Die wesentliche Beteiligung – ein veranlagungszeitraumbezogener Begriff?

Die Beteiligungsbegriff gemäß § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG (i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002) ist veranlagungszeitraumbezogen auszulegen, indem das Tatbestandsmerkmal „innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt“ in § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG für jeden abgeschlossenen Veranlagungszeitraum nach der in diesem Veranlagungszeitraum jeweils geltenden Beteiligungsgrenze zu bestimmen ist.

Die wesentliche Beteiligung – ein veranlagungszeitraumbezogener Begriff?

Das entschied jetzt der Bundesfinanzhof in einem Fall, in dem der Steuerpflichtige seine Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft im Dezember 1999 veräußerte. Er war zu 9,22% an der AG beteiligt und in den Jahren zuvor bis zu 13,52%. Nach § 17 Abs. 1 EStG waren Anteilsveräußerungen steuerbar, wenn der Veräußerer innerhalb der letzten 5 Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt war. Das StEntlG 1999/2000/2002 hatte die Wesentlichkeitsgrenze mit Wirkung vom 1. Januar 1999 von mehr als 25% auf mindestens 10% herabgesetzt. Aufgrund der Rückwirkungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts erfassten Finanzamt und Finanzgericht Wertsteigerungen ab dem 31. März 1999 bis zur Veräußerung. Aber waren Gewinne zu erfassen, obschon der Steuerpflichtige in den jeweiligen Veranlagungszeiträumen nie wesentlich beteiligt war?

Der Bundesfinanzhof verneint diese Frage. Er legt den Beteiligungsbegriff veranlagungszeitraumbezogen aus. Die Wesentlichkeitsgrenze von mindestens 10% galt nach der Anwendungsvorschrift des § 52 Abs. 1 EStG erstmals für den Veranlagungszeitraum 1999. Daraus folgt umgekehrt zugleich, dass sie für frühere Veranlagungszeiträume nicht anwendbar war. Deshalb war die Veräußerung im Streitfall nicht zu besteuern: Der Steuerpflichtige war vor 1999 mit höchstens 13,52% nicht mehr als 25% und ab 1999 mit 9,22% nicht zu mindestens 10% und damit nie wesentlich am Kapital der AG beteiligt gewesen. Diese Auslegung vermeidet von vornherein eine Rückwirkung des Gesetzes. Sie ist nicht auf die geltende Rechtslage zu § 17 Abs. 1 EStG übertragbar, die keine Wesentlichkeitsgrenze mehr kennt.

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Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG gehört zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb auch die Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, wenn der Veräußerer innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt war. Eine wesentliche Beteiligung ist gegeben, wenn der Veräußerer an der Gesellschaft zu mindestens 10 % unmittelbar oder mittelbar beteiligt war (§ 17 Abs. 1 Satz 4 EStG).

Diese Fassung des Gesetzes ist gemäß § 52 Abs. 1 EStG erstmals für den Veranlagungszeitraum 1999 anzuwenden. Veräußert jemand im Jahr 1999 eine Beteiligung von 10 %, ist dieser Vorgang steuerbar. Veräußert er allerdings eine Beteiligung von –wie im Streitfall– unter 10 %, liegt ein steuerbares Veräußerungsgeschäft nur vor, wenn er innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt war. Da die Wesentlichkeitsgrenze von 10 % nach § 52 Abs. 1 EStG erstmals für den Veranlagungszeitraum 1999 gilt, folgt daraus umgekehrt zugleich, dass sie für frühere Veranlagungszeiträume nicht anwendbar ist. Deshalb ist es unerheblich, ob der Steuerpflichtige, der im Jahr 1999 eine Beteiligung unter 10 % veräußert, innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft über 10 %, aber bis einschließlich 25 % beteiligt war. Denn in den Veranlagungszeiträumen vor 1999 war eine wesentliche Beteiligung nur dann gegeben, wenn der Veräußerer an der Gesellschaft zu mehr als einem Viertel unmittelbar oder mittelbar beteiligt war (so § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG in früheren Fassungen).

