alle materiellen Fehler berichtigen, die nicht Anlass für die Aufhebung oder Änderung sind, soweit die Änderung reicht. Entsprechendes gilt für Feststellungsbescheide, soweit sie Folgebescheid sind (§ 181 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 177 AO).

Der Einkommensteuerbescheid ist nicht Grundlagenbescheid für den Verlustfeststellungsbescheid.

Eine inhaltliche Bindung an den Einkommensteuerbescheid ergibt sich auch nicht aus § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG (a.F.). Auf diese Norm kommt es zudem nicht an, denn die Befugnis zur Änderung des Verlustfeststellungsbescheids ergibt sich aus § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO.

Zum Umfang der Saldierung nicht im bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid enthaltener Verluste verhält sich § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG a.F. nicht und hat hierauf auch keinen Einfluss. Das Finanzamt ist folglich nicht gehindert, bei der materiell-rechtlich zutreffenden Ermittlung des verbleibenden Verlustvortrags die „nach Absatz 2 abziehbaren Beträge“ (§ 10d Abs. 4 Satz 2 EStG) ohne Bindung an den Einkommensteuerbescheid neu zu bestimmen und die dabei festgestellten materiell-rechtlichen Fehler im Rahmen der Änderung des Verlustfeststellungsbescheids zu korrigieren. Dabei ist nicht erheblich, dass sich die Änderungen auf die Einkommensteuer des betreffenden Jahres nicht mehr auswirken konnten.

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Klagebefugnis eines Feststellungsbeteiligten,

Für die Saldierung nach § 177 Abs. 2 AO bedarf es keiner eigenen Änderungsnorm; die Saldierung findet vielmehr im Rahmen der durch eine andere Norm eröffneten Korrektur statt (hier: § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO). Die vom Finanzamt festgestellten Fehler bei der Ermittlung der negativen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung waren nicht der Anlass für die Aufhebung oder Änderung des Feststellungsbescheids.

Das Finanzamt ist berechtigt und verpflichtet, den Verlustfeststellungsbescheid zu Gunsten des Steuerpflichtigen zu ändern und dabei materielle Fehler zu saldieren. Diese Befugnis schließt auch den Abzug des bisher nicht berücksichtigten Verlustabzugs im jeweiligen Veranlagungszeitraum ein.

Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass der Einkommensteuerbescheid für dieses Jahr bereits bestandskräftig und festsetzungsverjährt war. Das Verfahren der gesonderten Verlustfeststellung ist ein selbständiges Verfahren1. Für den Verlustfeststellungsbescheid gilt eine eigene Feststellungsfrist.

Die Feststellungsfrist (§ 181 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. §§ 169 ff. AO) war im hier entschiedenen Fall insofern gehemmt bis zum Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe des Grundlagenbescheids (§ 171 Abs. 10 Satz 1 AO), hier der Einspruchsentscheidung über den Verlustfeststellungsbescheid zum 31.12. des Vorjahres. Die Feststellungsfrist für den streitgegenständlichen Bescheid lief folglich erst später als für den Einkommensteuerbescheid ab und wurde vorliegend durch den Änderungsbescheid gewahrt.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 11. April 2017 – IX R 22/16

  1. vgl. BFH, Urteil vom 14.07.2009 – IX R 52/08, BFHE 225, 453, BStBl II 2011, 26[]
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