Der Investitionszulagenbescheid und die nachträgliche Inanspruchnahme von erhöhten Absetzungen

Die Änderung eines bestandskräftigen Investitionszulagenbescheids nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO wegen des Eintritts des nach § 3 Abs. 1 Satz 2 InvZulG 1999 rückwirkenden Ereignisses der „Inanspruchnahme erhöhter Absetzungen“ für die nachträglichen Herstellungsarbeiten ist ab dem Zeitpunkt möglich, in dem das Finanzamt einen Bescheid bekanntgegeben hat, der die erhöhten Absetzungen erstmals steuerlich berücksichtigt.

Der Investitionszulagenbescheid und die nachträgliche Inanspruchnahme von erhöhten Absetzungen

Das Finanzamt ist zur Aufhebung des Festsetzungsbescheids für die Investitionszulage 2000 vom 06.07.2001 nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO berechtigt, soweit ein Ereignis eingetreten ist, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Ein rückwirkendes Ereignis liegt vor, wenn der nach dem Steuertatbestand rechtserhebliche Sachverhalt sich später anders gestaltet und sich steuerlich in der Weise in die Vergangenheit auswirkt, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist1. Eine andere rechtliche Beurteilung des unverändert bleibenden Sachverhalts genügt insoweit nicht. Ob einer nachträglichen Änderung des Sachverhalts rückwirkende steuerliche Bedeutung zukommt, also bereits eingetretene steuerliche Rechtsfolgen mit Wirkung für die Vergangenheit sich ändern oder vollständig entfallen, ist den Normen des materiellen Steuerrechts zu entnehmen2.

Ob § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO in Anlehnung an das für § 173 AO entwickelte Kriterium der Rechtserheblichkeit darüber hinaus voraussetzt, dass die wirkliche Ursache der beabsichtigten Änderung des Bescheids allein der durch das rückwirkende Ereignis veränderte Sachverhalt und nicht auch eine geänderte Rechtsauslegung ist, kann der Bundesfinanzhof dahingestellt sein lassen. Denn selbst wenn man hiervon ausginge, ist die Annahme, dass es im Streitfall an dieser Ursächlichkeit fehle, nicht gerechtfertigt.

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Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs3 zu § 173 AO scheidet eine Änderung nach dieser Norm aus, wenn die Unkenntnis der später bekanntgewordenen Tatsache für die ursprüngliche Veranlagung nicht ursächlich (rechtserheblich) gewesen ist, weil das Finanzamt auch bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsache mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu keiner anderen Steuerfestsetzung gelangt wäre. Dabei ist die Frage, wie das Finanzamt bei Kenntnis bestimmter Tatsachen und Beweismittel einen Sachverhalt in seinem ursprünglichen Bescheid gewürdigt hätte, im Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es nach der damaligen Rechtsprechung des BFH ausgelegt wurde, und den die FÄ bindenden Verwaltungsanweisungen zu beurteilen, die im Zeitpunkt des ursprünglichen Bescheiderlasses durch das Finanzamt gegolten haben. Das mutmaßliche Verhalten des einzelnen Sachbearbeiters und seine individuellen Rechtskenntnisse sind hingegen für die Frage, ob die Veränderung im Tatsächlichen oder in der rechtlichen Beurteilung liegt, aus gleichheitsrechtlichen Erwägungen ohne Bedeutung. Subjektive Fehler der FÄ und damit des einzelnen Bearbeiters, wie sie sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht denkbar sein mögen, sind für die Beurteilung der Rechtserheblichkeit einer nachträglich bekanntgewordenen Tatsache unbeachtlich4.

Das für die Frage, ob einer nachträglichen Änderung des Sachverhalts rückwirkende steuerliche Bedeutung zukommt, maßgebliche materielle Recht stellt in § 3 Abs. 1 Satz 2 InvZulG 1999 darauf ab, dass nachträgliche Herstellungsarbeiten an Gebäuden, die vor dem 1.01.1991 fertiggestellt wurden, nur dann zulagenbegünstigt sind, wenn u.a. der Anspruchsberechtigte für die Herstellungsarbeiten keine erhöhten Absetzungen in Anspruch nimmt. Die nach Festsetzung der Investitionszulage erfolgende Inanspruchnahme erhöhter Absetzungen für die nachträglichen Herstellungsarbeiten bewirkt daher einen Verstoß gegen das Kumulationsverbot des § 3 Abs. 1 Satz 2 InvZulG 1999, der rückwirkend den Anspruch auf die Investitionszulage entfallen lässt.