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Diesem sog. veranlagungszeitraumbezogenen Beteiligungsbegriff1, der sich –wie gezeigt– aus dem Wortlaut der einschlägigen Normen erschließt2, widerspricht entgegen der Auffassung des Bundesministeriums der Finanzen nicht die Entwurfsbegründung, ist doch danach „eine wesentliche Beteiligung“ eben erst „künftig“ bereits gegeben, wenn der Gesellschafter mindestens 10 % der Anteile an der Kapitalgesellschaft hält3. Der Veranlagungszeitraumbezug der Wesentlichkeitsgrenze entsprach überdies der überwiegenden Auffassung im Schrifttum, indes nicht der damaligen Rechtsprechung des BFH4. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Urteil aber mit seinem Beschluss in BVerfGE 127, 61 ff., BStBl II 2011, 86 aufgehoben. Damit ist dieses Urteil nicht mehr existent und die dort entschiedene Rechtsfrage wieder offen.

Der Bundesfinanzhof beantwortet sie in dem Sinne, dass der Beteiligungsbegriff veranlagungszeitraumbezogen auszulegen ist, indem das Tatbestandsmerkmal „innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt“ in § 17 Abs. 1 EStG für jeden abgeschlossenen Veranlagungszeitraum nach der in diesem Veranlagungszeitraum jeweils geltenden Beteiligungsgrenze zu bestimmen ist5.

Dem entspricht der vom Bundesverfassungsgericht6 hervorgehobene Zweck der Veräußerungsgewinnbesteuerung: Die Besteuerung ist danach nicht deshalb auf die Realisation bezogen, weil erst zu diesem Zeitpunkt der Wertzuwachs entsteht, sondern obwohl er bereits vorher beim Steuerpflichtigen entstanden ist. Es wird also im Zeitpunkt der Realisation ein über den vorangegangenen Zeitraum akkumulierter Zuwachs an Leistungsfähigkeit nachholend der Besteuerung unterworfen. Auf die bloß formale Zuordnung des Veräußerungsgewinns zu einem bestimmten Veranlagungszeitraum kommt es daher nicht an, sondern maßgeblich ist, dass sich die höhere Leistungsfähigkeit, auf die mit der steuerlichen Erfassung des Veräußerungsgewinns zugegriffen wird, materiell auf den gesamten Zeitraum zwischen Anschaffung und Veräußerung bezieht7. Unter dieser Prämisse eines steuerbaren Zuwachses an Leistungsfähigkeit muss die sog. latente Verstrickung irgendwann einmal aktuell geworden sein. Wenn es auf die „formale Zuordnung des Veräußerungsgewinns zu einem bestimmten Veranlagungszeitraum“ nicht ankommt, so kann auch nicht entscheidend sein, ob der Steuerpflichtige allein aus der Retrospektive dieses Zeitraums früher einmal wesentlich und damit steuerbar beteiligt war, ohne es aber während des Zuwachses an Leistungsfähigkeit je gewesen zu sein8.

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Diesen Zusammenhang verstärkt folgender Aspekt: Wenn das Bundesverfassungsgericht im o.g. Beschluss mit Gesetzeskraft9 entschieden hat, dass § 17 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. § 52 Abs. 1 Satz 1 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 nichtig ist, soweit in einem Veräußerungsgewinn Wertsteigerungen steuerlich erfasst werden, die bis zur Verkündung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 am 31.03.1999 entstanden sind und die –so wie auch im Streitfall– bei einer Veräußerung nach Verkündung des Gesetzes sowohl zum Zeitpunkt der Verkündung als auch zum Zeitpunkt der Veräußerung nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei hätten realisiert werden können, so kann es nicht rückwirkend auf eine Beteiligungsgrenze ankommen, die der Steuerpflichtige allein in dem Zeitraum verwirklicht hat, in dem ein Wertzuwachs nicht steuerbar war.

Entgegen der Auffassung der Finanzverwaltung hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss in BVerfGE 127, 61 ff., BStBl II 2011, 86 keine Stellung zu dem Tatbestandsmerkmal des § 17 Abs. 1 EStG bezogen, um das es hier geht. Es hat vielmehr allgemeine Maßstäbe zu den Grundsätzen des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes entwickelt und hat das einfache Recht nicht ausgelegt10.

