Mit der Frage des Missbrauchs rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit Wertpapierdarlehensgeschäften eines Versicherungsunternehmens hatte sich aktuell der Bundesfinanzhof zu befassen:

Für die vor dem 01.01.2008 getätigten Vertragsabschlüsse über Wertpapierdarlehen kommt § 42 AO i.d.F. des Gesetzes zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Steueränderungsgesetz 2001) vom 20.12.20011 -AO a.F.- zur Anwendung. Nach dessen Abs. 1 kann durch Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts das Steuergesetz nicht umgangen werden (Satz 1); liegt ein Missbrauch vor, so entsteht der Steueranspruch so, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht (Satz 2). Ein Gestaltungsmissbrauch in diesem Sinne ist nach der Rechtsprechung gegeben, wenn eine rechtliche Gestaltung gewählt wird, die -gemessen an dem erstrebten Ziel- unangemessen ist, der Steuerminderung dienen soll und durch wirtschaftliche oder sonst beachtliche nichtsteuerliche Gründe nicht zu rechtfertigen ist2. Eine rechtliche Gestaltung ist unangemessen, wenn der Steuerpflichtige die vom Gesetzgeber vorausgesetzte Gestaltung zur Erreichung eines bestimmten wirtschaftlichen Ziels nicht gebraucht, sondern dafür einen ungewöhnlichen Weg wählt, auf dem nach den Wertungen des Gesetzgebers das Ziel nicht erreichbar sein soll. Allein das Motiv, Steuern zu sparen, macht eine Gestaltung allerdings nicht unangemessen3.
Das Finanzgericht Nürnberg hat die vom Wertpapierdarlehensgeber gewährten Wertpapierdarlehen erstinstanzlich nicht als unangemessene Gestaltungen angesehen, weil der Wertpapierdarlehensgeber damit auch beachtliche wirtschaftliche Zwecke -nämlich die Erwirtschaftung von Gewinnen in Form der „Leihgebühren“- verfolgt habe, die er auf anderem Wege nicht hätte erreichen können4. Dem ist insbesondere vor dem Hintergrund beizupflichten, dass es sich sowohl beim Wertpapierdarlehensgeber als Versicherungsunternehmen als auch bei den Banken auf der Vertragsgegenseite um institutionelle Wertpapieranleger gehandelt hat und Wertpapierdarlehen -ebenso wie die wesensverwandten Wertpapierpensionsgeschäfte i.S. von § 340b HGB- im Geschäftsverkehr solcher Unternehmen nicht unüblich sind und für beide Vertragsteile durchaus auch außersteuerliche wirtschaftliche Beweggründe haben können5. Im Streitfall spricht hierfür des Weiteren der Umstand, dass nach den Feststellungen des Finanzgericht der Wertpapierdarlehensgeber in den Streitjahren in erheblichem Umfang auch Wertpapierdarlehen über Aktien ausgereicht hat, die nicht im Teilwert gemindert waren und hinsichtlich derer folglich keine vergleichbaren steuerlichen Vorteile im Raum gestanden haben. Gemessen an den eingenommenen Leihgebühren haben jene Wertpapierdarlehen in jedem der Streitjahre sogar ein größeres Volumen gehabt als die hier streitgegenständlichen Darlehen.
Die Behauptung des Finanzamtes, die Wertpapierdarlehen seien ohne den Gesichtspunkt der Steuerersparnis wirtschaftlich sinnlos, steht demnach im Widerspruch zu den Feststellungen der Vorinstanz. Soweit das Finanzamt die Feststellung des Finanzgericht in Zweifel zieht, der Wertpapierdarlehensgeber habe mit den Wertpapierdarlehen insgesamt Gewinne erwirtschaftet, kann es damit nicht durchdringen. Das Finanzgericht hat im Rahmen seiner Beweiswürdigung -an die der Bundesfinanzhof gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden ist- ausgeführt, es folge den aus seiner Sicht glaubhaften Angaben des Wertpapierdarlehensgebers, denen zufolge im Zusammenhang mit den Aktiendarlehen ab 2006 keine Kosten für im Ausland verwahrte Aktien mehr angefallen seien; auch sonst seien keine den Aktiendarlehen direkt zuordenbaren Kosten ersichtlich. Das gegenteilige Vorbringen des Finanzamtes in der Revisionsbegründung, es müsse aufgrund der Vielzahl von Einzelabschlüssen „denknotwendig“ von weiteren Kosten ausgegangen werden, ist zur Darlegung einer fehlenden Gewinnerzielung zu unspezifisch. Verfahrensrügen im Zusammenhang mit der Sachverhaltswürdigung -etwa eine unzureichende Sachaufklärung (Verstoß gegen § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO)- hat das Finanzamt nicht erhoben. Im Übrigen ist nichts dafür ersichtlich, dass die (mit dem Wertpapierdarlehensgeber nicht verbundenen) Banken die Darlehensgeschäfte mit dem Wertpapierdarlehensgeber aus außerwirtschaftlichen Gründen abgeschlossen haben könnten.
Für die ab dem 01.01.2008 getätigten Vertragsabschlüsse ist § 42 AO i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2008 (JStG 2008) vom 20.12.20076 -AO n.F.- anwendbar (Art. 97 § 7 Satz 1 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung i.d.F. des JStG 2008). § 42 Abs. 2 AO n.F. enthält erstmals eine gesetzliche Umschreibung des Missbrauchstatbestands. Danach liegt ein Missbrauch vor, wenn eine unangemessene rechtliche Gestaltung gewählt wird, die beim Steuerpflichtigen oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt (Satz 1); dies gilt nicht, wenn der Steuerpflichtige für die gewählte Gestaltung außersteuerliche Gründe nachweist, die nach dem Gesamtbild der Verhältnisse beachtlich sind (Satz 2). Da diese Definition im Kern auf der oben dargestellten Rechtsprechung zu § 42 AO a.F. beruht7, ergibt sich im Streitfall für die Missbrauchsprüfung in Bezug auf das Streitjahr 2008 kein von den Vorjahren abweichendes Ergebnis.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 29. September 2021 – I R 40/17
- BGBl I 2001, 3794, BStBl I 2002, 4[↩]
- BFH, Urteile vom 09.06.2021 – I R 52/17; vom 18.12.2013 – I R 25/12, BFH/NV 2014, 904; BFH, Urteil vom 21.08.2012 – VIII R 32/09, BFHE 239, 31, BStBl II 2013, 16[↩]
- BFH, Urteil vom 09.06.2021 – I R 52/17; BFH, Urteil in BFHE 239, 31, BStBl II 2013, 16[↩]
- FG Nürnberg, Urteil vom 13.12.2016 – 1 K 1214/14[↩]
- vgl. z.B. Kümpel, Wertpapier-Mitteilungen Teil – IV 1990, 909; Dörge, Die Aktiengesellschaft 1997, 396[↩]
- BGBl I 2007, 3150, BStBl I 2008, 218[↩]
- s. dazu BT-Drs. 16/7036, S. 24; Hahn, DStZ 2008, 491; Drüen in Tipke/Kruse, Vor § 42 AO Rz 15 ff.[↩]