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Hinsichtlich der Reichweite dieses Kumulationsverbots galt bereits nach den durch das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 24. August 19985 gegebenen Anwendungshinweisen, dass das Kumulationsverbot sich nur auf „dieselben nachträglichen Herstellungsarbeiten“ bezieht. Erläuternd wurde ein Beispiel angefügt, wonach etwa die Inanspruchnahme erhöhter Absetzungen nach § 7h EStG für die Aufwendungen zur Sanierung der Gebäudefassade die Gewährung von Investitionszulage für die Aufwendungen zur Neueindeckung des Daches nicht ausschließt. Zwar war in diesem BMF-Schreiben der in das BMF-Schreiben vom 28. Februar 20036 aufgenommene Hinweis, wonach dies nicht gelte, wenn es sich um eine einheitliche Baumaßnahme, d.h. um in einem engen räumlichen, zeitlichen und sachlichen (d.h. bautechnisch ineinander greifenden) Zusammenhang erfolgende Einzelmaßnahmen, handele, noch nicht enthalten. Die Frage, ob es sich um „dieselben nachträglichen Herstellungsarbeiten“ handelte oder um verschiedene, stellte sich jedoch bereits nach dem BMF-Schreiben in BStBl I 1998, 1114. Da für diese Abgrenzung weder eine nähere Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs noch genauere Verwaltungshinweise existierten, lag es nahe, auf die ähnlich gelagerte Abgrenzungsproblematik zwischen Erhaltungsmaßnahmen und nachträglichen Herstellungskosten zurückzugreifen. Hierzu hatte der BFH bereits entschieden, dass Herstellungskosten auch Kosten für Baumaßnahmen sein können, die für sich gesehen zwar als Erhaltungsmaßnahmen zu beurteilen wären, die jedoch mit reinen Herstellungsmaßnahmen in einem engen räumlichen, zeitlichen und sachlichen Zusammenhang stehen, so dass beide in ihrer Gesamtheit eine einheitliche Baumaßnahme bilden7. Einen sachlichen Zusammenhang nahm der BFH an, wenn die einzelnen Baumaßnahmen bautechnisch ineinandergreifen8. Entsprechend wurde auch bereits weit vor Veröffentlichung des BMF-Schreibens in BStBl I 2003, 218 im Fachschrifttum die Auffassung vertreten, dass bei der Prüfung der Selbständigkeit der einzelnen Maßnahmen die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien zur Abgrenzung von Herstellungskosten und Erhaltungsaufwand anwendbar seien; deshalb seien bei einem fehlenden bautechnischen Zusammenhang auch zeitgleich durchgeführte Maßnahmen in verschiedene Herstellungs- und Erhaltungsmaßnahmen aufzuteilen9. Nichts anderes ergibt sich aus der von der Klägerin zitierten Literaturmeinung10, da diese sich mit der Frage, wann „dieselben nachträglichen Herstellungsarbeiten“ vorliegen, nicht auseinandersetzt.

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Insoweit könnte daher selbst dann, wenn man auch im Rahmen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO das Kriterium der Rechtserheblichkeit bzw. Ursächlichkeit prüfen würde, nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass das Finanzamt das rückwirkende Ereignis der Inanspruchnahme erhöhter Absetzungen bereits bei Erlass der ursprünglichen Bescheide entsprechend den in Rz 11 des BMF-Schreibens in BStBl I 2003, 218 zum Ausdruck kommenden Grundsätzen gewürdigt hätte. Dass ein einzelner Bearbeiter des Finanzamt nach seiner individuellen Beurteilung den Fall möglicherweise anders beurteilt hätte, wie dies das Finanzgericht unter Bezugnahme auf einen in den Akten befindlichen –mutmaßlich erst im Zusammenhang mit dem Erlass der Aufhebungsbescheide gefertigten– handschriftlichen Vermerk festgestellt hat, ist nach den oben dargelegten Grundsätzen ohne Bedeutung.