Die Interpretation des Gesetzes durch den Bundesfinanzhof vermeidet, dass das Gesetz überhaupt zurückwirkt. Sie ist entgegen der in der mündlichen Verhandlung vom Finanzamt hervorgehobenen Auffassung mit dem Fünf-Jahreszeitraum des § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG vereinbar. Wenn danach die Veräußerung nur dann steuerbar ist, wenn der Veräußerer am Kapital der Gesellschaft innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Veräußerung qualifiziert beteiligt war, so wird dieses Tatbestandsmerkmal durch die veranlagungszeitraumbezogene Auslegung des Beteiligungsbegriffs nicht in Frage gestellt. Durch diese im gesetzlichen Tatbestand angelegte Rückbezüglichkeit soll Gestaltungen entgegengewirkt werden, den Rechtsfolgen des § 17 EStG mittels Teilveräußerungen auszuweichen11. Ob sich diese Rückanknüpfung indes auf die im Veräußerungszeitraum gültige Wesentlichkeitsgrenze oder auf die im jeweiligen Veranlagungszeitraum geltende Beteiligungsgrenze bezieht, ist die Frage, um die es geht. Sie ist –als vorrangige Fragestellung– nach Wortlaut und Zweck der Veräußerungsgewinnbesteuerung veranlagungszeitraumbezogen zu beantworten. Veräußert also jemand wie im Streitfall 1999 eine nicht wesentliche Beteiligung von 9,22 %, ist der Vorgang gleichwohl steuerbar, wenn der Veräußerer in den letzten fünf Jahren wesentlich, und das bedeutet, zu mehr als einem Viertel beteiligt war. Dabei kommt es auf Dauer und Gründe dieser Beteiligung nicht an. Es reicht aus, wenn die wesentliche Beteiligung von mehr als ein Viertel nur kurze Zeit innerhalb des retrospektiven Fünf-Jahreszeitraums bestanden hat12.

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Bundesfinanzhof, Urteil vom 11. Dezember 2012 – IX R 7/12

  1. so für Verlustfälle bereits BFH, Urteil vom 29.05.2008 – IX R 62/05, BFHE 221, 227, BStBl II 2008, 856; vgl. zur nachfolgenden Rechtslage auch BFH, Urteil vom 24.01.2012 – IX R 8/10, BFHE 237, 33 Rz 28[]
  2. zweifelnd Paus, FR 2012, 959, 960[]
  3. so BT-Drs. 14/265, S. 179[]
  4. vgl. zu den unterschiedlichen Auffassungen eingehend BFH, Urteil in BFHE 209, 275, BStBl II 2005, 436[]
  5. so aus dem neueren Schrifttum auch Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 31. Aufl., § 17 Rz 35; Gosch in Kirchhof, EStG, 11. Aufl., § 17 Rz 34, m.w.N.; Rapp in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 17 Rz 94; Eilers/R. Schmidt in Herrmann/Heuer/Raupach, § 17 EStG Rz 131; Strahl in Korn, § 17 EStG Rz 40; differenzierend Schneider, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 17 Rz A 256 und B 157[]
  6. BVerfG, Beschluss in BVerfGE 127, 61 ff., BStBl II 2011, 86[]
  7. so der BVerfG, Beschluss in BVerfGE 127, 61 ff., BStBl II 2011, 86, unter B.I.2.b bb[]
  8. vgl. näher BFH, Beschluss in BFHE 236, 492, BStBl II 2012, 335; dem folgend Söffing/Bron, Der Betrieb 2012, 1585, 1590; Bode, FR 2012, 589, 591; Milatz/Herbst, GmbH-Rundschau 2012, 520 ff.; Paus, FR 2012, 959, 960[]
  9. BGBl I 2010, 1296[]
  10. eingehend BFH, Beschluss in BFHE 236, 492, BStBl II 2012, 335[]
  11. vgl. zum Zweck Gosch in Kirchhof, EStG, 11. Aufl., § 17 Rz 30; s. auch BFH, Urteil vom 01.04.2009 – IX R 31/08, BFHE 224, 530, BStBl II 2009, 810[]
  12. vgl. dazu Blümich/Ebling, § 17 EStG Rz 301, m.w.N.[]
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