Nach § 175 Abs. 1 Satz 2 AO beginnt die Festsetzungsfrist für den Erlass eines Änderungsbescheids in den Fällen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem das Ereignis eintritt. Die nach der maßgeblichen materiell-rechtlichen Regelung des § 3 Abs. 1 Satz 2 InvZulG 1999 erforderliche Inanspruchnahme der erhöhten Absetzungen für die nachträglichen Herstellungsarbeiten liegt in der vorliegenden Fallkonstellation erst mit der Entscheidung des Finanzamt über die beantragte erhöhte Absetzung vor. Sie erfolgt durch Bekanntgabe des Bescheids, in dem die erhöhten Absetzungen erstmals steuerliche Berücksichtigung finden. Dies ergibt sich daraus, dass durch die bloße Antragstellung des Steuerpflichtigen noch nicht darüber entschieden ist, ob überhaupt ein Anspruch auf die erhöhten Absetzungen besteht. Würde man hingegen der Auffassung der Klägerin folgen, wonach bereits die Geltendmachung der erhöhten Absetzungen gegenüber dem Finanzamt eine „Inanspruchnahme“ darstelle, könnte das Finanzamt die Festsetzung der Investitionszulage bereits bei Eingang der entsprechenden Einkommensteuer- bzw. Körperschaftsteuererklärung aufheben, obwohl es möglicherweise später die erhöhten Absetzungen nicht gewährt.

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Somit kann das Finanzamt auch erst bei Bekanntgabe des Bescheids, in dem über die Inanspruchnahme der erhöhten Absetzungen entschieden wird, darüber befinden, ob zu Unrecht für dieselben nachträglichen Herstellungskosten Investitionszulage bewilligt wurde.

Die Frage, ob nachträgliche Herstellungsarbeiten vorliegen, hat das Finanzgericht in eigener Zuständigkeit ohne Bindung an die im Verfahren über die Festsetzung der Körperschaftsteuer durch das Finanzamt getroffenen Feststellungen zu prüfen. Kommt es danach zu dem Ergebnis, dass es sich bei einzelnen Baumaßnahmen nicht um Herstellungs-, sondern um Erhaltungsarbeiten i.S. des § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 InvZulG 1999 handelte, ist insoweit eine Änderung des Investitionszulagenbescheids mangels Eingreifens des Kumulationsverbots auch dann ausgeschlossen, wenn das Finanzamt für diese Arbeiten zu Unrecht keinen Sofortabzug, sondern erhöhte Absetzungen gewährt hat. Soweit die Klägerin die erhöhten Absetzungen auch nur für einen Teil der durch eine bestimmte, abgrenzbare Baumaßnahme entstandenen nachträglichen Herstellungskosten in Anspruch genommen haben sollte, würde das Kumulationsverbot die Inanspruchnahme von Investitionszulage für diese Baumaßnahme insgesamt ausschließen.

Hinsichtlich der Abgrenzung zwischen nachträglichen Herstellungsarbeiten und Erhaltungsarbeiten wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf das BFH-Urteil vom 22. Dezember 201111 verwiesen, ebenso für die Frage, ob mehrere Herstellungsarbeiten so ineinandergreifen, dass von einer mangelnden Abgrenzbarkeit ausgegangen werden muss12.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 26. Juli 2012 – III R 72/10

  1. BFH, Beschluss vom 19.07.1993 – GrS 2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897[]
  2. z.B. BFH, Urteil vom 09.11.2011 – VIII R 18/08, BFH/NV 2012, 370[]
  3. BFH, Urteil vom 22.04.2010 – VI R 40/08, BFHE 229, 57, BStBl II 2010, 951, m.w.N.[]
  4. BFH, Urteil in BFHE 229, 57, BStBl II 2010, 951, m.w.N.[]
  5. BMF, Schreiben vom 24.08.1998 – IV B 3 -InvZ 1010- 10/98, BStBl I 1998, 1114, Rz 3[]
  6. BMF, Schreiben vom 28.02.2003 – IV A 5 -InvZ 1272- 6/03, BStBl I 2003, 218, Rz 11 i.V.m. Rz 28[]
  7. z.B. BFH, Urteile vom 09.05.1995 – IX R 116/92, BFHE 177, 454, BStBl II 1996, 632, m.w.N.; vom 16.07.1996 – IX R 34/94, BFHE 181, 50, BStBl II 1996, 649, m.w.N.[]
  8. BFH, Urteil in BFHE 181, 50, BStBl II 1996, 649, m.w.N.[]
  9. Urban, DStZ 1998, 380, 383 f.[]
  10. Semmler, BB 2000, 329[]
  11. BFH, Urteil vom 22.12.2011 – III R 37/09, BFHE 236, 179, BFH/NV 2012, 1069 Rz 24 ff.[]
  12. BFH, Urteil in BFHE 236, 179, BFH/NV 2012, 1069 Rz 35 ff.[]
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